Schatten über dem slowenischen Modell
ANGESICHTS der Stürme, die über den Balkan fegen, erscheint Slowenien wie ein Hafen des Friedens – im Vergleich zur ausweglosen Situation in Bosnien, den Erschütterungen in Serbien und Bulgarien oder der Auflösung der staatlichen Ordnung in Albanien. Das Land verdankt es zweifellos seiner „ethnischen“ Homogenität, daß es von der Zerrissenheit der Nachbarländer verschont geblieben ist, und seinem relativen Wohlstand, daß es die Wirren des Übergangs besser überstanden hat. Dennoch entsprechen die gegenwärtigen Erfahrungen in Ljubljana keineswegs dem perfekten Modell, das der Westen ständig angepriesen hat. Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit beunruhigt die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union vor allem jene Menschen, die schon heute Opfer der Ungleichheit sind.
Von unserer Korrespondentin CATHERINE SAMARY *
Die Altstadt von Ljubljana liegt eingebettet zwischen dem Schloßhügel und dem Fluß Ljubljanica – ein verkleinertes Abbild des ganzen Landes, das sich mit seinen knapp 20000 Quadratkilometern und seinen zwei Millionen Einwohnern zwischen die Alpenkette und die Mittelmeerküste schmiegt. Stolz wie der Gipfel des Triglav, der das Staatswappen ziert, hat das schöne, kleine Slowenien im Rahmen der Vielvölkerstaaten1 über Jahrhunderte hinweg seine Identität bewahrt – und das nicht zuletzt aufgrund seiner Sprache (siehe den Kasten auf der nächsten Seite).
Eine gewisse historisch bedingte Angst vor jeglicher Fremdherrschaft ist den Slowenen geblieben. Dieser Wesenszug trägt zweifellos zur verbreiteten Furcht vor einem möglichen Beitritt zur Europäischen Union (EU) bei. Obwohl sich die ausländischen Investitionen bescheiden ausnehmen2 , hört man oft, die Küste werde nach und nach von Italien aufgekauft, die Grenzregion werde von Österreich und dem dahinter lauernden Deutschland beherrscht, und die slowenische Sprache werde man bald nur noch im Familienkreise hören. Sobald es allerdings darum geht, sich von den Balkannachbarn abzugrenzen, pochen die Slowenen auf ihre europäische Vergangenheit im Rahmen der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Aber man hört durchaus auch die Meinung, mit der Unabhängigkeit seien die Bedingungen für eine multikulturelle Gesellschaft schlechter geworden. Die „Jugoslawien-Nostalgie“ äußert sich allerdings nur vereinzelt, in Konzerten und im privaten Rahmen, und vorwiegend in einem sozialen oder kulturellen Kontext. Der Name Titos ist von den Straßenschildern verschwunden. Doch über einem der zentralen Plätze der Stadt thront nach wie vor die Statue seines treuen slowenischen Mitstreiters Edvard Kardelj, eines führenden Kommunisten, der die Autonomie der jugoslawischen Republiken und Provinzen theoretisch begründet hat. Ende der achtziger Jahre waren die sozialen Unterschiede innerhalb Jugoslawiens derart angewachsen, daß der Fortbestand der Föderation in Frage gestellt war. Das Pro- Kopf-Einkommen Sloweniens lag sieben Mal höher als im Kosovo, die Arbeitslosigkeit sank in Slowenien unter 2 Prozent, während sie im Kosovo fast 20 Prozent betrug. Die Intervention der jugoslawischen Bundesarmee nach der slowenischen Unabhängigkeitserklärung im Juni 1991 beschleunigte den Weg in die Selbständigkeit, der durch eine Besonderheit erleichtert wurde: Die Slowenen hatten als einzige Nation der ehemaligen Föderation eine homogene Republik, konnten also ihr Selbstbestimmungsrecht ohne interethnische Konflikte wahrnehmen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Republik bereits über ein eigenes Steuersystem, einen eigenen Außenhandel und eine eigene Infrastruktur; auch wurde schon ein Jahr vor der Unabhängigkeit eine eigene Währung, der Tolar, vorbereitet.3
Krankenhäuser demnächst Touristenzentren?
