11.04.1997

Die Palästinenser von Mindanao

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Die Palästinenser von Mindanao

AM 2. September 1996 unterzeichneten Staatspräsident Fidel Ramos und Nur Misuari, Führer der Moro National Liberation Front, einen Vertrag, der als entscheidende Etappe zur Herstellung des Frieden auf den Philippinen begrüßt wurde. Die Gewalt allerdings hat damit kein Ende gefunden. Am 4. Februar wurde der Bischof von Mindanao, Benjamin de Jesus, vor der Kathedrale von Jolo ermordet. Die Christen, im Süden der Philippinen bei weitem die Mehrheit der Bevölkerung, haben seither noch größere Vorbehalte gegenüber diesem Prozeß, zu dem sie im übrigen nie um ihre Meinung gefragt wurden. Die verschiedenen Gruppierungen muslimischer Fundamentalisten, die sich dem Friedensvertrag offen widersetzen, reagieren zudem immer häufiger mit Entführungen und Übergriffen gegen die Armee.

Von CATHERINE GAUDARD *

Mit dem Friedensvertrag, der am 2. September 1996 zwischen der Regierung von Präsident Fidel Ramos und der Moro National Liberation Front (MNLF) in Manila unterzeichnet wurde, steht für Mindanao und den Süden der Philippinen außerordentlich viel auf dem Spiel. Im Ergebnis der mehr als vierjährigen Verhandlungen, die in Jakarta (Indonesien) stattfanden, wird den Muslimen im Lande endlich zugestanden, was man ihnen lange vorenthalten hat, nämlich die Beteiligung an der Verwaltung des Gebiets.1 Das wiederum hat bei der muslimischen Bevölkerung große Hoffnungen geweckt, während die Christen, die seit rund vierzig Jahren mit 85 Prozent der 20 Millionen Einwohner die überwältigende Mehrheit auf der Insel stellen, mit einer Serie gewaltsamer Proteste reagierten.

Der Erfüllung des Friedensvertrags stehen in der Tat immense Hindernisse im Weg. Der seit Jahrhunderten währende Haß zwischen verschiedenen Gemeinschaften harrt ebenso seiner Schlichtung wie die Streitigkeiten über den Grundbesitz. Die wirtschaftliche und die politische Macht sowie die wirtschaftlichen Ressourcen müssen gerecht unter den Christen, Muslimen und Lumads, jenen Eingeborenenstämmen, die immer weiter ins Bergland zurückgetrieben werden, aufgeteilt werden.

Die Umsetzung dieses Vertrags obliegt weitgehend den beiden Unterzeichnern, nämlich Nur Misuari, dem Führer der MNLF, der vor kurzem nach 25 Jahren im Untergrund und im Exil wieder an die Öffentlichkeit getreten ist, und dem philippinischen Staatschef. Nur Misuari wurde am 9. September zum Gouverneur der unabhängigen muslimischen Region Mindanao (ARRM) gewählt, die nach dem Referendum von 1989 entstanden war.2 Außerdem wurde er zum Präsidenten des Südphilippinischen Rats für Frieden und Entwicklung (SPCPD) ernannt. Dieses Übergangsgremium hat die Aufgabe, in den kommenden drei Jahren die Friedensbemühungen zu befördern und zu koordinieren sowie soziale und wirtschaftliche Entwicklungsinitiativen in die Wege zu leiten. Danach wird es in der Region erneut ein Referendum und eine neue Regierung geben.

Gewalt, die über Jahrhunderte gewachsen ist, verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Die Filipinos vergleichen Mindanao gerne mit Palästina oder Irland: Gemeint ist damit ein Volk, das gegen seinen Willen von einer nationalen Gemeinschaft anderer Religion annektiert und dessen Gebiet massiv landwirtschaftlich kolonisiert wurde, so daß sich die Neuankömmlinge, in diesem Fall die Christen, ein demographisches Übergewicht über die Muslime und andere Minderheiten sichern konnten. Die neuen Siedler gelangten zunehmend auch in den Besitz wirtschaftlicher und politischer Macht; die sich daran anschließenden Auseinandersetzungen zogen sich über Generationen hin und kosteten auf beiden Seiten Zehntausenden das Leben. Alle diese Elemente stellen eine ernsthafte Gefährdung für den Erfolg des Friedensabkommens dar, obwohl man den Guerillakrieg allenthalben satt hat.

