14.03.1997

Ein Blick zurück im Zorn

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Ein Blick zurück im Zorn

KEINER hat sie vergessen, eine der packendsten und symbolträchtigsten Szenen aus dem Mai 1968 in Frankreich. Sie zeigt den letzten Widerstand einer jungen Arbeiterin der Wonder-Werke in Saint-Ouen, vor den Toren von Paris, die sich weigert, nach dem langen Streik die Arbeit wiederaufzunehmen. Zwei Gewerkschaftsdelegierte versuchen, sie zu überreden. Aber da ist nichts zu machen, sie will nicht wieder zurück.

Damit endete ein kleiner, engagierter Film von wenigen Minuten Länge mit dem Titel „La Reprise du travail dans les usines Wonder“ [Die Wiederaufnahme der Arbeit im Wonder-Werk]. Zunächst war es nichts weiter als eine schlichte Reportage, ohne Vorbereitung und feste Planung. „Gewöhnlich filmten wir für solche Reportagen die Affen im Zoo“, erinnern sich die Autoren, zwei Filmstudenten, „doch dann standen wir plötzlich vor dem Wonder-Werk und filmten diese Szene“ – und aus dem Kurzfilm wurde ein echter revolutionärer Renner, der in Hunderten von politischen Versammlungen vorgeführt wurde.

Dem Filmemacher Hervé Le Roux („Grand bonheur“, 1992) sind diese Bilder und die Entschlossenheit der jungen Arbeiterin nicht aus dem Kopf gegangen. Was ist rund dreißig Jahre später aus ihr geworden? Ist sie schließlich doch an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt? Oder hat sie Wonder verlassen? „Ich hatte damals nur eine Einstellung von ihr gemacht, ich schuldete ihr eine zweite“, meinte Le Roux und machte sich auf die Suche nach den Protagonisten dieser Geschichte. Das Ergebnis ist ein wunderbarer politischer Film1 , dreieinhalb Stunden spannende Reportagen und Interviews.

Die meisten Zeitzeugen sehen den Kurzfilm vor Hervé Le Roux' Kamera noch einmal. Sie haben nichts vergessen. Die miserablen Arbeitsbedingungen („38000 Batterien pro Tag, 38000 Mal die gleichen Bewegungen. Wie in Chaplins ,Moderne Zeiten‘“, erinnert sich ein Mechaniker), die Kämpfe, die Forderungen, die dürftigen Resultate, die man durchgesetzt hat. „Nachdem der Streik vorbei war, wurde alles wieder wie vorher“, erinnert sich eine ehemalige Arbeiterin. „Die Chefs ließen gerade mal zwei Duschen in den Werkhallen der Frauen einbauen und gestatteten uns fünf Minuten Toilettenpause.“ Aber die schmutzige Arbeit mit dem Pech und der direkte Kontakt mit hochgiftigen Chemikalien gehörten weiter zum Alltag.

MIT der Schilderung dieser Frauen – von denen die meisten in frühester Jugend eingestellt wurden, ohne jede Ausbildung, miserabel bezahlt – und der Geschichte des Wonder-Werks lebt ein Teil der jüngsten Geschichte der Arbeiterklasse und des Industriezeitalters wieder auf.

1916 gegründet, beherrschte Wonder in den sechziger Jahren den Batteriemarkt, vor allem dank des Aufkommens des Transistors und der militärischen Aufträge im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg. Durch die amerikanische und dann auch japanische Konkurrenz ging es in den siebziger Jahren bergab. 1984 kaufte der als Retter präsentierte (und durch einen unvergeßlichen Werbespot von Jacques Séguéla in Szene gesetzte) Bernard Tapie die Fabrik auf. „In wenigen Monaten wurden massenweise Beschäftigte entlassen“, an der Börse dagegen kletterten die Wonder-Aktien um 560 Prozent! Vier Jahre später verkaufte Tapie die Firma Wonder an die amerikanische Gruppe Ralston und überließ das Fabrikgebäude in Saint-Ouen einem seiner Freunde, dem Antiquitätenhändler Steinitz. Ironie der Geschichte: heute ist die Fabrik ein Antiquitätenlager.

CARLOS PARDO

Fußnote: 1 „Reprise“ von Hervé Le Roux (1996), Kinostart in Frankreich am 26. März 1997, Internationales Forum des jungen Films Berlin 1997.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von CARLOS PARDO