SECHS Jahre nach der Unabhängigkeit ist Slowenien das osteuropäische Land mit dem höchsten Lebensstandard.4 Die Ungleichheit wächst zwar nur schleichend, ist aber schon ziemlich handfest zu spüren. Obdachlose sieht man keine. Von der Armut sind zunächst die Menschen ohne Papiere betroffen, bei denen sich Lohnkosten und Sozialversicherungsabgaben sparen lassen. Es handelt sich um rund 20000 Menschen, die mit dem Zerfall der Föderation ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Hinzu kommen mehrere tausend bosnische Flüchtlinge, die weder in ihre Heimat zurückkehren noch in ein Drittland emigrieren können. Doch die Armut nimmt im ganzen Land zu. Die Ärztin Mattea Kozvh klagt über den Verfall des Gesundheitssystems: „Früher hatten wir eine gute, kostenlose medizinische Versorgung. Heute werden die Gesundheitszentren finanziell ausgetrocknet, um die Privatpraxen aufzuwerten.“
Erschwerend kommt hinzu, daß sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land verschärft. Rakitna liegt auf einem der Hügel um Ljubljana, in dem Ort wohnen einige Dutzend Familien. Petar Kovačič, ehrenamtlicher Gemeindevorsteher und Chef der kleinen Christlich-Sozialistischen Partei, kritisiert die kürzlich erfolgte Reform der Gemeindestrukturen: „Durch die Verdoppelung der Zahl der Gemeinden wurde die Bürokratie nur aufgebläht, während gleichzeitig alle früher von den Gemeinden autonom verwalteten Bereiche verstaatlicht wurden.“ Es ging darum, die „kommunistischen Bastionen“ zu zerschlagen und die öffentlichen Mittel den heute machthabenden Parteien zuzuführen. „Früher bestand die Region Ljubljana aus fünf Gemeinden, wobei die ärmeren aus einem gemeinsamen Solidaritätsfonds finanzielle Zuwendungen erhielten. Damals hat man in Rakitna beschlossen, den Ausbau der lokalen Infrastruktur wie Telefon, Straßennetz, Kanalisation usw. selbst zu finanzieren. Inzwischen wird alles zentral von städtischen oder staatlichen Behörden verwaltet.“
Auch die Kurzsichtigkeit der Privatisierungen kritisiert Kovačič: „Das moderne Sanatorium von Rakitna war früher spezialisiert auf die Behandlung chronischer Lungenerkrankungen, auf Rehabilitation und Gesundheitserziehung von Kindern und deren Eltern. Es sollte zu einem interdisziplinären und internationalen Zentrum für Pädiatrie werden. Nun droht ihm die Umwandlung in ein Touristenzentrum.“ Allerdings vollzog sich der Übergang zur Privatwirtschaft in Slowenien langsam. Lange bevor das Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedete, mußten sich die Unternehmen bereits den neuen Bedingungen anpassen. Der Verlust eines Großteils des jugoslawischen Marktes, auf dem früher ein Drittel der slowenischen Waren abgesetzt wurde, und die angespannte Finanzlage führten bis 1993 zu einem Produktionsrückgang und zu einer Arbeitslosenrate, die gegenwärtig bei fast 14 Prozent liegt (nach der Berechnungsmethode des Internationalen Arbeitsamts wäre sie halb so hoch).
Das kleine Land Slowenien ist inzwischen hochgradig vom Außenhandel, vor allem vom westeuropäischen Markt abhängig.5 Zwischen 1992 und 1995 stiegen die Exporte in die EU von 61 auf 67 Prozent, die Importe aus der EU von 60 auf 69 Prozent. Der Handel mit den ehemaligen jugoslawischen Republiken ging entsprechend zurück. „Seit der politischen Unabhängigkeit sind wir wirtschaftlich noch abhängiger geworden“, gesteht unumwunden Jože Menciger, ehemaliger Wirtschaftsminister der Regierung, die aus den ersten freien Wahlen 1990 hervorgegangen ist. „Im jugoslawischen Rahmen hatten wir etwas mitzureden. In der EU ist das nicht mehr der Fall. Aber wir haben keine andere Wahl.“ Menciger, ehemals Chef der Demokratischen Partei, legte im April 1991 sein Amt nieder, nachdem das Kabinett seine Vorschläge abgelehnt und sich statt dessen für das „Schocktherapie“- Konzept des Amerikaners Jeffrey Sachs entschieden hatte. Rückblickend meint Menciger: „Nach meiner Vorstellung sollten die Privatisierungen an das frühere Selbstverwaltungssystem anknüpfen. Mein Konzept sah günstige Kredite und Preise vor, die den Lohnabhängigen den Kauf ihres Betriebs ermöglichen sollten – ein Modus, der Verantwortungsbewußtsein eher fördern konnte als eine kostenlose Verteilung.“
Die Mitte-rechts-Regierung lehnte dieses – von der inzwischen aufgelösten Selbstverwaltungskammer wie der Linken befürwortete – Vorgehen ab und entschied sich für das Konzept von Jeffrey Sachs, der gegen jegliche Überreste von Selbstverwaltung eintrat und eine rasche Überführung des „gesellschaftlichen Eigentums“ in „staatliches Eigentum“ befürwortete. Der Staat sollte, so Sachs' Plan, seine Anteile an Investitionsfonds abtreten und kostenlose Berechtigungsscheine für den Erwerb von Aktien an alle Bürger verteilen.
