14.03.1997

Vom schwierigen Überleben auf der Insel der Glücklichen

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Vom schwierigen Überleben auf der Insel der Glücklichen

AM 29. März 1997 wird Madagaskar mit großen Feierlichkeiten den 50. Jahrestag eines Aufstands begehen, der zugleich eine der ersten Manifestationen nationaler Unabhängigkeit im französischen Kolonialreich darstellte. Seine Niederschlagung kostete fast 100000 Menschen das Leben und war eines der großen Kolonialmassaker der Nachkriegszeit, das Frankreich bis heute mit dem Mantel des Schweigens bedeckt. Eine ganze Generation der madegassischen Führungsschicht wurde ausgelöscht, und die einst stolze und geeinte Nation, die durch ausländische Einmischung aus den Fugen geraten war und seither vergebens ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen suchte, geriet in noch größere Turbulenzen. Nachdem am 9. Februar 1997 Admiral Didier Ratsiraka an die Macht zurückgekehrt ist und Pascal Rakotomavo am 21. Februar zum neuen Premierminister ernannt wurde, besteht die Gefahr, daß die politischen Machthaber einen Kurs einschlagen, der sie von den alten nationalen Idealen sehr weit entfernt.

Von unserem Korrespondenten PHILIPPE LEYMARIE *

Madagaskar, die große Insel im Südwesten des Indischen Ozeans, die zwar vor der ostafrikanischen Küste liegt, aber durch einen Teil ihrer Bevölkerung mit Asien verbunden ist, liegt in einer strategischen Zone zwischen Kap und Persischem Golf. Madagaskar hatte zunächst eine sozialdemokratische Regierung (erste Republik), dann eine nationalistische und revolutionäre (zweite Republik), und dann abwechselnd eine liberale, populistische und christliche (dritte Republik). Die heutige Regierung gibt sich „humanistisch und ökologisch“, um in einem vom Kampf ums nackte Überleben geprägten Alltag zu retten, was noch zu retten ist.

Guy Razanamasy, ehemaliger Premierminister und heutiger Bürgermeister der Hauptstadt Antananarivo, erinnert sich: „An jenem 29. März 1947 wurde im Kino der Film ,La Bataille du Rail' (Der Schienenkrieg) von René Clément vorgeführt“ – eine unbeabsichtigte und zugleich bittere Ironie: die Aufständischen hatten begonnen, Bahngleise zu blockieren; in den folgenden Jahren der Repression, die einem regelrechten Kolonialkrieg gleichkam (siehe untenstehenden Artikel), sollten etliche von ihnen in Eisenbahnwaggons umkommen.

„Ich war achtzehn. Der Aufstand machte uns klar, daß wir Madegassen waren. Er hatte nationale Dimensionen“, betont Guy Razanamasy. Einer seiner Onkel, ein Leutnant, der sich der Rebellion angeschlossen hatte, wurde hingerichtet. Der politische Anspruch der Demokratischen Bewegung für die madegassische Erneuerung (MDRM), deren Vertreter bei den ersten Wahlen in der sogenannten Union Française ins Parlament einzogen, reichte weit über die Grenzen der Merina- und Betsileo-Hochebenen hinaus. Und der von Geheimbünden ausgelöste bewaffnete Aufstand konzentrierte sich vor allem auf die Ostküste mit ihren Wäldern, ihren strategischen Eisenbahnlinien und Kolonialplantagen.

