14.03.1997

Erst ausgegrenzt und dann vertrieben

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Erst ausgegrenzt und dann vertrieben

Seit den jüngsten Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und im Kaukasus spricht man wieder von „ethnischen Säuberungen“. Zu den abscheulichsten Fällen „ethnischer Säuberung“ zählt in diesem Jahrhundert der Genozid an den europäischen Juden und Roma sowie der an den Armeniern. Einen Vorläufer solcher Verfolgungen gab es bereits 1609 in Spanien, als die dortige muslimische Bevölkerung vertrieben wurde.

Von RODRIGO DE ZAYAS *

DER Engländer Sir Richard Fox Vassal, zweiter Lord Holland (1773-1840), war reich und berühmt, was ihn jedoch nicht vor gesundheitlichen Problemen bewahrte. Im Jahre 1802 riet ihm sein Arzt zu einem Erholungsaufenthalt in einem trockenen und gesunden Klima. Sir Richards Wahl fiel auf Madrid, wo er sich mit Sack und Pack niederließ. Innerhalb von zwei Jahren lernte der junge Lord Spanisch und widmete sich der Suche nach Manuskripten für die Bibliothek von Holland House, dem imposanten Familienanwesen, das man noch heute in London bewundern kann. Im Jahre 1804 kaufte er von einem gewissen Don Isidoro de Olmo ein Bündel handschriftlicher Dokumente und erwarb auf diese Weise die Geburtsurkunde des ersten rassistischen Staates der modernen Geschichte.

Zwar war Lord Holland ein intelligenter und kultivierter Mann, doch entging ihm die ganze Tragweite der Dokumente, die er nach London mitnahm. Er vermerkte lediglich auf dem Deckblatt des Bündels, es handele sich um „Schriftstücke, Aufzeichnungen und Briefwechsel betreffs der spanischen Morisken, datiert auf die Jahre 1542-1610“. „Zum Teil sind es Abschriften“, bemerkte er, „zum Teil Originale, darunter einige Briefe von Gonzalo Pérez (dem Vater des berühmten Antonio)1 an Philipp II. mit den Randbemerkungen des Monarchen, die seine Antworten darstellen.“

Am 21. November 1989 kamen die gesamten Dokumente in London zur Versteigerung, gegenwärtig befinden sie sich unter dem übergreifenden Titel „Sammlung Holland“ in meinen Archiven in Sevilla. Ein eingehendes Studium dieser Sammlung enthüllt die Einzelheiten einer Debatte, die in den allerhöchsten Kreisen des spanischen Staates um die Frage der zwangskonvertierten spanisch-muslimischen Minderheit, der sogenannten Moriscos, geführt wurde. Das soziale und politische Problem, das diese Minderheit aufwarf, war das der meisten Minderheiten: eine von der Mehrheit beargwöhnte Andersartigkeit.

Diese Andersartigkeit betraf zunächst nur die Religion, denn die Morisken blieben verkappte Muslime. Hinzu kamen aber auch sprachliche und soziale Aspekte, denn sie bemühten sich, ihre Sprache (das Arabische) ebenso zu bewahren wie ihre Art sich zu kleiden und ihre Ernährungs- und Hygienegewohnheiten (sie aßen kein Schweinefleisch und wuschen sich häufig, Dinge, die von den Christen jener Zeit nicht wohlgelitten waren); auch hielten sie an ihren Feiertagen fest. Ihre Andersartigkeit, deretwegen die Morisken als „Agenten des feindlichen Auslands“, als geheime Verbündete des osmanischen Reiches, verdächtigt wurden, machte sie in augenfälliger Weise zu „einer Bedrohung für die christliche Republik“.

Langsame Durchsetzung rassistischer Kriterien

SPANIEN besaß seit Einführung der (von Rom unabhängigen) staatlichen Inquisition (1481-1483) durch die Katholischen Könige ein normatives, vereinheitlichendes religiöses Sendungsbewußtsein. Das heißt, es gab in Spanien eine „Moriskenfrage“, die durch ihre Voraussetzungen und Folgen in vieler Hinsicht an die „Judenfrage“ der dreißiger und vierziger Jahre gemahnt.

