Umerziehung in Tibets Klöstern
■ Mit dem angekündigten Besuch des Dalai Lama in Taiwan tritt der diplomatische Guerillakrieg zwischen Peking und Lhasa in eine neue Phase. Zum ersten Mal hat das religiöse Oberhaupt der Tibeter, allen Warnungen Pekings zum Trotz, eine Einladung Nationalchinas angenommen. Sein Programm sieht jedoch kein Treffen mit Regierungsvertretern vor, die Tibet genau wie ihre Pekinger Amtskollegen als integralen Bestandteil der Volksrepublik China verstehen. Gleichzeitig findet in der Autonomen Region eine umfasende deologische Umerziehungskampagne statt, die Peking zufolge zwischen drei und fünf Jahre dauern wird.
Von TICA BROCH *
IN den Führungskreisen der internationalen Diplomatie und Wirtschaft gehört es zum guten Ton, zu glauben, daß die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zwangsläufig zur politischen Liberalisierung des Landes führen wird. Auf Tibet dürfte diese Hypothese kaum zutreffen. In Lhasa, der Hauptstadt der Autonomen Region, schießen unzählige moderne Gebäude aus dem Boden; die Zahl der chinesischen Geschäftsleute nimmt ständig zu, und als weniger erfreuliche Begleiterscheinung des Wirtschaftsbooms auch die der Stundenhotels. Dennoch betreiben die Pekinger Behörden hier mit Eifer die umfassendste „politische Umerziehungskampagne“ seit der Kulturrevolution.
Diese im Mai 1996 im Kloster von Ganden, 40 Kilometer östlich von Lhasa, gestartete Kampagne – bei der die Behörden mit der Unterstützung durch das klösterliche Direktionskomitee1 rechneten – stieß auf heftigen Widerstand der Mönche. Die Armee mußte einschreiten, offiziellen Berichten zufolge gab es zwei Tote und fünf Verwundete; über sechzig Personen wurden festgenommen, von denen sich rund fünfzig immer noch in Haft befinden. Zahlreiche Mönche sind geflüchtet oder ins Exil gegangen. Andere wurden aus dem Kloster gejagt, das seit dem 15. Oktober 1996 geschlossen ist.
Die politischen „Arbeitsbrigaden“2 , deren Aktivisten zur Verbreitung der kommunistischen Parteiideologie eingesetzt werden, sind in China ein offizielles Organ der staatlichen Propaganda. Sie wurden zu Beginn der Mao-Ära 1949 gegründet. Die Pekinger Führung drang auf die Auflösung der alteingesessenen administrativen und gesellschaftlichen Institutionen in Tibet, um sich eigene Machtpositionen zu schaffen. Brigaden, die sich vorwiegend aus Offizieren der Volksbefreiungsarmee zusammensetzten, erhielten einen handfesteren Auftrag. Sie taten sich vor allem in der Verfolgung von Anhängern des Dalai Lama hervor: zunächst, ab 1956, in Osttibet, dann, nach der erzwungenen Flucht des Dalai Lama nach Indien im Jahr 19593 , auch in Zentraltibet, und schließlich während der Kulturrevolution4 .
Die herausragende Rolle der chinesischen Armee in Tibet erklärt sich aus der geostrategischen Relevanz dieser Region. Die Volksbefreiungsarmee, die sich hinter ihren neuen Festungsmauern des Himalaya komfortabel verschanzt hat, unterbindet jegliche Expansion Indiens nach Norden auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Herrschaft über Westtibet eröffnet Peking darüber hinaus eine Transitroute zum arabisch-persischen Golf. Die chinesische Armee betreibt auf dem von ihr kontrollierten Hochland von Tibet neben der Forstwirtschaft in großflächigem Maßstab auch Ackerbau und Viehzucht und forciert für eigene Zwecke den Ausbau des Straßennetzes und die Erschließung von Bodenschätzen: Hier werden Gold, Uran, Nichteisenmetalle und seltene Erden abgebaut. Kurzum, die Okkupation Tibets hat den unerfüllten Traum der Qing-Dynastie (1644-1911) Wirklichkeit werden lassen und dem Land einen territorialen Zuwachs von zwei Millionen Quadratkilometern verschafft5 , deren Bevölkerungsdichte fünfmal niedriger ist als der Landesdurchschnitt.
