14.03.1997

Linke Amnesie

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Linke Amnesie

BEI manchen Themen nimmt die bibliographische Nachforschung nicht viel Zeit in Anspruch: Man braucht nur Zeilen zu zählen, nicht einmal Absätze oder gar Kapitel. 29 Zeilen in einem Buch von 410 Seiten über die Außenpolitik Frankreichs von 1944 bis 19491 , 27 Zeilen im ersten der drei Bände einer Geschichte der Vierten Republik2 , keine einzige Zeile in einem dritten Titel3 . Die Tausende madegassischen Toten von 1947 (das ausführlichste der drei Werke spricht von „zwischen 10000 und 90000 Toten“) haben den unverzeihlichen Fehler begangen, sich nicht von sowjetischen, sondern von französischen Soldaten ermorden zu lassen, und das auch noch auf Befehl einer Regierung mit sozialistischen und kommunistischen Ministern.

Der madegassische Aufstand begann in der Nacht vom 29. zum 30. März 1947 mit einem Massaker an etwa hundert französischen Kolonialsiedlern. Damals war der Sozialist Paul Ramadier Regierungschef, der Kommunist Maurice Thorez noch für kurze Zeit stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats. Innerhalb dieses Rats verteidigte er auch die madegassischen Parlamentarier (die ihre Immunität verloren, zu Tode verurteilt und dann schließlich begnadigt wurden). Doch der Bruch der Dreiparteienkoalition (KPF-SFIO-MRP) erfolgte fünf Wochen später, am 5. Mai 1947 – wegen Renault, und nicht wegen Madagaskar.

In Wahrheit scherte sich niemand in Frankreich um Madagaskar. Die großen Blätter nahmen das Thema erst zur Kenntnis, als die Prozesse gegen die madegassischen Angeklagten begannen, um diese dann ausgiebig zu beschimpfen.

Eine Morgenzeitung brachte die subtile Schlagzeile „Der Mörder Raseta“, als dieser Abgeordnete vor Gericht stand. Massaker an der Kolonialbevölkerung hatte es bereits etliche gegeben, und es würden noch viele mehr stattfinden: Angefangen von den Toten von Sétif in Algerien am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation (6000 bis 8000 nach französischen Militärquellen; 20000 nach dem damaligen Außenminister Georges Bidault; 45000 nach offiziellen algerischen Quellen)4 , oder die Kanonenschüsse von Haiphong, die im November 1946 den endlosen Indochinakrieg auslösen sollten.

„Der Mörder Raseta“: Albert Camus erklärte in der Zeitschrift Combat vom 10. Mai 1947, warum es so einfach war, die französische Bevölkerung gegen diejenigen in Rage zu versetzen, die von Frankreich unterdrückt wurden. „Wenn Franzosen von den Methoden erfahren, die andere Franzosen gegen Algerier oder Madegassen anwenden, ohne sich darüber zu empören, so deshalb, weil sie unbewußt in der Gewißheit leben, daß wir in gewisser Weise jenen Völkern überlegen sind und jedes Mittel recht ist, um diese Überlegenheit zu demonstrieren.“

Wenn die Linke an der Macht war, behandelte sie dieses Thema, wie viele andere auch, in gleicher Weise wie alle anderen Regierungen. Zur Zeit des Linkskartells (1924-1926) hatte sie einen gewissen Marschall Pétain damit beauftragt, die Rif-Soldaten von Abd-el-Krim zu beseitigen. Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung wurden Algerier, Madegassen und Vietnamesen zu Opfern dieser Linken. Übrig blieben damals die Iraker: doch um die hat man sich ja in jüngster Zeit gekümmert.

SERGE HALIMI

Fußnoten: 1 Pierre Gerbet, „Le Relèvement“, Paris (Imprimerie Nationale) 1991, Seiten 404-405. 2 Georgette Elgey, „La République des illusions“, Paris (Fayard) 1965, Seiten 272 und 276-277. 3 Alfred Grosser, „La IVe République et sa politique extérieure“, Paris (Armand Colin) 1961. 4 Siehe dazu Ali Habib, „Les massacres de Sétif“, Le Monde, 14./15. Mai 1995.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von SERGE HALIMI