Das Besondere an der Sammlung Holland besteht darin, daß sie dokumentiert, wie ein sektiererischer Staat, in dem sich die Mitglieder einer religiösen Minderheit durch Konvertierung in die Gesellschaft integrieren konnten, in einen rassistischen Staat übergeht, in dem dieselbe Minderheit unabhängig von allen religiösen Gesichtspunkten zum Opfer staatlicher Verfolgung wurde.

Der erste Schritt auf dem Weg zu einem rassistischen Staat war eher unauffällig und liegt zeitlich jedenfalls vor den ältesten Dokumenten der Sammlung: Im Jahre 1535 forderte das Domkapitel zu Córdoba vom Papst, die Einführung der „Blutreinheit“ (limpieza de sangre) als Bedingung für die Besetzung einer bezahlten Stellung innerhalb des Kapitels zu genehmigen. Der Papst lehnte ab, doch das Kapitel von Córdoba wandte sich hilfesuchend an Kaiser Karl V. Dem gefiel die Idee so gut, daß er Druck auf den Papst ausübte, damit eine solche Vorbedingung im ganzen Reich zur Anwendung käme. Paul III. mußte schließlich nachgeben: Jeder, der in Spanien einen bezahlten Posten erhalten wollte, mußte fortan nachweisen, daß es in seiner Familie seit mindestens vier Generationen keine jüdischen oder muslimischen Vorfahren gab. Diese Verpflichtung erhielt Gesetzesrang, war nur unter der Regierung von Joseph Bonaparte (1808-1812) für kurze Zeit außer Kraft gesetzt und wurde erst am 13. Mai 1865 ganz aufgehoben.

Im Falle der Juden oder Marranen beispielsweise war der spanische Staat zu der Auffassung gelangt, es gebe „einen Konflikt zwischen der nationalen Tradition [...] und einer nicht assimilierbaren jüdischen Tradition“; „und aus dieser Einsicht ist darauf zu schließen, daß ein jeder jüdisch ist, der durch eindeutige Anzeichen oder aufgrund ausreichend schwerwiegender Vermutungen das Vorhandensein oder Fortbestehen der jüdischen Tradition zu erkennen gibt.“

Ob jüdische oder muslimische Tradition, fällt nicht ins Gewicht – es handelte sich um ein und dasselbe Problem. Die oben zitierten Äußerungen stammen von dem Pétain-Anhänger Xavier Vallat, der sie nach 1945 in seinen Memoiren veröffentlichte.2 Nur war Vallat weniger anspruchsvoll als seine spanischen Vorgänger: er begnügte sich mit zwei nichtjüdischen Großeltern, damit ein Bürger als „guter Franzose“ gelten konnte.

Offensichtlich war in Spanien vor 1865 die „Blutreinheit“ an den Nachweis von vier „unverseuchten“ Generationen gebunden. Es ist erstaunlich, wie stark sich derartige Vorstellungen erhalten. Xavier Vallat war ein guter Katholik und über jeden Verdacht erhaben, mit den Nazi- Besatzern unter einer Decke gesteckt zu haben – was während seines Prozesses 1947 vor dem Obersten Gerichtshof durch die Zeugenaussage eines jüdischen Arztes, Gaston Nora, bestätigt wurde.

Für die Zeit Karls V. läßt sich noch nicht von „staatlichem Rassismus“ sprechen, weil es beim obligatorischen Nachweis der „Blutreinheit“ noch ausschließlich um religiöse Fragen ging. Jude oder Muslim war, wer seinen Glauben praktizierte. Man könnte allenfalls einwenden, daß Religionen nicht durch das Blut, also genetisch, übertragen werden; doch haben wir es hier noch mit einem Fall von Verwirrung oder einem Fehlurteil zu tun, mit den Auswüchsen eines von den Katholischen Königen geschaffenen staatlichen Sektierertums.

Gleichwohl sind diese Auswüchse bezeichnend: Die Dokumente der Sammlung Holland aus der Regierungszeit Philipps II. definieren die moriskische Minderheit neu. Fortan ist von einem „Volk“ die Rede. Was aber heißt „Volk“ im Spanien des 16. Jahrhunderts? Im weitesten Sinne jede deutlich unterschiedene Gemeinschaft. So gab es in Spanien eine große Zahl überzeugter Katholiken, die als Angehörige des „Volkes der Morisken“ eingestuft wurden.

