Der Front National entdeckt den Arbeitskampf
DASS es dem Front National am 9. Februar gelang, bei den Kommunalwahlen in Vitrolles die absolute Mehrheit zu erringen und damit die vierte Stadt in Frankreich zu erobern, bedeutet einen persönlichen Sieg für den stellvertretenden Parteiführer Bruno Mégret. Ihm ist es zu verdanken, daß die Partei der extremen Rechten, die über eine solide Basis in der Bevölkerung verfügt, sich neuerdings den sozialen Problemen widmet. Dem zweiten Mann in der Partei und seiner Gefolgschaft aus Funktionären, die sich der neuen Rechten zuordnen, scheint es zu gelingen, auf dem alten reaktionären Fundament der Bewegung moderne faschistische Strukturen zu errichten – ein Vorhaben, das dem Front National neue Wählerschichten erschließen und ihn beim nächsten Urnengang zu einer ernsten Bedrohung für die etablierten Parteien werden lassen könnte.
Von JACQUES BREITENSTEIN *
Bei der großen Gewerkschaftskundgebung am 22. Oktober 1996 in Paris befand sich unter den Teilnehmern auch eine Gruppe von 200 Pensionären, die sich von den übrigen Demonstranten nur durch ihre Transparente unterschied: Da es sich um Mitglieder der Nationalen Vereinigung der Rentner und Frührentner (CNPR) handelte, die dem Front National (FN) nahesteht, trugen sie dessen Farben. Auch sie waren angetreten, die Renten der Arbeiter zu verteidigen – allerdings die der französischen Arbeiter. Sie wurden von Anhängern der Gewerkschaft und der antifaschistischen Bewegung Ras l'front abgefangen und an der Teilnahme gehindert.
Seit einigen Monaten ist der Front National bemüht, auf diesem Terrain Flagge zu zeigen: In seiner Propaganda tauchen immer häufiger soziale Probleme als „Fragen von nationaler Tragweite“ auf. Nachdem er eigene Gewerkschaftsorganisationen gegründet und auch schon versucht hat, den 1 . Mai für seine Ziele zu vereinnahmen, wendet er sich nun den französischen Arbeitnehmern zu, deren Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden sollen, den französischen Arbeitslosen und den französischen Obdachlosen. So zeigte sich Bruno Mégret, einer der Führer der FN, vor den Werkstoren von Moulinex in Mamers (Departement Sarthe) und verteilte Flugblätter gegen die Entlassungen und gegen „die traditionellen Gewerkschaften, die sich zu Komplizen dieses Zerstörungswerks machen“. Seit dem sozialen Aufbegehren vom November 1995 schien der Front National auf Tauchstation, doch nun entfaltet er Aktivitäten, wie man sie seit 1945 bei der extremen Rechten nicht erlebt hat. Es fragt sich also, wie es ihm gelungen ist, sich mit solchem Nachdruck in diesem für ihn neuen Bereich zu etablieren.
Auf eines konnte man sich bei der Partei von Jean-Marie Le Pen stets verlassen – auf ihre feindselige Haltung gegenüber den Gewerkschaftsorganisationen mit ihren „parasitären“ Strukturen. Man warf ihnen vor, sie würden „über Einfluß und Privilegien verfügen, die in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Anhängerschaft stehen“, und nicht die Interessen der französischen Arbeiter verteidigen.1 Als Ministerpräsident Juppé im Herbst 1995 die Pläne der Regierung zur Reform der Sozialversicherung vorlegte, konnte der Front National sich also guten Gewissens mit beiden Konfliktparteien anlegen: Die Gewerkschaften beschuldigte man, gemeinsam mit den Einwanderern für die „Plünderung“ der Staatskassen verantwortlich zu sein, während man der Regierung vorhielt, sich die Bevormundung durch die Gewerkschaften und die „Einwanderer- Lobby“ gefallen zu lassen.2 Anfang Dezember 1995 wartete der FN mit einer eigenen Analyse zur politischen und sozialen Lage auf – übrigens seine einzige Stellungnahme zur damaligen Situation.3 Jean-Marie Le Pen verurteilte „die selbstmörderischen und verantwortungslosen Aktionen der Gewerkschaften, die ohne Rückhalt in der Bevölkerung sind und das soziale Ungleichgewicht zwischen öffentlichem und privatem Sektor vertiefen, mit dem Ziel, die bestehenden Privilegien und Kräfteverhältnisse zu erhalten“. Er forderte „die Beendigung der Streiks (jeder weitere Streiktag ist ein Schlag gegen Frankreich) und sofortige Neuwahlen“. Nebenbei deckte er auch eine Verschwörung auf: „Man muß nicht lange suchen, um die Urheber der Straßenunruhen ausfindig zu machen: Sie sind das Ergebnis subversiver Machenschaften linksextremer Gruppierungen.“
