14.03.1997

Der große Schwindel mit den Pensionsfonds

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Der große Schwindel mit den Pensionsfonds

Von RENÉ PASSET *

ANGEBLICH verfolgt man mit der Entscheidung, in Frankreich mittels Kapitalbildung Pensionsfonds zu schaffen, nur das Ziel, das Rentensystem zu bewahren. Doch möglicherweise geht es darum, den Einfluß der Finanzwelt zu erweitern. Vertreter von Banken und Versicherungen und Wirtschaftsredakteure verweisen immer wieder mit Nachdruck auf eine Reihe von Daten: Die französische Bevölkerung wird älter; die durchschnittliche Lebenserwartung eines Rentners hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren um fünf Jahre zugenommen; die Scharen aus dem Babyboom der Nachkriegszeit haben über längere Zeiträume Beiträge gezahlt und werden genau dann höhere Renten beanspruchen, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge ins Beitragsalter kommen; das Verhältnis zwischen aktivem und nicht aktivem Bevölkerungsanteil wird immer ungünstiger usw. Diese Tatsachen sind unbestreitbar, die Frage ist aber, welche Folgerungen man daraus zieht, und vor allem, welche Logik hinter diesen Überlegungen steckt.

Wenn man den Lobbyisten der Pensionsfonds Glauben schenkt, so muß man den Eindruck gewinnen, daß die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den kommenden Jahrzehnten stabil bleiben und sich die Situation in den Jahren 2017 oder 2037 genauso darstellen wird wie im Jahre 1997. Nach den Angaben des Staatlichen Amts für Statistik und Wirtschaftsstudien (Insee) standen 1995 22 Millionen Beschäftigten 7,7 Millionen Rentner gegenüber, auf einen Rentner kamen somit 2,9 Beitragszahler. Ein 1991 von der Regierung Rocard veröffentlichtes Weißbuch ging davon aus, daß diese Zahl bis zum Jahre 2040 auf 1,7 zurückgehen wird. Dabei wird aber „übersehen“, daß sich die Arbeitsproduktivität pro Stunde bis zum Jahre 2040 um das 2,4fache erhöht haben wird, wenn sie weiterhin im gleichen Durchschnittstempo wächst wie zwischen 1992 und 1994, nämlich um 2 Prozent – und zwar bei unveränderter Arbeitszeit. Mit anderen Worten: im Jahre 2040 werden 1,7 Beschäftigte ebensoviel produzieren wie 4 Beschäftigte im Jahre 1995 – man könnte also eine größere Zahl von Rentnern finanzieren.

Wenn die Zahl der Beschäftigten in Frankreich zwischen 1973 und 1995 von 21 auf 22 Millionen gestiegen ist und gleichzeitig die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden von 40 auf 35 Milliarden zurückging, dann folgt daraus, daß die jährliche Arbeitszeit jedes Beschäftigten von 1900 auf 1600 Stunden gesunken ist. Mit den Vorgaben des Jahres 1973 würde sich die Zahl der Beschäftigten auf nur 18,5 Millionen belaufen. Die Zunahme der Belastungen ist also weder so groß noch so offensichtlich oder unausweichlich, wie man glauben machen will.

Einige wenden ein, daß die Krise die Finanzierungskapazitäten einschränkt. Die jährliche Steigerung der Lohn- und Gehaltssumme, die in den dreißig Aufschwungjahren nach dem Zweiten Weltkrieg bei 5 Prozent lag, beträgt seit 1986 nur noch 1 Prozent. Doch letztendlich ist es immer das Sozialprodukt, das den Rahmen einer Volkswirtschaft bestimmt. Der Anteil der Leistungen im Zusammenhang mit der Überalterung und der Erhöhung der Pensionen ist zwar von 10,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahre 1981 auf 12 Prozent im Jahre 1995 gestiegen. Wenn dieser Anteil im gleichen gemäßigten Tempo wie im Jahr 1995 weiterhin wächst – nämlich um 2,1 Prozent – wird er sich im Jahr 2030 verdoppelt haben – ebenso wie die Zahl der über 60jährigen, die von 9,3 auf 18,8 Millionen steigen wird. Die Möglichkeiten des Systems sind also keineswegs erschöpft.

