14.03.1997

Mit alten Strukturen in ein neues System

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Mit alten Strukturen in ein neues System

DER Tod des langjährigen chinesischen Führers Deng Xiaoping hat weder das Regime aus dem Gleichschritt gebracht noch besondere Reaktionen in der Bevölkerung hervorgerufen. Stabilität der staatlichen Institutionen und Festhalten am bisherigen Kurs, das waren die Parolen, die Jiang Zemin am Tag nach dem schon lange erwarteten Ereignis ausgab. Das Jahr 1997, in dem zwei bedeutende Ereignisse auf dem Programm stehen – am 1. Juli die Rückgabe Hongkongs an China und im Herbst der fünfzehnte Parteitag der chinesischen KP – könnte zum Prüfstein für die Kontinuität der bisherigen Politik und für die Stabilität der Führungsriege werden.

Von JEAN-LOUIS ROCCA *

Wie sieht das Land aus, das Deng Xiaoping hinterläßt? Befindet sich China auf dem Weg zu Kapitalismus und Demokratie, das heißt, in die Moderne, oder steckt es in einem „Wachstum ohne Entwicklung“ und den damit verbundenen erheblichen Spannungen aufgrund der ungleichen Verteilung der Einkommen, des Erstarkens der lokalen Machtzentren und der Kluft zwischen wirtschaftlichen Erfolgen und unübersehbarem politischem Stillstand? Beide Annahmen sind nicht falsch, aber letztendlich unzulänglich. Eine zutreffende Formulierung könnte lauten: China erlebt einen Prozeß der „widersprüchlichen Modernisierung“: Das Land ist bereits fester Bestandteil der modernen (oder postmodernen) Welt und doch zugleich von der Moderne noch weit entfernt.

Die wirtschaftspolitische Hinterlassenschaft Deng Xiaopings besteht nicht so sehr in einer Transformierung der gesellschaftlichen Strukturen. Die Dezentralisierung der Macht, die Auflösung der Landwirtschaftskollektive und die Abkehr von der zentralen Planwirtschaft haben bislang eher zu einer Aufbruchsituation geführt. Die sogenannte Reformpolitik erlaubte es der Gesellschaft zu Beginn der achtziger Jahre, die Bereicherung zu erproben.1 Solidarität spielte in der chinesischen Tradition stets eine wichtige Rolle, und nach dreißig Jahren des Lebens in einem sozialistischen Land faßt die chinesische Gesellschaft die neue Parole „Bereichert euch!“ weniger im Sinne der freien Marktwirtschaft auf, sondern interpretiert sie vielmehr im Rahmen eines Gemeinschaftsdenkens, das mit der politischen Macht eng verknüpft ist. Die regionalen Bürokratien verstanden es, die Chancen zu nutzen, die sich mit der Lockerung der staatlichen Zwänge boten, und der Zugriff auf die politische Macht erwies sich als Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg.

Das „chinesische Wirtschaftswunder“ haben vor allem territoriale Interessengruppen auf der Ebene der Dörfer, Kantone und Städte hervorgebracht, aber auch Netzwerke von Familien oder Bürokratien.2 Großen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung haben agrarindustrielle Betriebe, die von den regionalen Behörden (Regierungen und Verwaltung) aufgebaut wurden und ihren Erfolg sowohl dem Wettbewerbsvorteil durch niedrige Löhne als auch der Verflechtung mit der politischen Macht verdanken, von der sie gezielt begünstigt werden. Diese Interessengruppen können auch Netze aus familiären oder bürokratischen Zusammenhängen sein (Industriezweige, Staatsbetriebe, Gewerkschaften, Armee oder Polizei), die gewaltige Industrieimperien kontrollieren.

Häufig halten die örtlichen Funktionäre (verdeckt) die Aktienmehrheit an Privatunternehmen, wobei sie für die Wahrung ihrer Interessen einfallsreiche und umsichtige Unternehmer als Mittelsmänner einsetzen. Manchen Staatsbetrieben, die offiziell defizitär arbeiten, gelingt es durch doppelte, wenn nicht dreifache Buchführung, finanzielle Mittel locker zu machen, die mit Hilfe politischer Beziehungen illegal ins Ausland „exportiert“ und dann in Regionen mit wirtschaftlichem Sonderstatus oder an ausländischen Finanzplätzen investiert werden.3 Zu den wichtigsten „privaten“ Unternehmern in der chinesischen Wirtschaft zählt übrigens die Armee.