Nach den Wirren der Kulturrevolution verfolgte die kommunistische Partei Chinas auf Betreiben des Generalsekretärs Hu Yaobang während der achtziger Jahre in Tibet eine offenere Politik: Zahlreiche chinesische Führungskräfte wurden abgezogen, im Bildungs- und Kultursektor gestattete man weitgehendere Autonomie. Diese Liberalisierung wurde 1985 mit der Berufung von Wu Jinghua, eines Angehörigen der Yi-Minderheit, an die Spitze der regionalen Parteiführung fortgesetzt und sogar verstärkt. Die Einschränkung der Religionsausübung wurde teilweise gelockert, auch konnten wieder mehr Bücher in tibetischer Sprache erscheinen. Der Parteiausschluß von Hu Yaobang im Januar 1987 sowie die antichinesischen Demonstrationen in Lhasa im September desselben Jahres bedeuteten das Ende dieses Reformprozesses.
Wegen der anhaltenden Unruhen in Tibet wurde im März 1989 das Kriegsrecht über Lhasa verhängt. Die Ereignisse im Juni auf dem Tienanmenplatz ließen schließlich die chinesische Führung zu dem Schluß kommen, daß es zu gefährlich wäre, einen nichtchinesischen Funktionär an der Spitze des Regionalkomitees der Partei in Tibet zu belassen. Wu Jinghua wurde wegen „zu laxer Durchführung der Reformen“ abgesetzt. Die Entscheidung der KP, die Verantwortung für die Unruhen von 1989 irgendwelchen „feindlichen Kräften im Ausland“ zuzuschieben, versetzte der Aussicht auf einen Dialog mit dem Dalai Lama den Todesstoß und beendete die Politik der Zugeständnisse an die kulturelle Sonderstellung Tibets.
Seitdem spielen die Umerziehungsbrigaden in Tibet wieder eine wichtige Rolle. Sie avancierten 1990 nach dreizehn Monaten Kriegsrecht zum ausführenden Organ einer eng mit den Sicherheitskräften koordinierten Präventivstrategie, die im „Aufspüren“ potentieller Gegner bestand. Dieses führte innerhalb weniger Monate zur Vertreibung von 200 Mönchen aus den Klöstern des Lhasatals, die von den Behörden als „Agitatoren“ bezeichnet wurden, in den Augen der Lamas aber gerade die „zur Ausbildung von Novizen am besten qualifizierten“ Mönche waren.
Die Umerziehungsbrigaden setzen sich vorwiegend aus tibetischen Funktionären zusammen, die von ihren jeweiligen Behörden benannt werden, aber chinesischen Führungsoffizieren unterstellt sind. Sie bleiben oft wochen- oder gar monatelang in den religiösen Einrichtungen einquartiert und inspizieren darüber hinaus nach jedem „konterrevolutionären“ Zwischenfall die Belegschaften von Fabriken, Schulen, Spitälern, Finanz- und Wirtschaftsunternehmen. Das chinesische Personal ist von der Teilnahme an diesen politischen „Diskussionen“ befreit.
In den von Lhasa am weitesten entfernten Klöstern Shalu, Sakya und Gyants kommt ein Parteifunktionär auf vier Mönche. In Sera, einem der großen Klöster im Tal von Lhasa, beträgt das Verhältnis 70 zu 450. In Drepung mit seinen ebenfalls 450 Mönchen haben sich im August 1996 180 Funktionäre niedergelassen. Das Programm ist fast immer das gleiche: politische Indoktrinierung, bis zu vierstündige ständige Wiederholung der immergleichen Parolen und Slogans, unablässige Verunglimpfung des Dalai Lama.
Dieser „Unterricht“ stützt sich auf vier jeweils 100 Seiten starke Bücher über die „wahre Geschichte Tibets“, die „Religion“, das „Recht“ und den „Separatismus“. Schließlich soll den Mönchen die simple These eingebleut werden, der Dalai Lama sei „der Hauptschuldige an der Instabilität Tibets“, da er „als Oberhaupt einer politischen Gruppierung die Unabhängigkeit fordere“, das „Werkzeug internationaler antichinesischer Kräfte“ und überhaupt „das entscheidende Hindernis für eine harmonische Erneuerung der buddhistischen Tradition Tibets“ sei. Peking versucht mit dieser Kampagne einen Keil zwischen die Mönche und ihr Oberhaupt im Exil zu treiben. Jeder Mönch wird einzeln dazu angehalten, eine Erklärung in diesem Sinne zu unterzeichnen. Für die Mönche kommt die Verleugnung des Dalai Lama, des unumstrittenen Oberhaupts des Buddhismus, einem Verrat ihres Glaubens und einem Akt der Apostasie gleich. Wer jedoch die Unterschrift verweigert, dem droht der Ausschluß aus dem Kloster. Die chinesischen Behörden machen kein Hehl aus ihrer Absicht, aufsässige Mönche zu entlassen.