Moros und Christen

DIE Moro-Bevölkerung – ein Begriff, mit dem die Spanier ursprünglich die muslimischen Bewohner im Süden der Philippinen bezeichneten und den diese später zum Symbol ihrer Einheit erhoben – besteht aus dreizehn islamisierten Sprachgruppen. Die größten sind die Maguindanaos, die Maranaos und die Tausogs. Grund und Boden der Moro war traditionell nicht Privateigentum, sondern von den Vorfahren ererbtes kollektives Gelände, das den Mitgliedern der Gemeinschaft vom Datu, dem Chef des Clans, zur Nutzung überlassen wurde. Nachdem das Gebiet mit dem Vertrag von Paris im Jahre 1898 in den Besitz der Amerikaner übergegangen war, wurde die ansässige Bevölkerung zu Beginn des Jahrhunderts durch eine Reihe von Gesetzen enteignet; ihr ererbtes Land wurde zu öffentlichem Eigentum umdeklariert. Einige Datus erklärten das gesamte Land ihrer Clans zu persönlichem Eigentum; so entstand die Klasse der Moro-Großgrundbesitzer.

Mitte der dreißiger Jahre wurde die Ansiedlung zahlreicher Christen auf Mindanao gefördert. Weite Gebiete der Insel wurden nicht nur von kleinbäuerlichen Siedlern, sondern auch von den Besitzern großer Ländereien aus anderen Regionen sowie von multinationalen amerikanischen Firmen in Beschlag genommen.3 Diese Entwicklung beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Ergebnis, daß das demographische Gleichgewicht kippte. Während 1903 nur knapp 1,5 Millionen Muslime und Lumad auf Mindanao lebten, waren es 1980 mehr als 13 Millionen Menschen, davon die überwiegende Mehrheit Christen. Die Moro- und Lumad-Gemeinschaften zählen zu den ärmsten auf dem ganzen philippinischen Archipel, eine Situation, die in den siebziger Jahren zur Rebellion der Muslime führte. Seit 1970 sind angeblich mehr als 100000 Menschen den Kämpfen zwischen Armee und MNLF zum Opfer gefallen. Bereits der 1976 unter der Ägide der Islamischen Konferenz zwischen Regierung und Rebellen geschlossene Vertrag von Tripolis sah die Unabhängigkeit der dreizehn (inzwischen vierzehn) Provinzen im Süden vor (die auch Gegenstand des Abkommens von 1996 waren), doch das Referendum von 1977 in neun Provinzen mit christlicher Mehrheit brachte den Vertrag zu Fall. Zusätzlich kompliziert wurde die Lage durch die Entstehung radikaler muslimischer Gruppierungen, von denen die wichtigste die Moro Islamic Liberation Front (MILF) ist. All diese Gruppen bekämpfen den neuen Friedensvertrag, was dessen Umsetzung nicht erleichtert. Die Gruppe Abu Sayyaf, militärisch von geringerer Bedeutung, doch mindestens ebenso unbequem, strebt gar die Errichtung einer islamischen Republik in Mindanao an. Sie zeichnet für Terroranschläge gegen Christen verantwortlich und wird angeblich vom Iran, von Afghanistan und Pakistan unterstützt. Seit Abschluß des Friedensvertrags haben sich noch weitere Splittergruppen gebildet, so zum Beispiel die Milo (Moro Islamic Liberation Organization). Nicht zuletzt um die Konsolidierung radikalerer Gruppen zu verhindern, wollte Präsident Fidel Ramos bei seinen Verhandlungen mit der MNLF zu einem raschen Abschluß gelangen.

Einer der Kritikpunkte am Friedensvertrag betrifft die Zukunft der bewaffneten Streitkräfte der MNLF. Rund 7500 der zwischen 8000 und 30000 Mann starken Guerilla-Einheiten sollen in Gruppen von 100 bis 200 Mann in die Armee und andere nationale Sicherheitskräfte (wie die Polizei) eingegliedert werden. Allerdings enthält der Vertrag keine genaueren Angaben bezüglich der Modalitäten und des Zeitplans dieser Integration. Man fürchtet daher, daß sich Elemente der MNLF paramilitärischen Gruppen anschließen und sich bewaffnete Auseinandersetzungen mit christlichen paramilitärischen Gruppen liefern könnten.

Kern des Problems ist jedoch, daß in neun der vierzehn Provinzen, für die der Vertrag gilt, die Christen in der Mehrheit sind. Diese beharren darauf, daß der Grund und Boden, auf dem sie seit Generationen ansässig sind, ihr rechtmäßiges Eigentum sei. Zudem sind sie weder zu irgendwelchen Kompromissen mit den Muslimen bereit, noch wollen sie ihre politische und wirtschaftliche Macht beschränken lassen. So wurden im Vorfeld des Friedensvertrags überall Proteste laut, vor allem in den Städten (Iligan, Zamboanga u. a.), die ihn boykottieren wollten.