Mehrere Jahrzehnte lang wurde, was die Franzosen „Rebellion“, die Madegassen „tabataba“ (Ereignisse) nannten, zumindest offiziell mit keinem Wort erwähnt. Viele erlebten das blutige Geschehen zugleich als unbegreifliches Unglück und damit als doppelt furchtbare Tragödie. Erst 1967 erklärte Präsident Tsiranana, der Gründer der ersten Republik, den 29. März zum nationalen „Trauertag“ – eine stumme Geste des Bedauerns, die Henker und Opfer, Antikolonialisten und Kollaborateure auf eine Stufe stellte und das Gefühl von Verfehlung und Verhängnis in den Vordergrund rückte. Ende der siebziger Jahre begann man, den Jahrestag stolz und selbstbewußt als „mißglückte Revolution“ zu feiern, „die dennoch den anschließenden Unabhängigkeitskämpfen den Weg geebnet hat.“1

Gisèle Rabesahala, die Generalsekretärin der AKFM-KDRSM, erhält bis heute Briefe, die an die „Frau Vorsitzende der Ereignisse von 1947“ adressiert sind. Als Kultusministerin der zweiten „demokratischen“ Republik hatte sie die Suche nach den Massengräbern veranlaßt und ließ im ganzen Land Gedenksteine und Mahnmale errichten. Sie will heute, wo die meisten Zeitzeugen alt oder tot sind, endlich zu einer objektiveren Einschätzung jener Zeit gelangen und drängt die Regierung in Paris, ihre Archive zu öffnen und vor allem die Ereignisse anzuerkennen, die für Frankreich kein Ruhmesblatt darstellen. „Ich verlange ja nicht, daß sie Asche auf ihr Haupt streuen. Sie sollen nur die Tatsachen akzeptieren. Die relativen Zahlen sind ja so, als hätte man damals eine Million Franzosen umgebracht ... Warum haben es die französischen Diplomaten noch nie gewagt, an den Feiern zum Jahrestag teilzunehmen, zu denen sie seit 1977 eingeladen werden?“

Der kürzlich wieder als Staatschef gewählte Admiral Didier Ratsiraka erwartet ebenfalls eine Geste: „Ich werde das Mitte März in Paris bei meinen Gesprächen mit Präsident Chirac zur Sprache bringen.“ Während seines Besuchs im durch Wirbelstürme teilweise verwüsteten Nordosten des Landes unterstrich er auf einem Empfang in seinem Geburtsort Toamasina (vormals Tamatave), seine Aufgabe bestehe darin, „Madegassen und Franzosen psychologisch darauf vorzubereiten“, sich dieser Vergangenheit zu stellen. „Zwischen Frankreich und Deutschland hat es zwei große Kriege gegeben. Das hindert sie nicht daran, gemeinsam in die Zukunft zu schauen: in den letzten Jahren haben deutsche Truppen auf den Champs-Elysées paradiert! Hier bei uns gab es Gewalttaten, Erschießungen und Repressionen gegen Patrioten, die an ihre gerechte Sache glaubten. Aber auch die Kolonialisten glaubten an ihre zivilisatorische Mission.“

Bei seiner Amtsübernahme am 9. Februar 1997 kündigte Ratsiraka an, die 4032 überlebenden Kämpfer und Kriegsverwundeten jener Zeit würden eine Rente erhalten und der 50. Jahrestag des Aufstands von 1947 werde feierlich begangen. Er erkennt an, daß – auch auf madegassischer Seite – die „Trauerarbeit“ während der zweiten Republik, an deren Spitze er von 1975 bis 1992 stand, nicht bewältigt werden konnte: „Die Vergangenheit war noch zu brisant.“

Davon zeugt auch die Ruine des ehemaligen Palasts der Königin mit seinen vier Türmen, die unübersehbar auf dem höchsten Hügel der Hauptstadt liegt. Die aus Holz errichteten Gebäudeteile waren am 6. November 1995 niedergebrannt. Nur eine Fassade aus Stein ist von dem Palast geblieben, in dem bis Ende des 19. Jahrhunderts die Herrscherinnen aus dem Volk der Merina residierten (das die madegassischen Hochebenen beherrschte, dem Land zu dauerhafter Einheit verhalf und später das Zentrum der nationalen Erhebung bildete), und wo sie vor ihrem Hofstaat, den ausländischen Diplomaten, ihren Soldaten und Untertanen feierlich schworen, den Fremden „nicht das kleinste Fleckchen Erde, nicht einmal die Fläche eines Reiskorns“ zu überlassen.

