Lateinamerika geht auf Distanz zur Alten Welt
Seit den achtziger Jahren hat die Europäische Union auf dem amerikanischen Kontinent bedeutende Aktivitäten zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und zur friedlichen Konfliktlösung entwickelt. Sie steht nicht nur bei der Entwicklungshilfe an erster Stelle (noch vor den Vereinigten Staaten), sie ist für Lateinamerika auch der zweitwichtigste Handelspartner. Doch Europa unterstützt auch fast bedingungslos den „Washingtoner Konsens“. In dessen Namen wurden die Volkswirtschaften nach den Prinzipien von „Liberalisierung“, „Deregulierung“ und „Privatisierung“ reorganisiert, wovon die spanischen, deutschen und französischen Unternehmen reichlich profitierten.
Von der Karibik bis Feuerland hat die gesellschaftliche Ungleichheit zugenommen, wurden die sozialen Sicherungssysteme abgebaut. In Peru wurden seit 1990 750000 Arbeitsplätze abgebaut, 79,4 Prozent der Bevölkerung leben laut Weltbank unterhalb der Armutsgrenze. In Ecuador betrifft die Armut inzwischen 40 Prozent der städtischen und 67 Prozent der Landbevölkerung. Kommt es da überraschend, daß in Lima ein Kommando der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) mehrere Dutzend Geiseln festhält? Oder daß in Quito Präsident Abdala Bucaram abgesetzt wurde, nachdem sein ultraliberales Wirtschaftsprogramm das Volk auf die Straßen getrieben hatte? Dies sind deutliche Anzeichen dafür, daß die Bedingungen wieder für dramatische Entwicklungen reif sind, das Wiederaufleben der Guerillabewegungen und die Wiederkehr von Diktaturen inbegriffen. Wenn man nicht in Kauf nehmen will, daß morgen ein Sturm losbricht, sollte Europa den Glauben aufgeben, Wirtschaftswachstum sei langfristig ohne soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten.M. L.
Von JEAN-JACQUES KOURLIANDSKY *
VOR einigen Monaten erörterten der französische Staatspräsident Jacques Chirac und der spanische Regierungschef José Maria Aznar die Idee, den fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten eine europäisch-lateinamerikanische Konferenz vorzuschlagen. Auf der Tagesordnung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wird nach dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten, dem Afrika der Großen Seen und den mittel- und osteuropäischen Ländern demnächst wohl eine weitere Aufgabe stehen. Nun ist die Absicht, die hinter dem spanisch-französischen Vorstoß steht, zwar begrüßenswert, jedoch wird dabei übersehen, daß Europa und Lateinamerika bereits über ein differenziertes und ständig einsetzbares Instrumentarium zur Zusammenarbeit verfügen.
In den achtziger Jahren, zu Zeiten des „Kühlen Kriegs“, verfolgten die damals zehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, denen sich kurz darauf Spanien und Portugal anschlossen, dasselbe Interesse wie Lateinamerika: Sie wollten die Konfrontation der Blöcke beenden, die in Europa zu Spannungen, in Zentralamerika zu Konflikten (Nicaragua, El Salvador, Guatemala), und in Südamerika zu Militärdiktaturen beigetragen hatte. Schon seit den siebziger Jahren hatte die Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Ostpolitik dank der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert- und der christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung in der Region politisches Terrain besetzt. Von diesen Stiftungen angeregt hatten die christdemokratische und die sozialistische Internationale neue lateinamerikanische Mitglieder aufgenommen, die mit ihnen weniger die Ideologie als vielmehr das Interesse an Blockfreiheit und Frieden teilten.
Frankreich hatte zwei kurze, aber spektakuläre Auftritte auf dieser Bühne: 1964 mit de Gaulle und 1981 mit François Mitterrand.1 Auf Betreiben dieser beiden Staaten, die das größte Interesse an einer Entspannung mit Osteuropa hatten, führten die Bemühungen um einen Frieden in Mittelamerika im September 1984 schließlich zum San-José-Forum (Das Forum heißt nach der Hauptstadt von Costa Rica, in der die Gründungsversammlung stattfand), obwohl die USA versuchten, das Projekt zum Scheitern zu bringen.2
Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Spanien und Portugal hat diese Dynamik 1986 noch beschleunigt. Spanien, das sein Verhältnis zu Europa und zur Welt normalisiert hatte, wollte sich mit einem großen außenpolitischen Projekt profilieren. Felipe González bemühte sich, ein Netz bilateraler Beziehungen zu knüpfen, das – verstärkt durch die ibero-amerikanischen Konferenzen – Madrid eine dauerhafte Vermittlerrolle zwischen beiden Kontinenten sicherte (siehe hierzu den Artikel von Gilles Luneau).