Die Regierung hat das als „emotionale Entgleisungen“ und Ausdruck „christlicher Vorurteile gegen die Muslime“ abgetan. Die einflußreiche Sekte Iglesia Ni Cristo bezeichnet den Vertrag als „offene Unterstützung der muslimischen Religion und staatliche Hilfe zugunsten einer religiösen Sekte“. Zudem stellt sie das Aufsichtsrecht über die Umsetzung des Vertrags, das der Islamischen Konferenz übertragen wurde, in Abrede. Immerhin hat sich die Führung der christlichen Kirchen letztlich zu einer kritischen Unterstützung des Vertrages durchgerungen.

Unter dem allgemeinen Druck hat die Regierung einzelne Verfügungen des Vertrags überarbeitet. Insbesondere wurden Befugnisse und finanzielle Ausstattung des Rates für Frieden und Entwicklung, für den Nur Misuari 20 Milliarden Pesos forderte, eingeschränkt.4 Was die Christen jedoch am meisten fürchten, ist die Enteignung ihres Bodens und die Benachteiligung bei Investitionen, die künftig in die ärmeren, vom MNLF regierten muslimischen Provinzen fließen könnten. Um ihren Grundbesitz zu schützen, den sie häufig auf Kosten der Eingeborenen erworben haben, zögern die Landbesitzer nicht, bewaffnete Milizen zu Hilfe zu rufen.

Die Militärs kennen etwa 34 Gruppen von (meist christlichen) Milizen mit insgesamt rund 25000 Mann. Einige entstanden Anfang der siebziger Jahre im Kampf gegen die Moro-Bewegung, andere in den achtziger Jahren gegen die Kommunisten. Schließlich sind auch die ilagas wieder aufgetaucht, jene fanatisch orthodoxen Katholiken, die behaupten, sie besäßen übernatürliche Kräfte, die sie vor feindlichen Kugeln schützen. Sie haben in der Vergangenheit sowohl die MNLF als auch die linken Christen erbittert bekämpft.

Wie groß sind unter diesen Umständen die Chancen des Friedensvertrags? Wem wird die geplante wirtschaftliche Entwicklung zugute kommen? Die wichtigste Rolle in der Region spielt die Landwirtschaft, in der 3,4 Millionen Menschen beschäftigt sind. Sieben große multinationale Unternehmen kontrollieren die kommerziell betriebenen Plantagen (Bananen, Ananas, Kautschukbäume und Kokospalmen), die 1993 mehr als 100000 Hektar umfaßten. Diese Kulturen haben katastrophale Folgen für die Umwelt: Der Boden wird durch den massiven Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden vergiftet, die Erdschicht erodiert. Zudem finden nur 1 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte eine Anstellung in diesem Sektor. Die Bauern, die von ihren Feldern vertrieben wurden, müssen meist anderswo nach Überlebensmöglichkeiten suchen.

Ein weiteres Problem ist die Abholzung der Wälder. Von den 3,92 Millionen Hektar Wald, die im Jahre 1981 registriert waren, existierten 1991 nur noch 1,77 Millionen Hektar. Niemand hat bei der Abholzung einen Gedanken an Wiederaufforstung verschwendet. Am 13. Oktober 1996 erklärte Misuari, als erste Initiative plane er einen völligen Abholzungsstopp, und bat die Lumad um Unterstützung für diese Politik. Doch muß er mit dem Widerstand einflußreicher Politiker rechnen.

Welches sind nun die wirtschaftlichen Prioritäten? Wird es Hilfsprogramme für die Ärmsten der Armen und für Industriebetriebe „aus dem Volk“ geben, oder wird man versuchen, ausländische Investoren ins Land zu holen? Das nationale Programm „Philippinen 2000“, das sich zum Ziel gesetzt hat, in wenigen Jahren den Anschluß an die aufstrebenden Industrienationen zu erreichen, basiert auf einer Volkswirtschaft mit hohen Exporten und niedrigen Lohnkosten. Solche Vorgaben stehen allerdings häufig im Widerspruch zu dem Ziel sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit.

Geld von außen – Krieg von innen

IM wesentlichen setzt man darauf, Kapital aus den muslimischen Ländern der Wachstumsregionen Südostasiens wie Indonesien, Malaysia und Brunei ebenso anzuziehen wie aus den Golfstaaten. Die Entwicklung der Infrastruktur – Straßen, Telekommunikation und Stromversorgung –, der Ausbau der Häfen, landwirtschaftliche Bewässerungssysteme, die Schaffung von Industrien zur Nahrungsmittelverarbeitung und auch die Expansion des Tourismus werden möglicherweise Zwangsumsiedlungen der Bevölkerungen zur Folge haben5 oder zumindest den Bauern die Kontrolle über ihre Ressourcen nehmen.

