Eine Jugend in Polen
FÜR seinen ersten Roman, „Fräulein Niemand“1 , hatte der polnische Drehbuchautor und Filmemacher Tomek Tryzna wohl kaum mit einem solch großen Erfolg gerechnet, wie er ihm in seinem eigenen Land, aber auch im Ausland zuteil werden sollte. In Polen hat der Regisseur Andrzej Wajda daraus seinen neuesten Film gemacht. Und das Buch ist bereits in zwölf Sprachen übersetzt worden: in den Niederlanden tauchte es sogar auf der Bestsellerliste des Jahres 1996 auf.
Sowohl der Roman, der nach seinem Erscheinen in Polen zunächst in der Jugendbuchabteilung landete, als auch sein Autor, ein Debütant von siebenundvierzig Jahren, wurden der breiten Öffentlichkeit erst mehrere Monate später, im Juni 1994, vorgestellt. Der polnische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz griff damals zur Feder, um „Fräulein Niemand“ in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza als „den ersten echten postmodernen Roman Polens“ vorzustellen. Die Lektüre dieses Buches, so fügte hinzu, sollte „den über Vierzigjährigen“ vorbehalten bleiben, „dem Alter, in dem einst die frommen Juden endlich das Recht hatten, das Buch der Kabbala zu lesen“.
Es handelt sich um den inneren Monolog einer Fünfzehnjährigen. Während sie noch aus der Welt der Kindheit in die der Erwachsenen übertritt, verliebt sich Marysia bis an den Rand des Wahnsinns. In der Leidenschaft entdeckt sie die Perversität und Brutalität extremer Gefühle. Zum Ausdruck kommt auch die Zerrissenheit eines naiven „Provinzmädchens“, das sich, nach einer Kindheit auf dem Land, plötzlich in einer Sozialwohnung in Walbrzych, einer Bergbaustadt im Südwesten Polens, wiederfindet. Alle ihre Orientierungspunkte gehen, einer nach dem anderen, verloren, bis am Ende nur noch Zynismus und schließlich das Nichts übrigbleibt.
„Das ist es also, erwachsen zu sein. Meine eigene Entscheidung. Ich habe intelligent entschieden. Ich konnte nicht anders. Und ich werde mich mein Leben lang so entscheiden. Ich werde zusehen, wie die Bösen die Guten zerstören, ohne einen Finger zu rühren“, versucht Marysia am Schluß des Romans sich selbst zu überzeugen.
GLEICHWOHL ist „Fräulein Niemand“ keine psychologische, ja nicht einmal eine soziologische Fallstudie, sondern eher eine Art „Märchen“ für Erwachsene, dessen Traum- und Phantasieanteil die Erzählung zu einem literarischen Werk macht. Die einfache, ja mitunter kindliche Ausdrucksweise, die Tomek Tryzna gewählt hat, um im Hintergrund die letzten Jahre eines kommunistischen Polen zu beschreiben, spiegelt, so Czeslaw Milosz, die besondere Weltsicht dieses Volkes wider, allerdings vereinfacht bis zur Karikatur.
Der Autor von „Verführtes Denken“ und „Tal der Issa“ hat sich für „Fräulein Niemand“ interessiert, weil, wie er sagt, „Tomek Tryzna vermutlich ein guter Mensch ist, voller Anteilnahme für die Leute, besonders gegenüber den Jugendlichen, die sich selbst kennen und leben lernen müssen – und das heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wo hinter bunten Kleidern, Neonreklamen und glänzenden Autos das Nichts mit den Zähnen knirscht.“
Der Autor wird übrigens versuchen, seine Heldin vor dem Abgrund zu retten, auf den sie zutreibt, doch vergebens. Mitten auf einer mondänen Cocktailparty, wo die Männer Amerikanisch sprechen und schön sind wie in einem Katalog, „steht ein einziger Typ, der nicht näherkommt. Er bleibt unter der Palme, ein blasser, verschreckter Typ im grauen Pulli, ohne Armbanduhr. Ein Typ mit Brille, auch das noch. Oh! kein Zweifel, ein Pole! [...] – Marysia, sagt er leise, ich will dir helfen. [...] – Flieh, Marysia, ich habe ein Fahrrad.“
ELISABETH KULAKOWSKA