Seit dem Auftakt des Dialogs von San José zwischen den zehn – heute fünfzehn – EU-Mitgliedsstaaten und den Mittelamerikanern kommen 55 Prozent der Entwicklungshilfe für diese Länder aus Europa. Die Gesamtsumme der von der Europäischen Kommission vergebenen Kooperationskredite für Lateinamerika hat sich zwischen 1990 und 1994 verdoppelt. Davon fließen nach Mittelamerika durchschnittlich 40 Prozent. Die bereitgestellten Mittel wurden von 38 Millionen Ecu im Jahr 19844 auf 170 Millionen Ecu im Jahr 1994 aufgestockt.4
Der Frieden – das Ziel, das durch die beiderseitigen Beziehungen ursprünglich erreicht werden sollte – hat sich letztendlich durchgesetzt (in Nicaragua am 23. März 1990; in El Salvador am 16. Januar 1992; und zuletzt in Guatemala am 31. Dezember 1996). Die Mittelamerikaner haben dank dieser bilateralen Gespräche eine größere Fähigkeit zur Zusammenarbeit herausgebildet, was ihren Gipfeltreffen zu größerer Legitimität verholfen hat. Die Wiederbelebung des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes (Mercado Común Centroamericano, MCCA) unter der Bezeichnung „Mittelamerikanisches Integrationssystem“ (SICA) wie auch die Ansätze zu einer politischen Zusammenarbeit sind Früchte jener diplomatischen Erfahrungen mit den Europäern. Durch die Beziehungen, die Mittelamerika zu anderen Regionen unterhält, hat die mittelamerikanische Kooperation auch dazu beigetragen, die europäische Politik stärker auf Entwicklungshilfe und auf die Unterstützung von demokratischen Konsolidierungsprozessen auszurichten.
Die Staaten Südamerikas, die Mitte der achtziger Jahre die Diktaturen überwunden hatten, teilten die europäische Sorge um Zentralamerika. Wenn sich dort Frieden und Rechtsstaatlichkeit durchsetzten, war dies die beste Garantie für den Fortbestand der Demokratie. Sie schlossen sich 1983 zu einer kleinen Kerngruppe zusammen, der Contadora-Gruppe (Mexiko, Panama, Kolumbien, Venezuela), die im August 1985 um eine Gruppe von Unterstützern erweitert wurde (Argentinien, Brasilien, Peru, Uruguay) und schließlich 1987 in der Gruppe von Rio aufging.5
Dieser Zusammenschluß führte von Beginn an den Dialog mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem in Rom 1990 ein offizieller Rahmen verliehen wurde. Ursprünglich konzentrierte sich dieser Austausch auf die Probleme Mittelamerikas, doch seitdem hat er seine Thematik erweitert. Er führte etwa zur Zusammenarbeit bei mehreren Friedenseinsätzen unter UNO-Schirmherrschaft: im ehemaligen Jugoslawien, auf Haiti oder in Kambodscha, in El Salvador und Guatemala.
Eine dritte diplomatische Front wurde von der EG im Jahr 1990 mit den Ländern des Andenpaktes6 eröffnet. Im Gegensatz zur Politik der Nordamerikaner gewährten die zwölf EU-Mitglieder den Ländern, die von Koka-Anbau und Drogenhandel betroffen waren, einen privilegierten Zugang zum europäischen Markt. Dieses Abkommen wurde 1994 verlängert.
