Rebellion zur Unzeit
Von PHILIPPE LEYMARIE
MAN sagte ,Vogel‘. Wenn der andere ,Feuer‘ antwortete, war er ein Freund. Wenn er etwas anderes sagte, war er ein Feind, und man brachte ihn um“, erzählt Monja Jaona, einer der Anführer des Aufstands. An diesem 29. März 1947, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, wird der Gendarmeriestützpunkt Tristani in der Provinz Moramanga, an der Bahnlinie zwischen Antananarivo und Tamatave gelegen, plötzlich angegriffen. Überfallen werden auch die französischen Niederlassungen am Fluß, dem Unteren Fersony, und die Stadt Manakara an der Westküste. An anderen Orten scheitert die allgemeine Erhebung trotz des Überraschungseffekts: die Mehrheit der Bevölkerung macht nicht mit.
Pater Jacques Tronchon, der koordinierende Sekretär der Bischofskonferenz, ist Autor des Buches „L'Insurrection malgache de 1947“ (Der madegassische Aufstand von 1947), das noch immer als Standardwerk gilt. Er erinnert sich, daß der Aufstand in der Regenzeit begann, in der Nacht zum Palmsonntag, zur Zeit des Fandroana, des „Badefestes“, der nationalen Feiertage zum Gedenken an die Zeit der Königinnen, die das Heimatland und seine Wiedererweckung beschworen und ein Anlaß waren, dem Ahnenkult und den traditionellen madegassischen Werten zu huldigen.1 Das von Deutschland besiegte Frankreich war auf sein Kolonialreich angewiesen, um sich dem Lager der Sieger über den Faschismus anschließen zu können: Dieses Frankreich war nicht mehr unbesiegbar. In seiner Rede von Brazzaville versprach General de Gaulle den Völkern in Übersee eine Union Française und damit den Zugang zur Staatsbürgerschaft – während die französische Armee weiter folterte und mordete, von Sétif bis Haiphong.2
In Indochina prangerte Ho Chi Minh bereits den „Verrat“ an. In Madagaskar befürchteten die kleinen und großen Kolonialfranzosen, wie auch ein Teil der Kolonialverwaltung, Briten oder Südafrikaner könnten es auf die Große Insel abgesehen haben. Und sie registrierten ausgesprochen mißtrauisch die spektakulären Erfolge der nationalen und pazifistischen MDRM (Demokratische Bewegung der madegassischen Erneuerung), die drei Abgeordnete ins Pariser Parlament entsandte. Jacques Rabemananjara, der jüngste der drei Abgeordneten, erinnert sich: „Die Stimmung war aufgeheizt. Wir hatten großes Heimweh. Unsere Devise lautete: immer mehr zu Franzosen werden, und doch Madegassen bleiben.“3 Im Januar 1947 hatte die MDRM – die laut dem sozialistischen Ratsvorsitzenden Paul Ramadier von „dekadenten Howa- Aristokraten“4 geführt wurde – die lokalen Wahlen gewonnen und für April einen Kongreß angekündigt.
Die beiden wichtigsten Geheimgesellschaften Panama (Nationalistische Patrioten Madagaskars) und Jiny (benannt nach einem roten Vogel) standen unter dem Eindruck der Verherrlichung der antikolonialistischen Widerstandsbewegungen und wollten die Unabhängigkeit mit Gewalt erkämpfen. Im nachhinein meinen sie allerdings, daß sie sich vorschnell in den Kampf treiben ließen: Eine von der Polizei gesteuerte Gruppe hatte das Signal zum Aufstand gegeben und sie gezwungen, mitzuziehen. (Die meisten Historiker gehen heute von einer Provokation der Polizei, der französischen Siedler oder der Briten aus.)
