14.03.1997

Xenophobie

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Xenophobie

Von IGNACIO RAMONET

ES war ein großes, feiges Schweigen, das die jungen französischen Filmemacher mit ihrem couragierten Manifest gebrochen haben. Ihr Protest richtet sich gegen einen Gesetzentwurf, der die Überwachung von Ausländern in Frankreich deutlich verschärft. Nachdem ihr Gewissen insbesondere während des Golfkrieges im Tiefschlaf gelegen hatte, beriefen sich die Künstler und Intellektuellen diesmal mutig auf die Grundwerte von Menschlichkeit und Solidarität, um die Bürger angesichts der drohenden Freiheitsbeschränkungen wachzurütteln. Daß Künstler im Lande von Voltaire und Victor Hugo, von Zola und Sartre Immigranten verteidigen, die heutigen Opfer von Verfolgung, ist erfreulich. Ein Fortdauern des Schweigens wäre schrecklich gewesen.

In einem Europa, das unter dem Eindruck ökonomischer Erschütterungen eine soziale und moralische Krise durchlebt und wo die politische Klasse offenbar den Kontakt zur Öffentlichkeit verloren hat, legt sich die Verzweiflung allzuleicht auf die Gemüter. Die legitime Zukunftsangst in einer Zeit wachsender Massenarbeitslosigkeit begünstigt das Anwachsen von Irrationalität, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Ist es also verwunderlich, wenn wir eine Renaissance des nationalistischen Denkens erleben? Wenn die Spannungen zwischen kulturellen Gruppen oder ethnischen Gemeinschaften zunehmen? Wenn die einen oder anderen zu Sündenböcken gestempelt werden, denen man die Schuld für unsere ganze Misere in die Schuhe schiebt?

Mit Ausnahme Österreichs ist Frankreich das einzige Land der Europäischen Union, in dem seit 15 Jahren die extreme Rechte auf dem Vormarsch ist. Bei den Parlamentswahlen im März 1998 könnte der Front National in 200 Wahlkreisen zum Zünglein an der Waage werden. Diese Partei, und insbesondere ihr Vorsitzender Jean-Marie Le Pen, geben in demagogischer Absicht den Immigranten die Schuld für die Probleme des Landes. Sprachlich kaum mehr gezügelt, stacheln sie den vorhandenen Rassismus weiter an. Sie pöbeln gegen die Anwesenheit von Immigranten – vor allem aus dem Maghreb und aus Afrika –, deren massenhafte Ausweisung sie in ihrem Parteiprogramm ankündigen, falls es ihnen gelingt, die staatliche Macht zu übernehmen.

Die linken und rechten Parteien, die seit 1981 abwechselnd an der Regierung waren, sind gemeinsam – wie benebelt vom Einheitsdenken – der Globalisierung und totalitären „Liberalisierung“ auf den Leim gegangen; haben wie gelähmt eine soziale Katastrophe heraufziehen lassen, die inzwischen fünf Millionen Menschen den Arbeitsplatz genommen hat, haben dem wachsenden Extremismus tatenlos zugesehen. Die Linke und die Rechte, deren Wirtschaftspolitik sich kaum noch voneinander unterscheidet, führen nach angelsächsischem Vorbild ihre Auseinandersetzungen lieber um soziale Themen, insbesondere um die Frage der Immigration, und arbeiten dadurch de facto den Neofaschisten in die Hände. Unter dem (an sich berechtigten) Vorwand, gegen Schwarzarbeit vorzugehen, hat die Sozialistische Partei ihr Versprechen gebrochen, den Ausländern das kommunale Wahlrecht einzuräumen (wie es nach einer Reihe von Ländern nun auch Italien vorhat). Die Rechte ihrerseits hat die ohnehin drakonische Gesetzgebung weiter verschärft.

Schritt für Schritt hat die Anbiederung an Positionen der extremen Rechten eine annähernd faschistische, von Ausländerhetze geprägte Atmosphäre geschaffen. Dazu haben auf skandalöse Weise die Méhaignerie-Pasqua-Gesetze von 1993 beigetragen, die mit einer der vornehmsten republikanischen Traditionen gebrochen haben, indem sie das für den Erhalt der Staatsbürgerschaft maßgebliche Territorialprinzip (Jus soli) abgeschafft und alle Ausländer einer pauschalen Verdächtigung ausgesetzt haben. Erst die erneute Verschärfung durch den Gesetzentwurf von Jean-Louis Debré hat endlich vielen Bürgern die Augen geöffnet.

DIE Franzosen machen sich in erster Linie Sorgen wegen der Arbeitslosigkeit, nicht wegen der Immigration. Das bestätigen alle Meinungsumfragen; die Immigration spielte während des Präsidentschaftswahlkampfes 1995 praktisch keine Rolle. Die Zahl der Immigranten betrug im übrigen 1996 nicht mehr als 3,6 Millionen, also 6,43 Prozent der französischen Bevölkerung. 1931 waren es noch 6,75 Prozent. Anders als einige Demagogen glauben machen wollen, gibt es heute also proportional weniger Immigranten als vor 65 Jahren. Und Frankreich ist weit davon entfernt, den Weltrekord für Einwanderung zu halten. In Deutschland etwa sind es viel mehr (7,6 Prozent der Bevölkerung) – von Ländern wie Kanada, USA, Australien oder Neuseeland ganz zu schweigen, die sich stolz als „Einwanderungsländer“ bezeichnen.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist Frankreich, anders als alle anderen europäischen Staaten, ein Einwanderungsland. Und zwar sowohl aus demographischen als auch und besonders aus politischen Gründen: Es ist der einzige Staat in Europa mit einer laizistischen und republikanischen (nicht ethnischen) Auffassung von Nation. Historisch betrachtet war Frankreich Sammelpunkt und Zufluchtsstätte aller verfolgten Demokraten. Im Lauf der Jahrzehnte – und darin lag seine Größe – hat es Hunderttausende Italiener, Belgier, Polen, Armenier, Spanier, mitteleuropäische Juden, Russen, Portugiesen, Algerier oder Vietnamesen aufgenommen und integriert. Und zum Mißfallen all derer, die das alte Lied von den „nicht assimilierbaren Ausländern“ nachbeten, tut Frankreich das auch heute noch, und zwar so erfolgreich wie eh und je. Das geht so weit, daß mehr als 18 Millionen Bürger, also fast jeder dritte Franzose, mindestens einen ausländischen Großelternteil haben.

Warum also plötzlich diese staatliche Fremdenfeindlichkeit? Warum leistet sich ein Land ein derart katastrophales Image im Ausland, das in seiner Außenpolitik so betont auf kulturelle Diplomatie und die Förderung von Frankophonie gesetzt hat? Wie konnte in Vergessenheit geraten, daß Frankreich immer dann seinen Ruf am glänzendsten behauptet hat, wenn die Regierenden den Chauvinismus verurteilten und die Bürger dazu aufriefen, alle Menschen als Brüder zu sehen – Weltbürger zu werden?

Fußnote: 1 Le Monde, 19. Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von IGNACIO RAMONET