14.03.1997

Die Macht der Gerüchte

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Die Macht der Gerüchte

MAN muß nicht lange suchen, um im Werk eines jeden zeitgenössischen koreanischen Schriftstellers auf die beiden großen Themen zu stoßen, die die Literatur seines Landes beherrschen: die drängende soziopolitische Frage, die sich aus den Auswirkungen der ungebremsten Verstädterung ergibt – das überzeugendste Beispiel hierfür bietet „Der Zwerg“ von Cho Sehûi1 – sowie die Teilung des Landes, die im Inneren jeder Familie intensiv erlebt wird („Die andere Seite einer dunklen Erinnerung“ von Ji Kjunjong, der vor kurzem tödlich verunglückt ist).

Einen Grund für diese Dominanz mag man in dem realistischen Ansatz sehen, der in der koreanischen Literatur vorherrscht und der sich aus dem historischen Kontext erklärt. Man muß dabei vor allem auf Konfuzius und seine Tradition zurückgehen, die der Literatur strenge Regeln auferlegte, „überflüssigen“ Effekten mißtraute und statt dessen von ihr erwartete, daß sie sich an die „richtigen Bezeichnungen“ halte – kurz, sie auf instrumentelle, funktionale Aufgaben verpflichtete. Es geht ihr darum, zu erziehen, darzustellen und weiterzuentwickeln, was in fünfundzwanzig Jahrhunderten festgeschrieben wurde. Ganz oben auf der Skala der symbolischen Werte rangiert dabei die nach wie vor äußerst lebendige Poesie, worin sich zeigt, daß das gesamte System paradoxerweise dem Geschriebenen eine einzigartige Bedeutung beimißt.

In ihrem Bedürfnis, Zeugnis abzulegen, hat die Moderne die instrumentelle Seite des Realismus bewahrt und seine moralisierende Botschaft nur ausnahmsweise in Frage gestellt. Die japanische Kolonialherrschaft, der Bürgerkrieg, Diktaturen und Verstädterung haben das gesellschaftliche Verantwortungsgefühl der Schriftsteller noch verstärkt.2

In Korea glaubt man also an die Wirkungen und die Wirksamkeit der Literatur – eine Auffassung, die dadurch bestätigt scheint, daß die Werke der Autoren in der Tat beachtliche Wirkung erzielen. Etwa der erste Text der Romanautorin Ch'oe Yun: „Dort unten fällt lautlos ein Blütenblatt“, der als Kurzroman oder Novelle zu einem hochgeschätzten Genre gehört. Die Autorin, die sich den Normen des Realismus prinzipiell verweigert – vielleicht auch, weil sie eine Frau ist – hat in ihre Erzähltechnik das eingearbeitet, was sie aus der Lektüre französischer Autoren von Flaubert bis Perec gelernt hat. Es handelt sich dabei freilich nicht um einen beliebigen Einsatz technischer Effekte, sondern um eine Reflexion über das Thema des Buchs: das Massaker von Kwangju, ein Fanal des diktatorischen Regimes der achtziger Jahre, dessen besondere politische Bedeutung daher rührt, daß damals Koreaner Koreaner töteten, ohne daß eine ausländische Intervention vorgelegen hätte.

DAS augenscheinliche Thema des Romans bildet ein Mädchen, das zweifach traumatisiert ist: zunächst durch den Tod ihres Bruders im Polizeigewahrsam, dann, weil sie in den Straßen von Kwangju die Hand ihrer sterbenden Mutter losließ. Ihr Wahnsinn treibt sie auf Irrwegen durch das ganze Land. Das zweite, eigentliche Thema des Romans ist das Gerücht, das sich mit jedem Schritt dieses Mädchens im Land verbreitet. Ein getreues Abbild jener Zeit, in der es keine Information gab und die Armee jede Erwähnung des Verbrechens untersagte. Die formale Umsetzung mittels einer Vielfalt von Perspektiven entspricht dem Wesen des Gerüchts: eine Meinung, die sich ausbreitet, ohne daß es möglich wäre, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen oder sie einem Urheber zuzuschreiben.

Manche Leser, oder besser gesagt: manche Kritiker, die eine Leserschaft zu vertreten behaupten, haben den Text verurteilt, weil er mit dem Realismus gebrochen habe, weil er einen Arbeiter als Vergewaltiger zeigt, weil er eine Region beschreibt, der die Autorin nicht selbst entstammt. Doch dieses Buch, das einem, wie Pierre Bourdieu sagen würde, nichtautonomen literarisch-kritischen Umfeld entstammt, also nicht literarischen, sondern politischen Kriterien folgt, war paradoxerweise der Ausgangspunkt für eine regelrechte Umwälzung des kulturellen und politischen Lebens.

1995 nimmt sich der Filmemacher Chang Snu, der sich bis dahin auf Gesellschaftskomödien spezialisiert hatte, des Textes an und macht die Affäre unter dem Titel „Das Blütenblatt“ im ganzen Land bekannt.3 Das bedeutendste Ereignis dieser Geschichte bildeten die Dreharbeiten über die niedergeschlagenen Demonstrationen, die an den Originalschauplätzen in Kwangju nachgestellt wurden, mit der Bevölkerung und den Familien der Opfer als Darstellern. Während die Bilder historisch authentische Parolen zeigten, schrie die Menge Parolen gegen das heutige Regime, das beschuldigt wurde, die Ereignisse noch immer nicht ganz aufgeklärt zu haben. Das betrifft besonders Präsident Kim Jong Sam, den ehemaligen Dissidenten, der angeklagt wird, dieselbe Politik wie seine Gegner zu machen. Er ist genau der Typus, den eine andere bewundernswerte Erzählung von Ch'oe Yun beschreibt: „Bei diesem grauen, schmutzigen Schnee“.

Einige Monate später wird die Verantwortung für das Massaker von Kwangju auf die Liste der Verbrechen gesetzt, die den beiden ehemaligen Militärpräsidenten Chun Doo Huan und Roh Tae Woo zur Last gelegt werden. Und dies dank eines Films, der die Lektionen des Buches auf seine eigene Weise aufgreift und damit gleichzeitig den Nationalismus und den filmischen Realismus in Frage stellt.

PATRICK MAURUS

dt. Martin v. Koppenfels

Fußnoten: 1 Alle genannten Titel sind veröffentlicht bei: Éditions Actes Sud, Arles. 2 Vgl. Patrick Maurus, „La Corée et ses héros défigurés“, Le Monde diplomatique, Mai 1992. 3 Zum koreanischen Film vgl. Gönul Dönmez- Colin, „Linke Cineasten und postmoderne Realisten“, Le Monde diplomatique, Januar 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von PATRICK MAURUS