Die „Blutreinheit“ führte zu einem neuen Sammelbegriff, der ebenso absurd war wie die Definition des Judentums als einer „Rasse“. Von diesem Moment an waren die herrschenden Instanzen des Landes – der Hohe Rat der Inquisition, der Staatsrat, der Finanzrat und die Generalstände von Kastilien und Aragon, von den führenden Kirchenvertretern ganz zu schweigen – der einhelligen Ansicht, daß mit dem „moriskischen Volk“ aufgeräumt werden müsse.

Nur über die Radikalität der Maßnahmen, durch die sich der Staat seiner entledigen sollte, gingen die Meinungen auseinander: durch systematische Vernichtung, Deportation oder zwangsweise Assimilierung unter strenger Überwachung.

In fünf Dokumenten der Sammlung Holland wird ausdrücklich der Völkermord an den Morisken empfohlen, sei es durch Erhängen oder durch Zwangsarbeit in den Bergwerken Amerikas und auf den Strafgaleeren, um ihnen jede Möglichkeit zur Fortpflanzung zu nehmen. Diese Lösung, die zu jener Zeit kaum oder gar nicht durchführbar war, wurde von den spanischen Königen durchweg abgelehnt. Die beiden anderen Vorschläge hingegen wurden in die Tat umgesetzt: Während Philipp II. stets für eine Assimilierung eintrat, unterstützte Philipp III. (1598-1621) – wie später Philippe Pétain und Xavier Vallat – die Befürworter einer Deportation.

Ökonomisch vorteilhaft

WIRTSCHAFTLICHE Erwägungen spielten bei den schließlich getroffenen Entscheidungen keine geringe Rolle: Für Philipp II. waren die Einkünfte aus dem Zehnten, der den Morisken abverlangt wurde, ein gewichtiges Argument dafür, sie im Lande zu halten. Und alle profitierten davon: der Staat, die Kirche und die mit der Steuereintreibung betrauten Feudalherren, die im wesentlichen die säkularen Ratsgremien (Ministerien) des Staates bildeten.

Philipp II. war ein kluger und realitätsnaher Monarch: Er zeigte sich nicht unempfänglich für die Forderungen des Adels, dessen Interessen denen der Inquisition diametral entgegengesetzt waren. Er wartete ab, überließ die Angelegenheit seinen Ausschüssen, kurz, er spielte auf Zeit, während die Morisken bezahlten. Ihre Rebellion im ehemaligen Königreich Granada (1568-1571) wurde niedergeschlagen und die Aufständischen in andere Landesteile verschleppt. Sie blieben in Spanien und bezahlten weiterhin ihre Abgaben, wenngleich in geringerem Umfang, weil das Seidenhandwerk in Granada, ihr einträglichster Erwerbszweig, zum Erliegen kam. Doch weiterhin waren sie Meister im Anbau von Früchten und Gemüsen in den Gebieten, die sie seit Generationen bearbeitet und künstlich bewässert hatten.

Bei Philipp III. lagen die Dinge jedoch anders. Dieser König besaß weder die Intelligenz noch die Willenskraft seines Vaters. Er legte die Regierungsgeschäfte in die Hände eines valencianischen Günstlings, dem Marqués de Denia, den er erst zum Herzog von Lerma, später zum Kardinal machte. Seit 1608 bekleidete des Herzogs Onkel väterlicherseits den Posten des Großinquisitors. Die Forderung nach Vertreibung der Morisken, die vor allem die Parteigänger des Herzogs von Lerma unterstützten, besaß auch einen wirtschaftlichen Vorteil: Die Einkommensverluste, hieß es, würden durch die Gewinne aus der Konfiszierung des muslimischen Besitzes mehr als aufgewogen (in Berlin wie in Vichy nannte man das später die „Arisierung“ jüdischen Eigentums).

Am 22. September 1609 unterzeichnete König Philipp III. einen Erlaß, der die Entstehung des ersten rassistischen Staates in der modernen Geschichte ratifizierte. Von diesem Zeitpunkt an war den Angehörigen des „moriskischen Volkes“ der Aufenthalt im Gebiet der spanischen Krone bei Todesstrafe untersagt. Für diesen Erlaß war selbstverständlch in erster Linie nicht der König verantwortlich, sondern der Herzog von Lerma.