Auf der konventionelleren diplomatischen Ebene hat die Gemeinschaft regionale oder bilaterale Kooperationsverträge mit fast dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent ausgehandelt und regelmäßig verlängert, nur die Verhandlungen mit Kuba und Mexiko sind immer noch nicht abgeschlossen. Dabei enthalten die neueren Verträge eine Menschenrechtsklausel. Das Projekt verfügt auch über finanzielle Mittel; die lateinamerikanischen Unternehmen im Partnerschaftsprogramm ECIP können frei ausgewählt werden.7 Seit 1976 sind aus dem Haushalt der Gemeinschaft über drei Milliarden Ecu an staatlicher Entwicklungshilfe nach Lateinamerika geflossen. 1994 wurden Zusagen in Höhe von 464 Millionen Ecu gemacht, eine Steigerung von 47 Prozent gegenüber den 314 Millionen Ecu, die 1991 vergeben worden waren. 1993 hat die Europäische Union 62,5 Prozent aller Entwicklungshilfegelder bereitgestellt, die der Subkontinent erhalten hat, das ist weit mehr als die Hilfen aus Japan und den USA zusammen.8
Der eingeschlagene Kurs war demnach so erfolgreich, daß er auch unter den neuen Bedingungen nach dem Kalten Krieg fortgeführt wurde. Doch die ursprünglichen Motive für dieses Zusammengehen hatten sich erledigt, und im Zeitalter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik scheint Europa Schwierigkeiten zu haben, „aus seinem größten Erfolg in Sachen gemeinsamer Außenpolitik Kapital zu schlagen“9 . Zwar hat das bislang eingesetzte Instrumentarium auch an Vitalität verloren, aber da es immer noch zur Verfügung steht, wäre es riskant, die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen nach dem nur teilweise gelungenen Modell der europäischen Mittelmeerkonferenz von Barcelona neu strukturieren zu wollen. Es ist ja nicht nur so, daß der Rahmen für einen solchen Dialog mit Lateinamerika bereits seit mehreren Jahren existiert, dieser Rahmen wurde auch mit einer ganz anderen Zielsetzung geschaffen: Man wollte für den Frieden arbeiten, ohne Rücksicht auf die UdSSR und vor allem auf die USA nehmen zu müssen.
Europa ohne gemeinsame Außenpolitik
DIE Situation ist also paradox. Die Umwälzungen auf internationaler und europäischer Ebene haben die Mitgliedsstaaten der Union dazu veranlaßt, ihre außenpolitische Zusammenarbeit auszubauen, wobei der europäische Unionsvertrag 1992 den Grundstein für eine verstärkte diplomatische Koordinierung gelegt hat, die sogenannte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Zwar hatte vor zehn Jahren die Europäische Politische Kooperation (EPD), ein informeller Rahmen der Zusammenarbeit, zwischen Europäern und Lateinamerikanern bereits gut funktioniert, doch die GASP, die eine Fortführung der EPD darstellte, folgte nunmehr lediglich den ausgetretenen Pfaden, ohne aber besondere Ziele zu setzen oder neue Impulse zu geben. Die Termine werden eingehalten, die Finanzpläne beibehalten, die eingeleiteten Verhandlungen fortgeführt, aber beide Seiten mußten dennoch einen Substanzverlust registrieren.
Die Partner des Dialoges von San José haben versucht, dessen Notwendigkeit neu zu definieren, und vereinbarten 1993 einen Rahmenvertrag. Zwei Jahre später wurde bei der San-José-XI-Konferenz in Panama eine Erklärung verabschiedet, die auf die Notwendigkeit einer Neugründung hinwies: „Die Begeisterung für den Dialog zwischen beiden Regionen ist abgeklungen. Seit 1990 wurde die Verständigung zwischen Mittelamerikanern und Europäern durch die neuen globalen und regionalen politischen Zielsetzungen belastet.“11 Die politische Wende hat überall die Machtkriterien und Strategien verändert. Die Welt ist unberechenbarer geworden, Ideologien und Waffen wurden von Handel und Ökonomie verdrängt. Das gestern noch in zwei Pole gespaltene Lateinamerika wurde zum Objekt verschiedenster konkurrierender Interessen sowohl von Staaten als auch von Unternehmen. Die Lateinamerikaner nutzen diese heftige Konkurrenz aus, um die Großmächte gegeneinander aufzubringen und so die Risiken der Abhängigkeit auszugleichen. Chile, das sich sowohl nach Asien als auch nach Europa und Nordamerika geöffnet hat, ist so gesehen das beste Beispiel für ein solches Verhalten.
Die neuen Verhältnisse führten zu starken Interessengegensätzen sowohl unter den Europäern als auch zwischen Europäern und Mittelamerikanern. Das beste Beispiel dafür ist die Bananenaffäre. Kurz nach der Beilegung der Konflikte in Nicaragua und El Salvador haben Spanien, Frankreich, Griechenland, Portugal und Großbritannien die Einführung einer gemeinsamen Bananen-Marktordnung durchgesetzt11: Damit beschloß die Europäische Union, die europäischen wie die Produzenten aus den assoziierten Ländern – also hauptsächlich diejenigen der kanarischen Inseln, der französischen Antillen und der ehemaligen europäischen Kolonien des AKP-Vertrags – zu fördern, zum Nachteil der lateinamerikanischen Produzenten (die meist unter der Kontrolle des US-amerikanischen Markts stehen). Doch die innereuropäischen Interessen waren in dieser Frage nicht einheitlich, und Deutschland – Europas größter Bananenkonsument – eröffnete gemeinsam mit Dänemark eine hartnäckige juristische Offensive, die auf die zentrifugalen Kräfte aufmerksam machte.12 Faktisch hat Deutschland die Leitlinien einer eigenständigen Lateinamerika-Politik festgelegt, die sowohl auf der Verteidigung von Wirtschafts- und Außenhandelsinteressen beruht als auch auf dem Versuch, die UNO und ihren Sicherheitsrat zu reformieren. Der damalige deutsche Staatspräsident Richard von Weizsäcker besuchte im November 1993 Ecuador, wo er zugleich an einem Gipfeltreffen der mittelamerikanischen Staatsoberhäupter teilnahm. Bundeskanzler Helmut Kohl bereiste vom 14. bis 21. September 1996 Argentinien, Brasilien und Mexiko. Andere Mitglieder der Bundesregierung besuchten arbeitsteilig die übrigen lateinamerikanischen Länder.