Im gleichen Tenor wurde im November und Dezember auch vom National Hebdo, der Wochenzeitung des FN, unumwunden gegen die „Privilegien“ der Streikführer polemisiert: „Die Eisenbahner sind fähige und anständige Leute, aber bei ihrem Kampf geht es vor allem um Privilegien. (...) Die gegenwärtigen Rechte der Eisenbahner sind heute nicht mehr vertretbar.“4 – „Fünf Stunden im Stau (...), das werden die Arbeiter nicht lange mitmachen, auch wenn ein paar Privilegierte da anderer Meinung sind – und bei den Funktionären des Streiks handelt es sich um Privilegierte.“5 Ende November wirkten derartige Einschätzungen schon leicht absurd, etwa als in einem sozialpolitischen Kommentar der rechten Wochenzeitung behauptet wurde: „Mit einer Handvoll Funktionäre gelingt es einigen Organisationen, die nicht den Willen der Mehrheit vertreten, ein ganzes Land lahmzulegen“, um daraus den Schluß zu ziehen: „Am Ende erleben wir noch einen Generalstreik, der ganz oder doch fast ohne Streikende auskommt.“6
Bald machte sich jedoch ein Problem bemerkbar: Offenbar erfaßte die Sympathie für die soziale Bewegung auch jene Beschäftigten, die zur Wählerschaft des Front National gehören: „Man hält uns vor, daß viele Wähler und Anhänger des FN mitgestreikt haben. Ich meine, es ist unsere Pflicht, ihnen klar zu machen, wie sie dabei hinters Licht geführt werden.“7 Als sich jedoch abzuzeichnen begann, in welchem Ausmaß der Streik Unterstützung fand, konnten solche pädagogischen Bemühungen nicht mehr ernst genommen werden. Die christliche Wochenzeitung La Vie hat später in einer Umfrage festgestellt, daß 65 Prozent der Wähler Le Pens sich den Streikenden verbunden fühlten – auch ein Beleg dafür, wie stark der FN in den unteren Schichten verankert ist.8
Ab Dezember 1995 wechselte man die Taktik. Plötzlich war nicht mehr vom „Streik ohne Streikende“ die Rede, sondern von dem Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmern – „Dem [Arbeitgeberverband] CNPF ist die CFDT heute lieber als die FO“ – und von den möglichen Konflikten innerhalb der Gewerkschaftsverbände, die mit „driftenden Eisbergen“ verglichen wurden. Eine neue Sicht der Dinge also: „Man sollte nicht vergessen, daß es auch noch unabhängige Gewerkschaften gibt, deren Handlungsmöglichkeiten und künftige Entwicklung sicherlich von ihrer Haltung gegenüber der nationalen Bewegung abhängen werden. Im Bereich der sozialpolitischen Organisationen ist heute nichts mehr undenkbar.“9
Rechte Hoffnungen auf die Revolution
DER Front National sah sich also aus Rücksicht auf seine Anhängerschaft in der breiten Bevölkerung und auf die Entwicklungen im Bereich der Gewerkschaften zu einer Umorientierung veranlaßt. Allerdings fehlte es an Verständnis für die soziale Bewegung – hier kam ihm die neue Rechte zu Hilfe, deren organisatorischen Kern der Verband für Erforschung und Untersuchung der Europäischen Kultur (Grece) bildet. So antwortete etwa Pierre Vial, langjähriger Führer der neuen Rechten und Mitglied des Politbüros des FN, auf einen kritischen Leserbrief zu seinem Artikel10 , in dem er den Oberst Louis Rossel verteidigt hatte (der sich 1871 der Pariser Commune anschloß), er „bleibe bei dieser Position. Und zwar aus einem einfachen Grund: Als Nationalist bin ich nicht bereit, der alten Trennung in Rechts und Links zu folgen (...). Und als Nationalist weiß man, daß der Hauptfeind der Liberalismus ist, der prinzipiell und zwangsläufig kein Vaterland kennt. 1871 trug dieser Liberalismus den Namen Thiers.“ Abschließend meint Vial, die Commune habe sich „ein Verdienst erworben, das vor der Geschichte Bestand hat: Ihr ist der Brückenschlag zwischen Volk und Nation gelungen“.