Vordenker des rassistischen Staates war der Dominikaner Fray Jaime Bleda aus Valencia, ein Mitglied des dortigen Inquisitionstribunals und der Autor eines Buches, in dem er sein Theoriegebäude entwarf und den Nachweis führte, daß die Ausschaltung der Morisken eine „unabdingbare Notwendigkeit“ sei. Das Buch erwies sich jedoch für den König als schwer verständlich, weshalb ein Bleda nahestehender Dominikaner, Fray Luis Beltrán, eine vereinfachte Zusammenfassung anfertigte.

Dieses Dokument, das in der Sammlung Holland die Nummer 40 trägt, überzeugte den König, die Entscheidung zu treffen. Der Herzog von Lerma hatte gesiegt: 500000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – wurden außer Landes geschafft, mindestens 75 Prozent von ihnen blieben auf der Strecke. Der gesamte Besitz dieser Unglücklichen ging in das Eigentum des Herzogs von Lerma und seiner Gefolgsleute über. Das Vermögen des Herzogs allein überstieg fortan bei weitem die Rücklagen der Staatskasse, die sich im übrigen ebenfalls in seinen Händen befand.

In dieser Zeit lebten in Spanien, das in Europa damals die militärische und politische Vorherrschaft besaß, noch 8 Millionen Menschen – ein deutlicher Hinweis auf einen der wesentlichen Gründe für den späteren Niedergang und Ruin des Landes: Die Landwirtschaft ganzer Regionen verödete, die Anbauflächen lagen brach. Blühende Berufszweige verschwanden von der Bildfläche: die Fuhrleute, die Maurer, die bedeutenden Pferde- und Maultierzüchter, die Baumeister der hydraulischen Bewässerungssysteme und die Gemüsebauern waren alle Morisken gewesen. Die rasante Inflation des 17. Jahrhunderts, mehrere Epidemien, die Korruption der Verwaltung, die Nachlässigkeit und Raffgier des Herzogs von Lerma sowie die unablässigen Kriege taten ihr übriges, um Spanien in die dunkelste Phase seine Geschichte zu stürzen.

Das heutige Spanien ist mit der Unterzeichnung des Schengener Abkommens zum Hüter der Grenzen Südwesteuropas geworden. Seine Guardia Civil überwacht die andalusische Küste, um zu verhindern, daß Wirtschaftsimmigranten aus dem Maghreb ins Land gelangen. Wie die gewissenlosen Kapitäne, die seinerzeit die Morisken nach Oran verschifften, sie aber auf offener See „ausluden“, um Zeit und Geld zu sparen, transportieren die heutigen Kapitäne regelmäßig Einwanderer aus dem Rif nach Andalusien und setzen sie oft mitten in der Nacht in großer Entfernung zur andalusischen Küste aus. Wenn sie wider Erwarten nicht ertrinken und das Glück haben, das Land zu erreichen, werden sie verhaftet und von der Guardia Civil in Handschellen zurückgeschickt.3

Der Rassismus gegenüber den Roma, der letzten in sich geschlossenen und deutlich abgegrenzten Minderheit, nimmt zuweilen gewalttätige Formen an. Aber Spanien steht in dieser Hinsicht nicht alleine da: Die „ethnischen Säuberungen“, die zwischen 1992 und 1995 von den serbischen und kroatischen Nationalisten an den bosnischen Muslimen verübt wurden, erinnern uns auf tragische Weise daran, daß der rassistische Staat keineswegs einer versunkenen Vergangenheit angehört.

dt. Christian Hansen

* Spanischer Historiker und Schriftsteller, Autor von „Les Morisques et le racisme d‘Etat“.

Fußnoten: 1 Antonio Pérez, Minister von Philipp II. 2 Xavier Vallat leitete vom 29. März 1941 bis zum 19. März 1942 das Generalkommissariat für Judenfragen (CGQJ). Vgl. Michael R. Marrus und Robert O. Paxton, „Vichy et les juifs“, Paris (Calmann-Lévy) 1981. 3 Vgl. Maurice Lemoine, „Le naufragés de la migration vers le Nord“, Le Monde diplomatique, Dezember 1992.

Le Monde diplomatique vom 14.03.1997, von RODRIGO DE ZAYAS