Von Anfang an vermutete man Brandstiftung. Die gezielte Zerstörung eines heiligen Ortes – dessen Paläste, königliche Besitztümer und Prunkgräber von vergangener Herrlichkeit zeugten – hat damals die Hauptstadt in Verzweiflung und Angst gestürzt. „Da verbrannte unsere Seele“, erinnert sich ein Zuschauer und erzählt, wie ehrfürchtig die Menschen damals die Sänften, Bilder, Kleider, Bücher und all die anderen königlichen Habseligkeiten berührten, die mutige Jugendliche dem Feuer entrissen hatten.2 Die Tragödie erinnerte das Land an eine glorreiche, fast mythische Vergangenheit, aber auch an seine alten Dämonen, während das Gedächtnis der Insel erneut zu Asche zerfiel.3 Der Jesuitenpriester Remy Ralibera vermutet: „Jemand wollte einen Bürgerkrieg provozieren und die der ewigen Unruhen müden Einwohner von Tananariva auf die Straße treiben.“ Damals hatte ein ehemaliger Minister „die Merina aufgerufen, zu reagieren“. Damit wurde freilich nach Ansicht des Priesters, der zugleich Chefredakteur der katholischen Zeitschrift Kroan'i Madagasikara ist, völlig übersehen, daß in der Stadt die von der Küste stammenden Bewohner mit ihren Nachbarn aus anderen Landesteilen überwiegend harmonisch zusammenleben. Davon zeugen unter anderem die zahlreichen Mischehen und die Zusammensetzung der Gemeinde- und Kirchenräte. Eine „Hexenjagd“ in der Hauptstadt gegen die Leute von der Küste hätte zudem unvermeidlich zu Repressalien gegen die zahlreichen von den Hochebenen stammenden Familien der Beamten und Händler im Landesinneren geführt.

Die Grundlagen der traditionellen Einheit stehen für den Historiker Ignace Rakoto, der in der zweiten Republik dreizehn Jahre lang Hochschulminister war, außer Frage: eine Einheitssprache, die für die achtzehn Ethnien der Großen Insel einen weitgehend identischen Wortschatz schuf; eine gemeinsame institutionelle Tradition, die sich auf die kabary stützte – die Herrscherin spricht zum Volk, das Volk antwortet, man einigt sich – und auf eine, je nach Region gewählte oder vererbte, königliche Macht. Der Historiker erklärt es damit, daß die Madegassen als „Gefangene ihrer Insel“ immer gezwungen waren, miteinander auszukommen – trotz der Verschiedenartigkeit einer etappenweise zuwandernden Bevölkerung und den daraus resultierenden Verständigungsschwierigkeiten. Jede Region hat ihre Besonderheiten, die jedoch „der Einheit nicht im Wege stehen, sondern sie im Gegenteil gewährleisten“, und ein kulturelles Erbe, das es aufzuwerten und nicht zu ersticken gilt. Dazu müßte endlich eine Dezentralisierung eingeleitet werden, was noch keiner der bisherigen Republiken geglückt ist.

Was bedeuten die „Ereignisse“ von 1947 aus heutiger Sicht? „Der Zustand des Landes nach 37 Jahren Unabhängigkeit ist unvorstellbar!“ meint General Ramakavelo, der Verteidigungsminister der dritten Republik. „Die Leute, die damals gekämpft haben, würden sich im Grabe umdrehen und sich fragen, ob es das wirklich wert war.“