Nach der Krise und den Wahlen wurde 1993 schließlich ein Gesetz verabschiedet, das einen von allen Parteien getragenen Kompromiß darstellt. Danach übernimmt der Staat im Rahmen eines Entwicklungsfonds lediglich die Umstrukturierung und Liquidierung von Konkursunternehmen. Die Arbeiter können kostenlos oder zu Vorzugspreisen bis zu 60 Prozent nicht übertragbare Aktien der Betriebe erwerben. Weitere 20 Prozent stehen den Bürgern in Form von Bezugsscheinen für Aktien zur Verfügung, die von den privaten Investitionsfonds verwaltet werden. Die restlichen 20 Prozent werden zu gleichen Teilen zwischen dem Ausgleichsfonds für Besitztümer, die nach dem Krieg verstaatlicht wurden, und dem Pensionsfonds aufgeteilt. Wie sich gezeigt hat, sind gar nicht genügend Aktien vorhanden, um alle noch in Umlauf befindlichen Anteilsscheine einzulösen. Dies ausnutzend, fordern die Investitionsfonds nun eine Privatisierung der Infrastruktur. Nach Menciger wird damit ihr eigentlicher Zweck den kurzfristigen Interessen der politischen Lobbys untergeordnet. Sonja Lokar von der Vereinigten Liste der Sozialdemokraten6 kritisiert die Entwicklung: „Die Gewerkschaften haben zwar in den Kollektivverhandlungen im Wirtschaftsrat aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung noch ein gewisses Gewicht, doch auf Betriebsebene verteidigt niemand die Arbeiter oder opponiert gegen die Kündigungen.“
„Bei uns gibt es tatsächlich mehr Arbeitslose als in der Tschechischen Republik, aber das beweist nur, daß wir bei den Umstrukturierungen weiter fortgeschritten sind. Die Mehrheit unserer Betriebe hat sich bereits den Spielregeln des Marktes angepaßt“, betont der seit 1992 amtierende slowenische Regierungschef Janez Drnovšek. Nach dem Sieg seiner Partei, der Liberaldemokraten (LDS), bei den Parlamentswahlen von November 1996 wurde er erneut in seinem Amt bestätigt.7 Nun muß die Partei allerdings noch die weit verbreitete „Euro-Skepsis“ ihres größten Bündnispartners, der Slowenischen Nationalpartei, überwinden. Die wichtigsten Gruppierungen unterstützen natürlich den Beitritt zur EU – dessen mögliche sozialen Folgen der Rechten paradoxerweise mehr Sorgen bereiten als der Linken, die sich auf eine Anerkennung durch die Liberalen kapriziert haben. Dennoch macht sich die slowenische Bevölkerung Sorgen, allen voran die Bauern, die sich vor den Auswirkungen des Beitritts auf die Landwirtschaft fürchten. Diese ist zu 80 Prozent in Privatbesitz, und die Hofgrößen übersteigen selten zehn Hektar. „Da die Landwirtschaft nur 3,4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes ausmacht, stellt sie eher ein politisches als ein wirtschaftliches Problem dar“, meint dazu Regierungschef Drnovšek.
Am 10. Juni 1996 erlangte Slowenien den Status eines assoziierten Mitglieds der EU. Die Verfassung, die Ausländern den Erwerb von Immobilien untersagte, wurde bereits mit Blick auf eine Vollmitgliedschaft bis zum Jahr 2001 gelockert. Ferner will der Regierungschef bis 2001 auch den Nato-Beitritt betreiben.