In der Zeitschrift Eléments11 befaßt sich Alain de Benoist, der „Papst“ der neuen Rechten, mit der sozialen Bewegung. Er kommt zu dem Schluß, das Ausmaß des Aufbegehrens und seine breite Unterstützung durch die Öffentlichkeit seien nicht zu erklären, wenn man darin nur eine ständische Protestbewegung gegen den Abbau von Privilegien sieht. In Wahrheit habe hier der „Geist der Revolte“ in einem Widerstand Gestalt angenommen, der gegen die verheerenden Folgen des Liberalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung gerichtet sei; man spüre die „wachsende Abneigung der gesamten Gesellschaft gegen die Eliten, vor allem gegen eine politische Klasse (...), die den internationalen Finanzmärkten in die Hände arbeitet. (...) Die Franzosen empfinden die Art, wie sie regiert werden, als zutiefst unrechtmäßig.“ Benoist befaßt sich nicht nur mit der „paralysierten liberalen Rechten und der etablierten Linken, die bereits begonnen hatte, den Juppé- Plan zu unterstützen (...) und nun völlig sprachlos war“, sondern übt auch scharfe Kritik an den Positionen des Front National: „Was die reaktionäre Rechte betrifft, die sich an ihre Verschwörungsphantasien klammert („trotzkistische Machenschaften“) und an ihr unverwüstliches Repertoir an spießig reaktionären Ausfällen gegen den öffentlichen Dienst, das Finanzamt, das Arbeitslosengeld und die Sozialversicherung, so hat sie nur einmal mehr gezeigt, daß ihr sozialpolitische Fragen völlig gleichgültig sind. Die Verfechter der ,nationalen Identität‘ haben es in dieser Angelegenheit sorgfältig vermieden, den Franzosen zur Seite zu stehen.“ Der Autor hebt hervor, daß es keiner der politischen oder gewerkschaftlichen Kräfte gelungen sei, dieser machtvollen Bewegung eine Perspektive zu geben: „Weder die Streikenden selbst noch die Gewerkschaften oder die Politiker haben versucht, diese Ablehnung auf einen allgemeinen Nenner zu bringen oder sie in ein überzeugendes soziales und kulturelles Programm für die Zukunft umzusetzen.“ Daraus müsse man letztlich schließen: Wenn die Arbeit keine Gemeinsamkeit der Interessen mehr stiftet, dann „gibt es das ,Volk‘ im proletarischen Sinne des Wortes nicht mehr. Das soziale Aufbegehren hat jedoch deutlich gemacht, daß ein neuer Volksbegriff formuliert werden muß.“ Man kann sich denken, auf welchen Grundlagen diese neue „Volksgemeinschaft“ beruhen würde.