Der politisch erfahrene Offizier, der sich zuweilen auch literarisch äußert, befaßt sich heute lieber mit der fernen Vergangenheit: „Im letzten Jahrhundert hatte Madagaskar seinen festen Platz in der Welt. Das Land besaß einen inneren Zusammenhalt. Wir waren uns unserer Werte bewußt. Heute, wo alle Diplomaten unser Potential an Bodenschätzen und Arbeitskräften rühmen, wo uns die Touristen für Lieblinge der Götter halten, hat unser vita gasy (made in Madagaskar) eine abschätzige Bedeutung und bezeichnet ramatoa (im letzten Jahrhundert Synonym für Dame) das Dienstmädchen.“

Tatsächlich ist das Land am Ende. Der Staat kann seine wesentlichen Funktionen – Sicherheit, Transport, Erziehung und Gesundheit – nicht mehr gewährleisten. Die Lebenserwartung beträgt kaum 50 Jahre. Nach einem unveröffentlichten Bericht der FAO sind drei Viertel der Bevölkerung unterernährt. 1996 ist Madagaskar in der Rangordnung der Vereinten Nationen, die „die nachhaltige menschliche Entwicklung“ bewertet, auf den 150. Platz (von 174 Ländern) zurückgefallen. Kaum die Hälfte aller Kinder besucht die Grundschule, weniger als ein Zehntel höhere Schulen. Kriegsflugzeuge und –schiffe sind nicht mehr einsatzfähig. Die wirtschaftlichen Aktivitäten, die sich fast völlig auf kaum kontrollierte private Initiativen beschränken, beruhen weitgehend auf dem Schmuggel von Zebus, Vanille, Gold und Saphiren, der zudem von der „Archipelisierung“ des Landes profitiert.4

Mangels Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sucht der Staat nach der Möglichkeit einer zweifelhaften Ersatzfinanzierung. Madagaskar wurde so – nach den Komoren, Mauritius und den Seychellen – zur jüngsten Zielscheibe der Drogenbosse. Nur in ganz wenigen Dörfern gibt es Straßen, Strom oder Rundfunkgeräte. Der Preis für das Grundnahrungsmittel Reis ist förmlich explodiert. „Madagaskar ist eines der wenigen Länder, in denen die Reisproduktion in den letzten dreißig Jahren nicht gestiegen ist“, betont Jean-Hervé Fraslin, Experte für landwirtschaftliche Kredite.

Die Hauptstadt Antananarivo mit ihren 1,2 Millionen (von insgesamt 14 Millionen) Einwohnern ist ein Konzentrat aller negativen Erscheinungen: unkontrollierte Entwicklung, ungesunde Wohnbedingungen, rund 20000 obdachlose Straßenkinder, Verkehrschaos, verseuchtes Wasser, eine Luftverschmutzung, die zehn- bis hundertmal über den Grenzwerten der Weltgesundheitsorganisation liegt, Arbeitslosigkeit (60 Prozent der aktiven Bevölkerung, darunter zahlreiche Akademiker), eine blühende Schattenwirtschaft, Unsicherheit, Mangelernährung ...5 Und natürlich eine himmelschreiende Ungleichheit, symbolisiert durch den Kontrast zwischen den chromblitzenden japanischen Edeljeeps und den zusammengeflickten Enten oder R4, den verkommenen Symbolen der verflossenen neokolonialen französisch-madegassischen Blütezeit.

Pastor Joshua Rakotonirainy, der Generalsekretär des christlichen Kirchenrats (FFKM) meint, daß vor einem solchen Hintergrund nationale Vorstellungen zwangsläufig „aus dem Blickfeld des Durchschnittsbürgers verschwinden mußten“. Schlimmer noch: die moralischen und kulturellen Fundamente der madegassischen Gesellschaft, die – wie die fihavanana (Solidarität) – einst ihren Zusammenhalt und ihre Würde ausmachten, werden immer weiter untergraben. Hier werden die Neureichen als Vorbilder und natürliche politische Führungsschicht gesehen, hier machen die Prediger aus andafy (Übersee) mit zweifelhaften Methoden das große Geld, schießen unzählige Sekten aus dem Boden.6 Die traditionellen Kirchen dagegen sind auf dem absteigenden Ast, nachdem sie sich in der Politik die Finger verbrannt haben.7