Einer der Hauptfaktoren für den wirtschaftlichen Erfolg besteht insofern in der Fähigkeit der Geschäftemacher, alle Register zu ziehen und auszunützen: die Schwerfälligkeit der Bürokratie ebenso wie die Dynamik des privaten Unternehmertums, die offizielle Ehrbarkeit der Institutionen wie die illegalen Machenschaften, das Netz der Beziehungen und die Kapitalakkumulation, wirtschaftliches Kalkül ebenso wie direkte politische Drähte. Man bedient sich eines staatlichen Postens, um Geschäfte auf dem Schwarzmarkt zu legalisieren, man nutzt die Möglichkeiten großer Firmengruppen, um Gelder umzuleiten und sie an der Börse einzusetzen, man verschafft sich in der Rolle der Ordnungskraft Anteile an den Unternehmungen der Unterwelt (so ist etwa die Polizei an der Prostitution, die Armee am Schmuggel beteiligt), und man setzt auf Verbindungen zu Verwandten oder Freunden, um sich zu bereichern.

Der chinesische Kapitalismus ist also eine Sache für sich, mit der marktwirtschaftlichen Ideologie kommt man hier nicht weit. Nur zu einem geringen Teil regelt der Markt den Warenverkehr. Die entscheidende Rolle spielen die Beziehungen zur Bürokratie, und so ist es oft viel wirksamer und einfacher, seine „Freundschaften“ zu nutzen, als das Risiko auf sich zu nehmen und einen günstigen Preis auszuhandeln – Betrüger lauern überall. Wer etwa bereit ist, einem Unternehmen den Zuschlag zu geben, das wenig leistungs- und wettbewerbsfähig ist, aber von einer einflußreichen Person geleitet wird, darf damit rechnen, bei anderer Gelegenheit Unterstützung zu erhalten. Auch protektionistische Gewohnheiten spielen eine Rolle: Behörden errichten unzulässige Zollschranken und erzeugen bewußt Wettbewerbsnachteile für Anbieter, die von außerhalb kommen, um Unternehmen und Arbeitsplätze vor Ort zu schützen.

Dieser Kapitalismus ist nicht das Ergebnis von staatlichen Strategien zum Aufbau eines Wirtschaftsraumes. Der Staat hat seine wirtschaftlichen Aktivitäten reduziert. Nun widmet er sich vermehrt weniger anspruchsvollen, aber notwendigen Aufgaben: Er muß die Konflikte in Grenzen halten, die durch die Lockerung der allgemeinen Disziplin entstanden sind. So subventioniert man heute die Staatsunternehmen und wird morgen die sozialen Folgekosten ihrer Schließung tragen müssen. Es ist bereits die Rede von einer „neuen städtischen Armut“, denn bei einer Fortsetzung der derzeitigen Politik werden in den kommenden Jahren Millionen Arbeiter in mehr oder weniger kurzer Zeit auf der Straße landen.4

Derzeit findet ein Abbau der Industrie zugunsten anderer Sektoren statt, die bessere Wachstumsraten versprechen, deren Zukunft jedoch ungewiß bleibt – etwa die agrarindustriellen Betriebe – oder die nur wenige Arbeitsplätze schaffen, wie die halbstaatlichen Kreditgesellschaften. Auf dem Lande muß der Staat, manchmal durch praktische Maßnahmen, häufiger aber durch gute Worte oder die Entsendung von Militär, den Zorn der Bauern auf eine lokale Bürokratie besänftigen, die ihre steuerpolitische Macht mißbraucht. Es wird immer schwerer, die reichen Provinzen davon zu überzeugen, daß sie zum Haushalt des Zentralstaates beisteuern müssen, und die lokalen Verwaltungen dazu zu bewegen, sich auf ein Minimum an Zusammenarbeit untereinander einzulassen. Doch vor allem muß die ungeheure Krise in der Beschäftigung „verwaltet“ werden, die das soziale Gleichgewicht immer massiver bedroht.

China hat zwar zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, vor allem in der Agrarindustrie und im Dienstleistungssektor, doch zugleich gingen viele andere verloren. Auf dem Land schwankt die Zahl der überzähligen Arbeitskräfte zwischen 100 und 150 Millionen, in den Städten sind 30 bis 40 Millionen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Hinzu kommt die große Anzahl junger Menschen, die künftig auf den Arbeitsmarkt drängen werden. Von den mächtigen Zuwanderungsströmen in die Städte bis hin zur unaufhörlich steigenden Kriminalitätsrate zeigen viele Indikatoren, welch gewaltige Aufgaben die Beschäftigungspolitik zu lösen hat. Die Agrarindustrie trägt zur Lösung dieser Probleme immer weniger bei: zwischen 1978 und 1993 waren in diesem Bereich noch nahezu 100 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden, zwischen 1993 und 1995 jedoch nur noch 5 Millionen.