Angesichts dieser Daten stimmt die Inkohärenz der in Frankreich vorgeschlagenen Lösungen nachdenklich. Einerseits wird bei den Leistungen eine restriktive Politik durchgesetzt: Inzwischen muß man 40 statt 37,5 Jahre lang Beiträge zahlen, um die volle Rente zu erhalten, die wiederum auf der Basis der 25 besten Jahre berechnet wird statt, wie früher, der 10 besten Jahre. Die Steigerung wird an die Preise und nicht an die Reallöhne gekoppelt. Und gleichzeitig, in einem Klima wirtschaftlicher Krise, richtet die Regierung inständige Bitten an den Verbraucher, zu konsumieren.

Im übrigen sehen sich fast alle Mitgliedsländer der EU mit den Problemen konfrontiert, die aus der zunehmenden Lebenserwartung resultieren. Sie setzen die Altersgrenze für die Verrentung hinauf oder „strecken“ den Beitragszeitraum. Aber andererseits fördern sie die Arbeitszeitverkürzung (wie in Frankreich mit dem Robien-Gesetz) und schicken immer mehr Menschen in den Vorruhestand – so wird er zur Zeit den frei praktizierenden Ärzten über 56 Jahre nahegelegt. Frankreich ist zudem das Industrieland mit dem niedrigsten Anteil an Berufstätigen in der Gruppe der über 55jährigen: Er liegt bei nur 42 Prozent gegenüber 63 Prozent in den Vereinigten Staaten, 62 Prozent in Großbritannien und 52 Prozent in Deutschland. Der Widerspruch ist nicht zu übersehen.

Dringend gesucht: Der schnelle Profit

LAUT den Befürwortern der Pensionsfonds wird das System der „Kapitalbildung“, in dem jede Generation anspart, um ihre eigene Zukunft abzusichern, eine neue Form des Teilens zwischen den Generationen einführen. Akkumuliert werden dabei jedoch keine materiellen Güter, die man später vorfinden würde, sondern Wertpapiere und Effekten, die ein Anteilsrecht am Sozialprodukt eröffnen – zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem aktiven Leben. Für welche Form der Finanzierung man sich auch immer entscheidet – Rente oder Kapitalbildung –, bei der Rentenfrage geht es zu gegebener Zeit immer um die Frage der Aufteilung des Sozialprodukts zwischen aktiver und nicht aktiver Bevölkerung.

Es ließe sich vielleicht auch vermuten, daß das Wirtschaftswachstum durch Kapitalzufuhr – aus dem eigenen Land – gefördert und so die Abhängigkeit der Unternehmen vom Ausland verringert werden soll. Dabei wäre allerdings zu bedenken, daß es zu dieser Finanzspritze nur in der Anfangsphase kommt, in der das System aufgebaut wird. Später werden die neuen Rentner ihr bewegliches Erbe liquidieren, während die künftigen Rentner wieder anfangen, ein solches Erbe zu akkumulieren. Es handelt sich also um einen Kapitaltransfer und nicht um eine Kapitalschöpfung.

Keinesfalls sollte man der Behauptung Glauben schenken, das Wachstum der französischen Unternehmen werde durch den Mangel an Spareinlagen gebremst: Die Kapazität der Unternehmen zur Eigenfinanzierung beläuft sich auf 115 Prozent ihres Bedarfs. Das Problem besteht vielmehr darin, daß die Unternehmer lieber ihr Finanzkapital erweitern als ihr Produktivkapital. In einer Zeit, in der die Realzinsen trotz der kürzlich erfolgten Nominalzinssenkungen immer noch einträglich sind, winken die satten Gewinne tatsächlich nicht in der Produktion.

Haben die langfristigen Spareinlagen – und nichts anderes sind die Pensionsfonds – wenigstens einen stabilisierenden Einfluß auf die Börsenaktivitäten? In den Zeitungen wird dies immer wieder behauptet, die Fakten aber besagen genau das Gegenteil: In den Vereinigten Staaten halten die Pensionsfonds ein Wertpapier im Durchschnitt nicht länger als sieben Monate. Die Fondsverwalter, die im Namen der corporate governance in den Unternehmen präsent sind, zwingen diese zu unmittelbarer Rentabilität und vernachlässigen langfristige Planungen. Einige gehen sogar soweit, Schwarze Listen zu veröffentlichen, in denen die Unternehmen verzeichnet sind, die ihren Aktionären nur unzureichende Dividenden ausschütten.