Besteht angesichts der rasant fortschreitenden Globalisierung und der Unterzeichnung eines Abkommens mit dem IWF (nach vierjähriger Unterbrechung der Beziehungen) Hoffnung auf eine eigenständige Entwicklung? General Ramakavelo ist skeptisch, wenn er die vom IWF erzwungenen Souveränitätseinbußen aufzählt: die öffentlichen Unternehmen werden zugunsten ausländischer Investoren privatisiert; erneut halten internationale oder französische Experten Einzug in die Ministerien; staatliche Hilfsgelder fließen zunehmend über Hunderte mehr oder weniger seriöse regierungsunabhängige Organisationen (NGOs), was häufig eine „humanitäre Einmischung“ begünstigt; Ausländer haben das Recht, Landbesitz zu erwerben, und es gibt keine Einschränkung bei der Visa-Vergabe (in einer Zeit, wo Europa sich verbarrikadiert und die frankophonen afrikanischen Eliten demütigt); die Politik des „offenen Himmels“, und mit ihr die Invasion der Jumbo- Jets der französischen Gesellschaft Corsair, bedroht die Existenz der staatlichen Air Madagascar, die zunehmend ihre „öffentlichen Verkehrsverbindungen“ in isolierte Landesteile einstellen muß; Devisen- und Preiskontrollen werden abgeschafft. Die Rechtsgrundlage für diesen Maßnahmenkatalog sind acht im August 1996 vom Parlament im Eilverfahren verabschiedete Gesetzentwürfe. „Unser Nationalstolz, der Aufstand von 1947 – schon zu weit weg, um wahr zu sein“, meint der General abschließend.

Rückkehr zur Strukturanpassung

PRÄSIDENT Ratsiraka, der Überlebende eines unglücklichen Experiments mit dem „revolutionären Sozialismus“, erinnert daran, daß er bereits 1983 mit dem IWF „um jeden Fußbreit“ der ersten Strukturanpassungsmaßnahmen verhandelt hat. Das tut er immer noch, nunmehr auf Basis des kürzlich mit dem IWF und der Weltbank ausgearbeiteten „Rahmenprogramms der Wirtschaftspolitik“, doch mit „einigen Anpassungen“ und vor allem „diszipliniert“: „Man soll sich nicht ungestraft auf Kosten anderer bereichern können“, sagt er und betont, daß die Geschäftemacherei zu Zeiten „seiner“ zweiten Republik eine „läßliche Sünde“ war, wenn man es mit dem Schmuggel, den Hinterziehungen und anderen Skandalen der dritten Republik vergleicht.

Das glaubt auch der Sänger Rossy, der zum zweiten Mal von der wichtigsten Tageszeitung der Hauptstadt zum „Künstler des Jahres“ gekürt wurde und mit seinem Hit „Lera“ (Es ist Zeit!) wesentlich zum Sturz des früheren Präsidenten Albert Zafy beigetragen hat. „Ich bin im Jahr der Unabhängigkeit geboren und ein echtes Produkt der sozialistischen Epoche“, sagt der 35jährige Rossy, der von der Küste stammt und viele internationale Tourneen hinter sich hat. Seine Kindheit war von politischen Veranstaltungen und Paraden geprägt. „In der Schule lasen wir „L'Enfant noir“ von Camara Laye, Emile Zola, die Befreiungstheologie, Mandela. Für uns hatte 1947 einen Sinn. Von Premier Ratsiraka wußten wir vor allem, daß er den vazaha [Weißen] eine Absage erteilt hatte – das haben wir von ihm gelernt.“8

Wie viele Madegassen aus seiner und der vorherigen Generation war Rossy vom sozialistischen Experiment der achtziger Jahre enttäuscht. Er hatte ein Lied gegen die Korruption geschrieben: „L'Afrique est malade“ (Afrika ist krank). Zugleich war es eine Möglichkeit für den Mann von der Küste, sich zu seiner négritude zu bekennen – gegenüber einer Merina-Oberschicht, die sich arrogant abzugrenzen pflegte von den andevo der Hochebenen (Abkömmlinge der Sklaven) und noch stärker von den mainty (Schwarzen) der Küstenregion.