Der größte Markt der Welt

AUCH die wirtschaftliche Öffnung hat nur wenig frischen Wind mit sich gebracht. Drei Viertel der ausländischen Investitionen kommen aus Hongkong und Taiwan, sie stellten jedoch 1995 nur 2,7 Millionen Arbeitsplätze. Zwar übersteigen die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser ausländischen Gelder bei weitem ihre nominelle Summe, da gerade Hongkong und andere ausländische Akteure sehr stark auf ein System von Subunternehmern setzen. Doch sind die dadurch entstandenen Arbeitsplätze in der Statistik der Beschäftigtenzahlen der Agrarbetriebe bereits großenteils aufgeführt. Und die großen multinationalen Firmen investieren vor allem in kapitalintensive Industrien, die wenig Arbeitsplätze schaffen.5

Auch in seiner chinesischen Version erzeugt der Kapitalismus Ungerechtigkeiten. Gewiß wird ein recht großer Teil der Segnungen des Wohlstands, der durch die Produktionsleistung, durch Spekulation oder Korruption erzielt wird, an die Klientel der Wirtschafts- und Politbosse verteilt und kommt damit letztendlich der Gesellschaft zugute. Doch gelangen nur jene in den Genuß dieser Gaben, die einem Clan oder einer vernetzten Struktur angehören; damit wird eine immer größer werdende Gruppe der Bevölkerung ausgeschlossen. Erfolg haben zumeist nur jene Chinesen, die am richtigen Ort geboren wurden (das heißt in den Küstenregionen) und in den richtigen Familien (solchen mit guten Beziehungen). So sind in den Agrarbetrieben die am besten bezahlten Tätigkeiten und die vorteilhaftesten Arbeitsbedingungen den Bewohnern der Umgebung vorbehalten, während die Zuwanderer aus anderen Gebieten gnadenlos ausgebeutet werden. Zwar können einzelne dieses Schema durch persönliche Leistungen durchbrechen, doch sind die Grenzen dafür recht eng gesteckt.

Trotz all dieser Archaismen läßt sich nicht leugnen, daß China ein modernes Land ist, oder vielmehr, daß sich China mit gewissem Erfolg der modernen Welt angepaßt hat. Es bewegt sich zwischen den beiden für unsere Zeit charakteristischen Polen „Globalisierung“ und „Rückbesinnung auf die nationale Identität“ und wird damit zu einem Land wie viele andere.

Daß der Staat eine immer geringere Rolle bei der Wirtschaftslenkung spielt und statt dessen zunehmend soziale Funktionen übernehmen muß, um die entstehenden Spannungen zu mildern, ist eine Entwicklung, die der europäischen erstaunlich ähnelt. Der Produktionsrückgang, die sinkende Bedeutung der Gesetze der Marktwirtschaft und die Zunahme von finanziellen Operationen, von Spekulation oder Wirtschaftskriminalität, sowie der Rückgriff auf den Protektionismus zur Vermeidung der Risiken des Marktes6 – das sind Tendenzen, die man ebenso in zahlreichen Ländern des Südens beobachten kann. Wie in den meisten Staaten der Welt7 gibt es auch in China eine Krise der produktiven Arbeit, und das Land profitiert nur am Rande von der vielbeschworenen „Verlagerung der Produktionsstätten in Niedriglohnländer“. Zwischen Chinas Öffnung zum internationalen Markt und seiner Beschäftigungskrise besteht ein unmittelbarer Zusammenhang.8

Dabei scheint es China besser zu ergehen als vielen anderen Regionen rund um den Erdball. Seine gewaltige Bevölkerungszahl, die nicht nur Arbeiter-, sondern auch Verbrauchermassen bedeutet, weckt das Interesse der Investoren am „potentiell größten Markt der Welt“ und macht das Land zu einem begehrten Objekt. Bei den Verbrauchern konnten sich auf dem Lebensmittelsektor bislang nur sehr wenige chinesische Produkte landesweit gegen die international bekannten Marken durchsetzen. Nachdem die nationale Automobilindustrie bereits untergegangen ist, dürften nun auch im Bereich der Haushaltsgeräte die multinationalen Firmen bald einen Siegeszug antreten.