Das letzte Argument, mit dem man breite Zustimmung zu dem neuen System einklagen will, ist die angeblich höhere Sicherheit für die Sparer. Dabei müßte eigentlich jeder wissen, daß die Kapitalbildungssysteme bei einem Börsenkrach wie in den dreißiger Jahren zu den ersten Opfern gehören. Bei den meisten dieser Systeme ist der Anteil der Wertpapiere mit variablen Erträgen außerordentlich hoch: In Großbritannien sind es 76 Prozent, davon 21 Prozent aus dem Ausland. Und wenn die amerikanischen staatlichen Schuldbriefe in japanischen Fonds zu finden sind, dann bedeutet dies, daß die Pensionen der zukünftigen japanischen Rentner zu einem Teil von den Steuern abhängen, die die amerikanischen Steuerzahler zahlen. Wen soll das beruhigen?

Daß der französische Staat zur Rettung des Rentensystems beitragen will, indem er die beiden existierenden Systeme – Grundversorgung und Zusatzversorgung – mit den Mitteln aus einem dritten System ergänzen will, ist nicht sehr glaubhaft. Nach Angaben der Gewerkschaften stellen die finanziellen Anreize, die für die Anlage von Spargeldern in Pensionsfonds gewährt werden, für das Rentensystem einen Beitragsverlust in Höhe von 17 bis 18 Milliarden Franc dar. Damit ist ein größeres Ungleichgewicht möglich geworden, und es wäre denkbar, daß man sich irgendwann darauf berufen wird, um die Kapitalbildung zu stärken und das traditionelle System immer weiter abzubauen. Mit der Zeit würde man auf eine Situation zusteuern, in der sich eine große Anzahl Einkommensschwacher mit einer lächerlichen Grundversorgung zufriedengeben müßten – in Großbritannien garantiert dieses System eine monatliche Rente, die 16 Prozent des letzten Gehalts ausmacht und sich auf die fürstliche Summe von 60 Pfund (165 Mark) pro Person beläuft. Nur die Wohlhabendsten können sich dann noch ein befriedigendes Zusatzeinkommen sichern.

Es bleibt nur eine einzige überzeugende Erklärung: Die Versicherungsgesellschaften treten mit so viel Nachdruck für die Pensionsfonds ein, weil sie in den Genuß jenes Kapitalsegens kommen möchten, der ihnen entgeht, solange die Renteneinlagen paritätisch verwaltet werden. Über die 963 Milliarden Franc hinaus, die jedes Jahr im Rahmen des Rentensystems eingezahlt werden, wenden die Franzosen nach Schätzungen nur 250 Milliarden Franc zur Kapitalbildung für ihre spätere Rente auf.1

Die Argumente, die jetzt im Zusammenhang mit den Renten fallen, werden in Zukunft für das ganze System der Sozialversicherung geltend gemacht werden. Die Frage ist, was damit bezweckt wird. Diejenigen, die uns in Sicherheit wiegen wollen, indem sie sich selbst zu Wächtern und Garanten der Einheit des Systems ernennen, haben schon zu oft gelogen, als daß man ihnen in diesem Punkt glauben könnte. Überdies hätte es eine ausgezeichnete Möglichkeit für sie gegeben, ihre Vorstellungen zu verwirklichen, ohne daß man sie verdächtigt hätte: Sie hätten nur gemeinschaftlich verwaltete Fonds schaffen müssen, die dem Zugriff des Finanzsystems entzogen gewesen wären. Das aber haben sie nicht getan.