David André Silamo, Generalsekretär der christlichen Gewerkschaft von Madagaskar (Sekrima), sagt, Frankreich habe sich aus Madagaskar zurückgezogen und den Asiaten das Feld überlassen. Die werden repräsentiert durch die karana (Indo- Pakistaner), die seit langem den Kleinhandel kontrollieren, wiewohl sie von Zeit zu Zeit heftigen Feindseligkeiten ausgesetzt sind und die patriotisch bemäntelten Schikanen einer eher eigennützigen als „nationalen“ Bourgeoisie zu ertragen haben.

„In der Kolonialzeit war alles für die Franzosen, in der ersten Republik alles für die sozialdemokratische Partei von Präsident Tsiranana; unter der zweiten Republik war alles für die Arema und die Zentralverwaltung der Kooperativen, die Procoops des Präsidenten Ratsiraka. Die Leute konnten erst seit den neunziger Jahren an sich selbst denken. Noch nie hat es derart viele Bauvorhaben, Unternehmen und Schwarzhandelsgeschäfte gegeben. Das Konzept beginnt aufzugehen: Privatinitiative, Risikobereitschaft, Arbeit ohne Abhängigkeit vom Staat – und ohne Angst vor ihm. Wenn der neue Staatschef das nicht versteht, wird es Zoff geben!“ erklärt dieser Gewerkschaftsführer, für den sich der Arbeitskampf fortan um Themen wie Schattenwirtschaft, Fortschritt und Unternehmergeist dreht.

Schon sind einige Geschäftsleute auf die politische Bühne getreten: Heri-Zo Razafimahaleo, der Chef einer blühenden Unternehmensgruppe, hat die Leader-Partei gegründet. Als Programm kann er nur seinen eigenen Erfolg vorweisen (“Mit mir werden Sie es schaffen“) und als Methode das Marketing (“Ich verkaufe ein Produkt“). Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen kam er auf überraschende 15 Prozent, die er bei der zweiten Wahlrunde an Ratsiraka abtrat.

„Die Madegassen sind eigenartige Leute“, meint Jean-Aimé Rakotoarisoa, Direktor des „Instituts der Kulturen“ auf die Frage, wie die Insel eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung erreichen könne. „Madagaskar ist beispielsweise das einzige Land der Welt, in dem es vorkommen kann, daß Schweinefleisch teurer als Rindfleisch ist. Sie verstehen nichts von Marktwirtschaft, sie arbeiten nur, wenn sie etwas brauchen, sie vermeiden den Anschein, sich allzu sehr zu bereichern, sie mischen die Religionen und stopfen alle Löcher im sozialen Netz mit Hilfe der Dorf- oder Familiensolidarität.“ Seiner Meinung nach ist der Kontakt zwischen Verwaltung und Bevölkerung seit langem abgebrochen. „Mit diesem Neuanfang werden wir wieder vor dem Wind segeln, unser Gleichgewicht wiederfinden, die Inflation unter Kontrolle bringen. Doch über wie viele Leichen müssen wir dafür gehen! Bereits 1986/87 hatte die Aufhebung der Subventionen für Grundnahrungsmittel zu einem indirekten Völkermord geführt. Wer hat die sterbenden Säuglinge in den Krankenstationen oder in den abgelegenen Dörfern gezählt?“