Auch was die Rolle von identitären Bezugspunkten angeht, ist China ein „modernes“ Land; das gilt vor allem für die Art und Weise, wie diese Identität entsteht und wie sie sich ausdrückt. Diese identitären Bezüge sind keineswegs religiös oder ethnisch starr determiniert, sie werden vielmehr unaufhörlich gebildet, aufgelöst und erneut gebildet. Jedes Individuum verfügt über eine Vielzahl von Bezugspunkten, über die es sich definiert. Das sind die traditionellen Bindungen von Familie und Nachbarschaft, Beziehungen, die aus der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft (in Betrieben und Verwaltung) hervorgegangen sind, und auch jene neuen Verbindungen, die durch den Kontakt mit der Globalisierung der Wirtschaft und der Kultur entstanden sind. In China wie überall sonst auch9 stellen die bestehenden Identitäten nur selten ein Hindernis für die Globalisierung dar, sondern sind vielmehr Ausgangspunkte für die Schaffung leistungsfähiger wirtschaftlicher Geflechte, die sich über den gesamten Globus ausbreiten können – als Beispiel hierfür mag die chinesische Diaspora und die finanzielle Rolle Hongkongs gelten.

Dieses vielschichtige Beziehungssystem ist recht weit entfernt von jenem natürlichen und „schwerfälligen“ Gemeinschaftsdenken, das angeblich die asiatischen Völker kennzeichnet. Vielmehr können die Individuen die verschiedenen Aspekte ihrer Identität gezielt einsetzen, sie verleugnen oder mischen und damit den sozialen Raum zugleich beweglich und instabil gestalten. Dieses Phänomen, das man fast überall auf der Welt antrifft10 , ist keineswegs die geringste Herausforderung, der sich China nach der Ära Deng Xiaoping stellen muß.

dt. Erika Mursa

* Forschungsbeauftragter am Centre d‘études et de recherches internationales, Fondation nationale des sciences politiques, Paris. Zusammen mit Patrice de Beer Autor von „La Chine à la fin de l‘ère Deng Xiaoping“, Paris (Le Monde Editions) 1995 (eine Neuauflage erscheint in Kürze).

Fußnoten: 1 Zur Situation Chinas zu Beginn der Reformen vgl. Jean C. Oi, „State and Peasant in Contemporary China. The Political Economy of Village Government“, Berkeley et al. (University of California Press) 1989, sowie Andrew G. Walder, „Communist NeoTraditionalism. Work and Authority in Chinese Industry“, Berkeley et al. (University of California Press) 1986. 2 Das Ausmaß dieses „Wunders“ wird von dem Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow in seinem letzten Buch „Les Fractures du capitalisme“, Paris (Editions Village mondial) 1997 in Frage gestellt. Lester Thurow empfiehlt, „mindestens vier Prozentpunkte von der offiziell genannten aktuellen Wachstumsrate abzuziehen“ (sie liegt seit 1979 im Durchschnitt bei 10 Prozent im Jahr). 3 Jean-Louis Rocca, „L'entreprise, l'entrepreneur et le cadre. Une approche de l'économie chinoise“, Les Etudes du CERI, Paris, Nr. 4, April 1996. 4 Antoine Kerven, „Hinterhof des Wirtschaftswunders“, Le Monde diplomatique, Juni 1996. 5 Zur Frage der Eingliederung Chinas in die Weltwirtschaft siehe Françoise Lemoine, „L'intégration de la Chine dans l'économie mondiale“, Revue Tiers- Monde, Paris, Nr. 147 (Juli-September 1996), S. 493- 523. 6 Zu Afrika siehe Béatrice Hibou, „L'Afrique est- elle protectionniste? Les chemins buissoniers de la libéralisation extérieure“, Paris (Karthala) 1996. 7 William J. Wilson, „When Work Disappears“, New York (Knopf) 1996. 8 Man kann natürlich argumentieren, daß der Rückgang der Beschäftigung derzeit nur eine potentielle Gefahr ist, da keine radikalen Maßnahmen zum Personalabbau ergriffen werden. Künftig könnten jedoch Möglichkeit und Wirklichkeit zusammenfallen. 9 Jean-François Bayart (Hrsg.), „La réinvention du capitalisme“, Paris (Karthala) 1994, S. 47-72. 10 Jean-François Bayart, „L'Illusion identitaire“, Paris (Fayard) 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von JEAN-LOUIS ROCCA