Ein garantiertes Mindesteinkommen

DER Übergang in den Ruhestand gleicht für manche jenem Sketch, in dem der Humorist Roland Magdane sich ernsthafte Gedanken macht, was in einer Konservenbüchse in dem Sekundenbruchteil geschehen mag, der dem Erreichen des Verfallsdatums unmittelbar vorausgeht. Solche Ideen beruhen auf einer Vorstellung, das Leben setze sich im Prinzip aus drei Abschnitten zusammen: Jugend-Abhängigkeit-Ausbildung; Reife- Ehe-Berufstätigkeit; Alter-Ruhestand- Rente. Bislang gab es für jede dieser Phasen eine Reihe typischer biologischer, beruflicher und sozialer Merkmale: So fiel etwa das Ende der Berufstätigkeit mit dem Bezug der Rente und dem biologischen Altern zusammen. Doch diese Vorstellung wird gegenwärtig von den demographischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen erheblich erschüttert. Die Arbeitslosigkeit nagt an beiden Enden des Arbeitslebens. Man beginnt es immer später und beendet es immer früher, und zugleich bleibt man immer länger jung.

Eine Lösung des Problems könnte nur im lebenslangen Alternieren von Perioden der Arbeit, der Ausbildung, der Erholung, der Kultur und verschiedener Aktivitäten bestehen. Die schrittweise Einführung eines garantierten Mindesteinkommens ist keineswegs unmöglich. Für den einzelnen wäre damit die Befriedigung der Grundbedürfnisse gesichert, ohne daß er davon abgehalten würde, zu arbeiten – ein neuer Grad von Entscheidungsfreiheit innerhalb der Gesellschaft würde erreicht. Die allmähliche Ausweitung dieser Möglichkeiten auf alle Bürger ließe sich damit rechtfertigen, daß das Sozialprodukt mehr und mehr zum echten Gemeingut wird.

Die Entstehung einer Gesellschaft mit Mindestlohngarantie vollzieht sich in Systemen, in denen „Menschen, Maschinen und Organisation“ ein Ganzes bilden und in denen es keine Bedeutung mehr hat, welcher Anteil dem Kapital und welcher der Arbeit zugeschrieben wird. Es baut auf ein engmaschiges Netz gegenseitiger Abhängigkeiten auf, das die Unternehmen untereinander und mit ihrem sozialen, institutionalen und natürlichen Umfeld verbindet. Das Wissen, das eine immer wichtigere Rolle bei den wirtschaftlichen Leistungen spielt, basiert auf einem universalen Erbe, das sich aus den Kenntnissen der früheren Generationen und denen aller Zeitgenossen auf der Welt zusammensetzt.

Durch diesen garantierten Mindestlohn würde es möglich, die gegenwärtige Dichotomie zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen zu überwinden. Gleichzeitig könnte man eine Abstufung einführen zwischen denen, die sich dafür entschieden haben, nicht zu arbeiten, denen, die nur gelegentlich oder auf Teilzeit arbeiten, und denen, die voll arbeiten. Der befristete Arbeitsvertrag, der unter den augenblicklichen Bedingungen zu Recht verschrien ist, würde zum natürlichen Instrument einer solchen Entwicklung werden. Die Beschäftigung müßte nicht mehr im Verhältnis zur Zahl der Beschäftigten gemessen werden – so daß der Begriff der Vollbeschäftigung seine Bedeutung verlieren würde –, sondern würde in der Zahl der Stunden ausgedrückt werden, die von einer Gruppe in einem festzulegenden Zeitabschnitt (Tag, Woche, Monat oder Jahr) geleistet wird. Der Übergang in den Ruhestand wäre ein allmählicher Prozeß, in individuellem Tempo, ohne jemals unumkehrbar zu sein.

Man hört die „Realisten“ schon hämisch lachen. Gewiß stimmt diese Vision nicht ganz mit den herrschenden Vorstellungen überein. Aber die Gegenwart läßt sich nur unter Einbeziehung langfristiger Überlegungen interpretieren. Die Menschen und die Völker brauchen eine Zukunftsperspektive. Eine ganze Welt liegt vor ihnen, und mangels einer Analyse weiß man ihnen nur unablässige Opfer zu versprechen, deren Sinn niemand mehr zu rechtfertigen versucht.

dt. Christian Voigt

* Emeritierter Professor der Universität Paris-I, Autor von “L‘Économique et le Vivant“, zweite Auflage, Paris (Economica) 1996.

Fußnote: 1 François Charpentier, „Votre retraite: le bilan, les solutions“, La Vie française, Paris, Nr. 2662, 15.-21. Juni 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von RENÉ PASSET