„Im Grunde ist Ratsiraka ein Patriot, auch heute noch“, tröstet sich Gisèle Rabesahala, die sich darauf vorbereitet, ab dem 29. März die tragische Geschichte ihrer Kameraden im Aufstand von 1947 zur Aufführung zu bringen. „An eine nationale Wende ist ohne die Einbeziehung von Tradition und Kultur gar nicht zu denken.“ Die Generalsekretärin der AKFM-Partei, einem Überbleibsel von 1947, bezweifelt, daß die Idee des neuen Staatschefs von der Öffentlichkeit ohne weiteres verstanden wird – die Idee einer „humanistischen und ökologischen Republik“ zur Rettung der „blutenden“ Insel9 , die ihren Boden, ihre Tierwelt und ihre Wälder zu verlieren droht. Die Chancen ihres Landes, sich selbst treu zu bleiben, kommentiert sie so: „Das Joch der Weltbank ist schon entwürdigend, doch der neue Präsident hat einen Vorteil: er schafft es, sich nicht alles und jedes aufzwingen zu lassen.“

dt. Christiane Kayser

* Journalist

Fußnoten: 1 Vgl. Fulgence Fanony und Noäl Jacques Gueunier, „Témoins de l'insurrection“, Foi et Justice, Antananarivo, 1997. 2 Drei von ihnen starben im Feuer. 3 Vgl. Françoise Raison, „La mémoire en cendres de Madagascar“, Le Monde Diplomatique, Dezember 1995. In den letzten Jahren wurden das Rathaus, das Gerichtsarchiv, das Archiv des Finanzministeriums sowie mehrere Häuser von Politikern unter nie aufgeklärten Bedingungen niedergebrannt. Bei rataka (Aufständen) legen die Demonstranten oft Feuer, insbesondere gegen die karana (indo-pakistanische Händler). Üblich, wenn auch verboten, sind Buschfeuer zur Regenerierung des Bodens oder zur Gewinnung von Ackerland; sie waren zu allen Zeiten auch Ausdruck von Unzufriedenheit oder Widerstand in der Bevölkerung. 4 Vgl. Philippe Leymarie, „Anrainerstaaten in der Krise“, Le Monde Diplomatique, Oktober 1995. 5 Nach einer Untersuchung im Rahmen des „Madio“-Projekts leben 62 Prozent der Hauptstadtbewohner von weniger als 1810 Kalorien täglich, die man als Subsistenzschwelle ansieht. „Sieht es außerhalb der Hauptstadt etwa besser aus?“ fragt sich die Wochenzeitung La Kroan'i Madagasikara. 6 Offiziell gibt es 500 Missionsvereinigungen (Midi-Madagascar vom 26. August 1996). 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt wollen Bauern im November 1990 eine Erscheinung der Jungfrau Maria gehabt haben. Mehrere Beobachter verweisen auf das Wiedererstarken traditioneller Religionen. 7 Vgl. Sylvie Brieu, „Der Einfluß der Kirche auf Madagaskar“, Le Monde Diplomatique, Oktober 1995. 8 Fregattenkapitän Didier Ratsiraka, ehemals Militärattaché in Paris und nach den antifranzösischen Demonstrationen von 1972 und 1973 Außenminister, hatte das „Sklavereiabkommen“ mit Frankreich scharf angegriffen und die Räumung der französischen Militärstützpunkte von Antananarivo und Diego-Suarez, damals unter dem Kommando von General Marcel Bigeard, erreicht. Es wurden daraufhin, trotz der feindseligen Haltung des damaligen französischen Außenministers Michel Debré, ausgewogenere Kooperationsvereinbarungen neu ausgehandelt. 9 Der Ausdruck wurde insbesondere von den ersten US-amerikanischen Astronauten verwendet, die beobachtet hatten, wie sich Ströme von roter Lava ins Meer wälzten. Doch schon im letzten Jahrhundert sprach man von der „roten Insel“.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von PHILIPPE LEYMARIE