Im Dezember 1996 haben die – den Beitritt befürwortenden – USA den ehemaligen jugoslawischen Republiken ebenso wie Ungarn, Rumänien, Albanien, Bulgarien, Moldawien, Griechenland und der Türkei eine „Südosteuropäische Kooperationsinitiative“ (Seci) vorgeschlagen, die der kroatische Präsident Franjo Tudjman wütend zurückgewiesen hat. Auch Slowenien und Ungarn waren nicht begeistert, sprachen sich aber unter sanftem Druck auch nicht dagegen aus. Die Zeitung Mladina erläutert das so: „Der amerikanische Beauftragte hat darauf hingewiesen, daß die beiden Länder zu den Beitrittskandidaten für das atlantische Bündnis gehören und daß ihre Mitarbeit in der Initiative die Entscheidung für eine Nato-Erweiterung deutlich erleichtern würde.“8 Im Land selbst wird die Seci als „feindliche Übernahme“ des Balkans durch die Vereinigten Staaten gesehen, um sich gegenüber der Europäischen Union den Zugriff auf diesen Markt von 150 Millionen Menschen zu sichern.
Solange die Situation auf dem Balkan nicht stabil ist, hat die Seci nur minimale Chancen. Slowenien könnte sich ihrer dennoch bedienen, um seine Stellung als Bindeglied zwischen dem Zentrum Europas und dem Balkan auszunützen. Aber Slowenien ist heute, nach dem Bruch mit dem Titoismus, auf der Suche nach seiner Identität. Von den 80 Prozent Katholiken sind nur 16 Prozent praktizierend. Mit Unterstützung des Papstes bemüht sich die Kirche um die Zurückeroberung der verlorenen Seelen – nachdem sie zuvor ihren ehemaligen Waldbesitz wiedererhalten hat, wie Maja berichtet, die in den achtziger Jahren als Journalistin bei Mladina tätig war. Die von der ersten christdemokratischen Regierung beschlossene Rückgabe ist so umstritten, daß sie vermutlich mittels eines Referendums wieder aufgehoben wird. „Noch umstrittener ist der Anspruch der Kirche, den Menschen ihre Lebensweise vorschreiben zu wollen“, meint Maja und bezieht sich damit auf die Antiabtreibungskampagne in den Schulen und auf den Versuch, den Religionsunterricht wiedereinzuführen.
Noch heikler ist laut Petar Kovačič der Versuch der Kirche, „sich der Last ihrer Verantwortung im Zweiten Weltkrieg zu entledigen und gleichzeitig den Partisanenkampf der Kommunisten zu verunglimpfen.“ In den von Deutschland und Ungarn besetzten Landesteilen wurden damals die Geistlichen wie die übrige Bevölkerung massenweise deportiert. „60000 Menschen aus der Region Štajerska wurden nach Serbien transportiert. Um den Serben für ihre Aufnahme zu danken, organisieren wir übrigens jedes Jahr einen Erinnerungszug“, erzählt Anica Miklus Kos, deren Mutter sich unter den Deportierten befand. In dem von Italienern beherrschten Teil, und insbesondere in Ljubljana, trieb die Kirche dagegen „ihre radikal antikommunistische Kollaborationspolitik so weit, daß sie sogar den domobranci ihren Segen erteilte, den sogenannten patriotischen Milizen, die einen Eid auf die SS abgelegt hatten“, wie Petar Kovačič in Erinnerung ruft.
Allerdings, meint dazu der christlich- sozialistische Parteichef, hätten die Kommunisten leider selbst zu diesem Umschwung beigetragen, „indem sie echte oder vermeintliche Feinde ohne Gerichtsverfahren hinrichteten, die Bauern, sobald sie mehr als drei Kühe besaßen, als Kulaken behandelten und alle Pfarrer in den gleichen Topf warfen“. Und er erzählt, wie sein Onkel Anton Kržič, der als Arbeiter nach Frankreich emigriert war, 1941 nach Slowenien zurückkehrte, um sich dem Widerstand anzuschließen. „Als die Hinrichtungen begannen, widersetzte er sich dieser Politik im Namen der kommunistischen Moral. Daraufhin wurde er bei lebendigem Leib in ein Massengrab geworfen.“ Auch das gehört zu den offenen Rechnungen, die heute beglichen werden.
dt. Birgit Althaler
* Dozentin an der Universität Paris-Dauphine.