11.04.1997

Die Entzauberung der Evangelien

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Die Entzauberung der Evangelien

URSPRÜNGLICH hatten Gérard Mordillat und Jérôme Prieur den Plan, einen fiktionalen Film über das Turiner Schweißtuch1 zu drehen. Der Abdruck auf dem Laken, die rätselhafte Erscheinung des leidenden Antlitzes und Körpers – dieses Laken, dem viele Menschen sofort nach der Entdeckung huldigten, wohingegen die Kirche zunächst tiefes Mißtrauen hegte, erschien den beiden Regisseuren und Autoren als eine perfekte Metapher des Kinos. Es brachte sie auf den Gedanken, einen Film über das Kino zu drehen, oder vielmehr über das Geheimnis des Bildes.

Dann aber gelangten sie durch ihre Recherchen in völlig neue Gefilde, die sie zu fesseln begannen: die Ursprünge des Christentums. Ausgehend von der Passionsgeschichte in den Evangelien versuchten sie, zu einer Einschätzung darüber zu gelangen, was den möglicherweise historischen Menschen Jesu von der theologischen Gestalt Jesus Christus unterscheidet, wie sie das Neue Testament, aber auch die Vorstellungen der Gläubigen über die Jahrhunderte hinweg geschaffen hatten. War dieser gekreuzigte Körper der eines Gottes, eines Menschen oder doch eher ein Phänomen der Schrift, ein Textkorpus?

Bei der Arbeit der Regisseure handelt es sich um ein ganz und gar säkulares Unterfangen; vorrangig war es ihnen darum zu tun, zwei ihrer Ansicht nach unannehmbare Apriori auszuklammern, die die Auseinandersetzung der Gelehrten solange man zurückdenken kann getrübt haben: einerseits ein „Christozentrismus“, der von der Voraussetzung ausgeht, daß Jesus der Christus, mit anderen Worten der Sohn Gottes ist und daß dies eine unbestreitbare Gewißheit ist; andererseits der „Verdacht der Vorsätzlichkeit“, das heißt, das Vorurteil, demzufolge das Neue Testament ohnehin nur geschrieben bzw. umgeschrieben wurde, um seine Leser zu täuschen und sie der Kirche in die Arme zu treiben.

Mit jedem Tag wurde ihnen deutlicher bewußt, daß hinter der Gewißheit, die diese Texte ausstrahlten, sich in Wirklichkeit eine Ungewißheit verbarg. Daß man nicht einmal wußte, und zweifellos niemals mit Exaktheit wissen würde, wer sie in welcher Sprache, in welchem Land und zu welchem Zeitpunkt geschrieben hat.

SICHER ist nur, daß die Evangelien mehrfach und zu verschiedenen Zeiten überarbeitet wurden. Auch deutet vieles darauf hin, daß die Geschichte von Jesus, trotzdem sie zu einem Gutteil aus Legenden besteht, doch einen historischen Kern besitzt. Aber daß die Texte ungeachtet ihrer Inkohärenzen und Widersprüche überdauern konnten, daß es ihnen gelang, gewöhnliche Leser von ihrer Wahrhaftigkeit zu überzeugen, ohne daß diese Leser in der Lage wären, theologische und historische Teile auseinanderzuhalten, erscheint Gérard Mordillat und Jérôme Prieur als ein Geniestreich und ringt ihnen Bewunderung ab.

„Wir hatten nie die Absicht, uns als die großen Aufklärer aufzuspielen. Wir sind als Historiker und Leser an die Sache herangegangen. Sicher, es war auch unser Wunsch, den Text zu „entzaubern“, aber das sollte nicht alles sein. Es erschien uns wichtig, darüber hinaus zu gehen. Der Versuch, die Wahrheit ans Licht zu bringen, wäre ein zu simples Verfahren gewesen und hätte bedeutet, in dieselbe Falle zu rennen, die schon anderen zum Verhängnis wurde. Wir wissen doch alle, daß es die eine Wahrheit nicht gibt, daß sie niemals schwarz oder weiß ist. Die Wahrheit ist viel komplexer, sie besteht aus vielen kleinen Berührungspunkten. Diese Wahrheit ist es, die uns bei „Corpus Christi“ interessiert hat.“

F. B.

Fußnote: 1 Ende letzten Jahrhunderts enthüllten die ersten Fotografien von einem Tuchstück, dem sogenannten Schweißtuch von Turin, den Abdruck eines Gemarterten, in dem einige Jesus erkennen wollten. Erstmals erwähnt wurde die Reliquie im 14. Jahrhundert in der Abtei von Lirey, nahe Troyes. Die Datierungsanalyse mittels Co14 hatten – ebenso wie die wissenschaftlichen Gutachten – 1988 ergeben, daß es sich bei dem Turiner Schweißtuch um eine Fälschung aus dem 14. Jahrhundert handelt.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von F. B.