Für die revolutionäre Linke, die in neun Provinzen und in sieben Städten auf Mindanao politisch (und auch militärisch) tätig ist, ist der Vertrag „reaktionär“. Schuld sei, so die im Umfeld der Kommunistischen Partei entstandene Nationale Demokratische Front (NDF)6 , der Interessenkonflikt zwischen den herrschenden Klassen der Muslime und der Christen um die Kontrolle über die Bodenschätze, weshalb niemand die längst fällige Bodenreform einleiten werde, „aus Angst, mit den Großgrundbesitzern der Moro-Gesellschaft und mit den multinationalen Firmen in Konflikt zu geraten“.

Die Gemeinschaften der Moro und der Lumad werden wirtschaftlich, politisch und sozial immer weiter an den Rand gedrängt. Diese Situation könnte sich noch verschlechtern, auch wenn einige der Moro-Eliten von den künftigen Investitionen profitieren dürften.

Die traditionellen Moro-Clans hingegen haben allgemein positiv auf die Perspektiven reagiert, die ihnen der Vertrag eröffnet. Die Lumad, vor allem die Pasak Regional Lumad Confederation, in der verschiedene Lumad-Organisationen aus dem Süden Mindanaos zusammengeschlossen sind, wurden bei den Verhandlungen allerdings nicht zu Rate gezogen und haben das Ergebnis prompt mit Skepsis aufgenommen. Ihrer Ansicht nach bietet es keinerlei Garantie für eine Aufhebung oder Aussetzung der staatlichen Enteignungsprogramme, durch die ihre Ländereien in den Besitz ausländischer Gesellschaften gelangen.7 Für die Lumad waren die Entwicklungsprojekte bisher stets gleichbedeutend mit Gewalt und militärischen Übergriffen.8

In der Vergangenheit hatten Moro- und Lumad-Bevölkerung immer dann aufbegehrt, wenn es um wirtschaftliche Rechte, vor allem das Recht an dem von den Vorfahren ererbten Grund und Boden ging. Sollte der Vertrag ihre Hoffnungen nicht erfüllen, könnten sie sich scharenweise jenen Gruppen anschließen, die den bewaffneten Kampf fortsetzen und die religiöse Radikalisierung schüren.

dt. Erika Mursa

* Asienbeauftragte bei Frères des hommes.

Fußnoten: 1 Das Abkommen betrifft 14 der insgesamt 24 Provinzen im Süden der Philippinen sowie 9 der 16 Städte und die Nachbarinsel Palawan. Verwaltungstechnisch besteht der Süden aus vier Regionen und der unabhängigen muslimischen Region Mindanao (ARMM). 2 Die unabhängige muslimische Region besteht aus folgenden vier südphilippinischen Provinzen, in denen die Muslime eine starke Mehrheit besitzen: Maguindanao (ohne Colabaio City), Lanao del Sur (ohne Marawi City), Sulu und Tawi-Tawi. 3 Seit damals hat das Unternehmen Del Monte die Kontrolle über nahezu 8000 Hektar Land. Die Konzession ist jeweils für 25 Jahre verlängerbar. 4 100 Pesos entsprechen 6 Mark. 5 1995 wurden achtzehn „Fälle von Umsiedlungen“ registriert, von denen mehr als 17000 Familien im Norden von Cotabato und in Maguindanao betroffen waren. Einige hatten sich geweigert, ihr Land an die malaiische Erdölgesellschaft Petronas oder an die Philippine National Oil Company zu verkaufen. 6 Die Nationale Demokratische Front wird von ihrem Vorsitzenden Jalandoni vom niederländischen Utrecht aus geleitet. 7 In Lanao del Sur hat sich die malaiische Junob Oil die Kontrolle über 3000 Hektar Land gesichert. Dort sollen künftig nicht mehr Nahrungsmittel angebaut, sondern Palmölplantagen angelegt werden. Viele Bauern aus dieser Region werden damit zu landwirtschaftlichen Saisonarbeitern degradiert. 8 Laut Aussage von Eduardo Ermita, Vizepräsident der Regierungsgruppe, die mit den Muslimen verhandelt, verschlingen die militärischen Operationen in Mindanao noch immer 30 Prozent des Gesamthaushalts der philippinischen Streitkräfte.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von CATHERINE GAUDARD