Auch Réfléchir et agir, eine Zeitschrift aus dem Umfeld der neuen Rechten, die mit ihrem nationalrevolutionären Pathos auf die jungen Radikalen aus der Jugendorganisation des Front National zielt, wandte sich gegen die Haltung des FN im November und Dezember 1995. „National Hebdo, das Sprachrohr der reaktionären Rechten im FN, hat uns während der Streiks nicht mit seinen groben und völlig überholten Einschätzungen verschont. (...) Der FN verlangte von den Machthabern, die Massen zum Schweigen zu bringen und die Streiks zu zerschlagen. (...) Hat der FN vergessen, daß gerade in der breiten Bevölkerung die Zahl seiner Anhänger zunimmt? (...) Wenn es sich um politische Streiks handelte“, dann hätte man an ihnen teilnehmen müssen, und „wenn der FN eine soziale Bewegung sein will, dann muß er auch auf die Straße gehen, um soziale Forderungen zu vertreten.“12 Der Weg für neue Aktionsformen ist frei: „Mit der Gründung einer Polizeigewerkschaft, die vielversprechende Ansätze zeigt (...), hat der FN endlich beschlossen, auch in der Arbeitswelt organisatorisch Fuß zu fassen und seine eigenen Gewerkschaften aufzubauen. Eine FN- Gewerkschaft für die Pariser Verkehrsbetriebe (RATP) wird schon bald entstehen.“
In einem Interview mit Le Monde setzte Bruno Mégret am 13. Februar 1996 dem Zickzackkurs ein Ende, den der Front National in seiner Bewertung der sozialen Bewegung eingeschlagen hatte. Seine Äußerungen orientierten sich deutlich an den Positionen der neuen Rechten. „Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation“, erklärte er, denn es bestehe „ein Bruch zwischen dem Volk und den staatlichen Eliten, vor allem in bezug auf die politische Klasse – das hat die soziale Bewegung vom vergangenen Herbst eindeutig gezeigt.“ Diese Bewegung sei „mehr als der herkömmliche Konflikt zwischen der Regierung und den Gewerkschaften, die von den Parteien der Linken gestützt werden. Vielmehr war sie Ausdruck einer tiefen Beunruhigung, die die gesamte Arbeitswelt beherrscht, und ihrer Befürchtungen angesichts des Stabilitätsverlusts unserer Wirtschaft, der mit Maastricht und der Globalisierung verbunden ist. Es ist kein Zufall, daß die größten Demonstrationen dort stattfanden, wo es auch beim Maastricht-Referendum die meisten Neinstimmen gab.“ Ungerührt behauptet Mégret: „Wir haben die allgemeine Unzufriedenheit damals sofort begriffen und diese Tendenz unterstützt.“ Und „damit es zu einer großen Umwälzung kommt“, müsse zu dem vorhandenen Bruch zwischen Volk und politischer Führung ein allgemeiner Wunsch nach Veränderung treten; sind beide Bedingungen erfüllt, dann fehle nur noch eines: „das Auftreten einer alternativen Kraft“. „Diese Alternative zu bieten, ist die große Aufgabe, die sich dem Front National stellt.“
Innerhalb von nur zwei Monaten gelangte der Front National somit zu einer völlig neuen Bewertung der sozialen Bewegung im Herbst 1995. Dieser plötzliche Umschwung ist nur zu verstehen, wenn man die Anstrengungen in Betracht zieht, die innerhalb der Partei unternommen worden waren, um dem FN „zu einer theoretisch schlüssigen Weltanschauung zu verhelfen“13 – mithin den Plan, eine moderne faschistische Organisation zu schaffen. Daß es zu dieser Wende, zum Entwurf eines echten national-sozialistischen Konzepts kommen konnte, ist vor allem das Werk des Führungskreises um Bruno Mégret. Viele dieser Funktionäre kommen aus den Reihen der neuen Rechten, sie setzten schon 1992 mit ihren einundfünfzig sozialpolitischen Thesen ein Zeichen für die Abkehr vom 1985 beschlossenen ultraliberalen Wirtschaftsprogramm der Partei.
Auf die Ankündigungen Bruno Mégrets folgten Taten: Im Februar 1996 wurde die Gewerkschaft FN-RATP zugelassen, im Mai die FN-TCL (Verkehrsbetriebe von Lyon), im September schließlich die FN-Pénitentiaire (Personal der Strafvollzugsanstalten). Auch die Bewegung für ein nationales Bildungswesen (MEN) wurde reaktiviert. Inzwischen besteht eine Aufbauorganisation im Bereich „Verteidigung“, die unter dem Titel „Rettet unsere Rüstungsindustrie“ ein Informationsblatt über die Grundlagen der Rüstungsplanung herausgibt. Flugschriften einer FN-Organisation bei der Post machen den Gewerkschaften den Vorwurf, „nur so zu tun, als kämpften sie gegen die Privatisierung der Post“. Aber der Front National will sich nicht auf die Gründung neuer Einzelgewerkschaften beschränken, sondern plant, seine Aktivisten in einem „Gewerkschaftsbund“ (Cercle national des travailleurs syndiqués) zu organisieren. In seiner Rede zum 1. Mai 1996 würdigte Jean-Marie Le Pen den „ausdauernden Kampf der Arbeiter“14 . In der Sozialpolitik ist eine neue Mannschaft an den Start gegangen.
dt. Edgar Peinelt
* Gewerkschafter