Das nepalesische Büro des UNO- Hochkommissariats für Flüchtlinge gibt an, daß 60 Prozent der tibetischen Flüchtlinge aus religiösen Motiven das Land verlassen haben, und ihre Zahl nimmt ständig zu. Im übrigen ist nicht auszuschließen, daß die Behörden die Mönche, die dem Dalai Lama loyal verbunden bleiben, zur Flucht ins Ausland geradezu provozieren wollen. Die KP hat jedenfalls beschlossen, die Zahl der „Klosterinsassen“ auf die Hälfte zu reduzieren, wobei zunächst die außerhalb der Autonomen Region geborenen Mönche nach Hause geschickt werden – allen voran die Novizen unter achtzehn Jahren.
Diese Politik der Einmischung steht in krassem Widerspruch zum Inhalt der Erklärung über religiöse Toleranz, die 1981 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde und zu deren Einhaltung China bereit schien. Der von der UNO-Menschenrechtskommission ernannte Sonderberichterstatter hatte bereits im Anschluß an seine Reise nach Peking und Lhasa im November 1994 darauf hingewiesen, daß die wenigen einschlägigen Rechtsverordnungen von chinesischer Seite darauf abzielten, die Religionsausübung der Gläubigen eher zu beschneiden als zu schützen.6 Die zahlreichen Beschwerden, die er der chinesischen Regierung nach dem Verschwinden des jungen Pantschen Lama7 und anderer religiöser Würdenträger übermittelte, blieben unbeantwortet.
Die gegenwärtige ideologische Kampagne ist eine direkte Folge der im Juli 1994 auf dem dritten Forum zur politischen Arbeit in Tibet beschlossenen Linie.8 Die beiden Hauptdirektiven bezogen sich auf eine beschleunigte Modernisierung der Region und die Assimilierung ihrer Einwohner. Im September wurde eine „Säuberungskampagne“ unter den einheimischen Führungskräften gestartet, denen man „mangelnden Patriotismus und Unachtsamkeit“ oder „religiöse und nationalistische Umtriebe“ vorwirft. Seither ist den tibetischen Führungskräften der Besitz von religiösen Kultgegenständen oder Fotografien des Dalai Lama untersagt, der offiziell als „Schlangenkopf“ gilt, den man „um jeden Preis zertreten muß, um dem Separatismus ein Ende zu machen“9 .
Pekings Tibet-Politik wird von zwei Seiten kritisiert. Zum einen hat der anhaltende Widerstand gegen die chinesische Assimilierung und der offene Protest mit dem Mythos einer friedlichen Integration Tibets in China aufgeräumt. Zum anderen sehen es die führenden Politiker der reichen Küstenprovinzen, die die Kassen der Zentralregierung füllen, nicht eben gern, wenn Milliarden von Yuan in die ferne und politisch instabile Region fließen. Um die angestrebte Modernisierung zu forcieren, wurde auf dem dritten Forum der massive Transfer von Kapital, Technologie und Arbeitskräften empfohlen.10 Die wirtschaftlich prosperierenden Provinzen wurden angewiesen, sich in diesem Sinne stärker zu engagieren, um sowohl die Zentralregierung zu entlasten als auch die endgültige Integration Tibets in die chinesische Wirtschaft zu bewerkstelligen.
Doch sind dieser wirtschaftlichen „Öffnung“ Tibets Grenzen gesetzt. Während die Küstenprovinzen ihren Aufschwung zum Großteil ausländischen Investoren und deren Know-how verdanken, bleiben Tibets Grenzen für seine ehemaligen Handelspartner – Indien, Pakistan, Nepal – weitgehend geschlossen; zumindest fallen diese Handelsbeziehungen nicht ins Gewicht. Zudem fragt sich, wie die staatliche Politik eine Bevölkerung für sich gewinnen will, die sie tagtäglich mit der Arroganz und Korruption der chinesischen Funktionäre konfrontiert, deren nationale Identität sie unterdrückt und deren Sprache und Kultur sie systematisch zurückdrängt.
Entsteht in einem solchen Klima nicht die Gefahr, daß die Friedensvision des Dalai Lama – eine enge Verbindung zwischen China und Tibet, die auf tatsächlicher Autonomie und gegenseitiger Toleranz beruht – den jungen, am Rande der neuen chinesischen Konsumgesellschaft aufgewachsenen Tibetern irgendwann nicht mehr genügt? Werden sie die nötige Geduld aufbringen, wenn sie sich einer massiven chinesischen Immigration gegenübersehen und aus einem Beziehungsgeflecht ausgeschlossen bleiben, das den Zugang zu Studium, Berufsausbildung und Arbeitsmarkt kontrolliert?
dt. Andrea Marenzeller
* Vertreterin der Minority Rights Group in Genf.