Spanien hat sich für eine Annäherung an die Vereinigten Staaten entschieden, was sich daran zeigt, daß die Regierung von José Maria Aznar die öffentlichen Hilfsleistungen an Kuba eingefroren hat. Diese Entscheidung hat den diplomatischen Spielraum Madrids in Lateinamerika eingeschränkt. Auf dem letzten ibero- amerikanischen Gipfeltreffen im chilenischen Viña del Mar am 11. November 1996 hatte der spanische Staatschef zum ersten Mal keine privilegierte Position mehr inne. Portugal versucht, mit Brasilien und seinen ehemaligen Kolonien in Afrika eine portugiesischsprachige Gemeinschaft aufzuziehen, wobei allerdings Brasilien mit demselben Projekt liebäugelt, dieses aber gerne schwerpunktmäßig in Brasilia verankern würde.
Frankreich wiederum hat seinen Unternehmen freie Hand gelassen, die in mehreren Ländern einen beträchtlichen Anteil der zur Privatisierung ausgeschriebenen Betriebe aufkaufen, vor allem in Argentinien. Frankreich praktiziert eine bewußt handelsorientierte Diplomatie – in der Zeit der Cohabitation noch unausgesprochen, ganz explizit hingegen seit 1995. Die Grenzen dieser Politik wurden zunächst 1993 anläßlich des Bananen-Konflikts deutlich, vor allem aber mit der Wiederaufnahme der Atomtests 1995, die in Lateinamerika starken Protest hervorriefen, und schließlich ganz allgemein durch die Schwierigkeit, in der Karibik und in Französisch-Guyana eine physische Präsenz zu erhalten, die häufig als kolonialistisch angesehen wird. Die französischen Departements in Amerika sind durch den Beitritt Frankreichs zur karibischen Staatenvereinigung am 25. Mai 1996 sicherlich näher an ihr geographisches Umfeld herangerückt, doch ihre Interessen konkurrieren sehr häufig mit denen ihrer Nachbarstaaten.
In einer unübersichtlich gewordenen Welt ist eine Partnerschaft mit Europa für die Lateinamerikaner nicht mehr so wichtig. Europa, die USA, Kanada, China und Taiwan, Japan und Korea, sie alle werden gleichermaßen umworben und machen sich gegenseitig Konkurrenz. Ein Kind dieser Zeit war aber auch die Renaissance europäischer Gemeinsamkeit, die mit der einheitlichen Position zum nordamerikanischen Helms-Burton-Gesetz (das das einseitige Embargo gegen Kuba verschärft) kurzfristig möglich wurde.14 In einer Welt, die sich durch Handelsfreiheit definiert, hat diese Politik Washingtons ein allgemeines Protestgeschrei ausgelöst, und dies nicht nur bei den Europäern.
In einem Umfeld, das sich ständig verändert und neue Gegensätze hervorbringt, fällt es Europa schwer, die Kooperationsverträge, die es mit Lateinamerika eingegangen ist, zu erneuern und auszuweiten. Um ihre Politik gegenüber Lateinamerika neu zu definieren, würde die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eher von einer Denkpause profitieren. Dagegen könnte eine weitere Konferenz, auf der abermals nur leere Phrasen gedroschen würden, nicht viel mehr bewirken, als die bestehende Ungewißheit in Verwirrung umzuwandeln. Die Frage ist im Grunde, ob die EU-Mitgliedsstaaten wirklich gemeinsame Interessen haben und ob der Handel eine hinreichende außenpolitische Zielsetzung abgibt.
dt. Miriam Lang
* Wissenschaftler am Institut de relations internationales et stratégiques (IRIS), Universität Paris-Nord.