Monja Jaona, Gründer von Jiny im Süden, ist einer der wenigen nationalistischen Führer, die sich zu ihrer Verantwortung für den Ausbruch dessen bekennen, was die Siedler ,Rebellion‘ und die Madegassen später ,die Ereignisse‘ nannten. „Meine Vorfahren sind unter der französischen Besatzung umgekommen, sie wurden von Senegalesen erschossen. Ich mußte kämpfen, um meinen Vater zu rächen. Ich war wütend, sagte mir: Wir sind nach Frankreich gegangen und haben gegen die Deutschen gekämpft, wir haben das Land der Franzosen verteidigt – Warum verteidigen wir nicht unsere Heimat? Erheben wir uns! Schaffen wir die Zwangsarbeit ab! Ich rief zum Streik auf.“5
In den großen, dichten Bergwäldern des Ostens entstanden zwei von der Guerilla kontrollierte Zonen, die sich rasch ausdehnten. Hier entstanden mehrere „Armeen“, unter Führung von eigenen „Generälen“ und je einem „Kriegsminister“ – ausgemusterte Militärs, die die Rebellen und zahlreiche mpanjaka (traditionelle Führer) ausbildeten.
Im April landete ein französisches Expeditionskorps von 18000 Mann, das später auf 30000 anwuchs. Erst nach einem Jahr war der nationalistische Widerstand niedergeschlagen. 21 Monate nach Beginn des Aufstands kamen die letzten überlebenden Rebellen aus den Wäldern – ausgehungert, ohne Waffen, ohne Führer. „Sie wollten alle Kader umlegen“, erzählt Gisèle Rabasahala, zu dieser Zeit Sekretärin der französischen Rechtsanwälte der MDRM und später Vorsitzende des Komitees zur Verteidigung und Rehabilitierung der Gefangenen. „Es reichte, eine Hose und Schuhe zu besitzen, um verdächtig zu sein.“ Jacques Tronchon bestätigt: „Zuerst haben sie alle umgebracht, und dann, als sich nichts mehr regte, von Befriedung gesprochen.“ Nach Angaben des Generalstabs, die Tronchon für zuverlässig hält, wurden bei der „Befriedung“ 89000 Menschen umgebracht, durch Folter, Massenhinrichtungen, Zwangsumsiedlungen und Niederbrennen von Dörfern. Vor dem französischen Parlament hatte der Hochkommissar de Chevigné von 90000 bis 100000 Toten gesprochen.
Für viele Madegassen hatte die Niederschlagung noch weitere Folgen. Denn die französische Armee testete gerade neue Techniken des Kolonialkrieges, insbesondere der psychologischen Kriegsführung. Schon bei der Eroberung Madagaskars 1895 hatten die Franzosen einen Teil ihres neuen Waffenarsenals getestet, zwanzig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, und schon damals waren die Generäle Gallieni, Joffre und Lyautey dabei, die späteren „Sieger der Schlacht an der Marne“.
Die Aufständischen haben den Tod von 550 Europäern und ungefähr 1900 Madegassen zu verantworten. In den ersten Wochen ihrer Rebellion lieferten sich auf einem Nebenschauplatz die Nationalisten und einige Mitglieder der PADESM (Partei der Enterbten Madagaskars) eine blutige Fehde. Diese von der Kolonialverwaltung unterstützte Bewegung, die sich aus mainty (Schwarzen) und Nachkommen der Sklaven auf den Hochebenen sowie aus Bewohnern der Küstenprovinzen rekrutierte, warf der MDRM vor, „die Rebellion anzufachen, um die alte Monarchie und die Hegemonie der Howa wieder herzustellen.“6
Die drei Abgeordneten aus Madagaskar wurden verhaftet. Im Prozeß wurde die These einer Polizeiprovokation verworfen und der Aufstand als von der MDRM organisiertes Komplott dargestellt. Die Abgeordneten wurden zum Tode verurteilt (und später begnadigt), die Bewegung löste sich auf. Wie in Indochina und Algerien wurde auch in Madagaskar jeder Kontakt mit den Nationalisten abgebrochen. Sechs Jahre später erlebten die Franzosen die Niederlage von Dien Bien Phu in Indochina – und den Aufstand am Roten Allerheiligen in Algerien.
dt. Christiane Kayser