11.04.1997

Anschwellende Datenflüsse

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Anschwellende Datenflüsse

Von IGNACIO RAMONET

THE SUN backs Blair“1 , lautete am 18. März die Schlagzeile der Londoner Tageszeitung Sun, die in einer Auflage von vier Millionen erscheint und von zehn Millionen Menschen gelesen wird. Ausgerechnet diese Zeitung, die bislang als glühende Verfechterin des Thatcherismus galt und bei den letzten Wahlen im April 1992 noch die Regierung John Majors unterstützt hatte, Major gar als „visionären, mutigen und entschlossenen Spitzenpolitiker“ gepriesen hatte – ausgerechnet diese Zeitung gibt nun bekannt, bei den britischen Parlamentswahlen am 1. Mai 1997 den Labour-Kandidaten zu unterstützen, den sie als „Spitzenpolitiker mit Visionen, Zielen und Mut“ würdigt.

All jenen, die sich über einen so plötzlichen Meinungsumschwung wunderten, erwiderte der politische Leitartikler der Zeitung, Trevor Kavanagh: „Mir scheint, nicht die Zeitung hat ihre Linie geändert, sondern Labour hat sich gewandelt.“2

Was lernen wir aus dieser traurigen Geschichte? Zumindest zweierlei. Politisch lehrt sie uns, daß manche sozialdemokratischen Parteien so weit auf den Neoliberalismus eingeschwenkt sind, daß sie für zahlreiche Wähler inzwischen denselben Stellenwert haben wie die klassischen Konservativen. Die medienpolitische Lehre lautet, daß die Nachrichten (Zeitungen) immer noch einen erheblichen Einfluß auf das Wählerverhalten haben und dieser Einfluß hie und da Verhandlungsgegenstand ist.

Hat die Labour Party sich die Unterstützung der Sun gekauft? Wie verlautet, hat sich Tony Blair in den letzten Monaten mehrmals mit Rupert Murdoch, dem Chef des News-Corporation- Konzerns, zu dem die Sun gehört, getroffen. Man vermutet, daß diese Treffen zu der neuen Haltung der Sun geführt haben.3 „Lassen Sie es mich ganz klar sagen“, hatte sich Tony Blair verteidigt, „wir haben zu keinem Zeitpunkt eine Vereinbarung mit Rupert Murdoch getroffen, aus der sich eine Unterstützung durch dessen Zeitungen ergibt.“ Doch merkwürdig – in einer anderen Erklärung gestand Blair, daß er im Falle eines Wahlsiegs nicht vorhabe, „an den derzeitigen Regelungen bezüglich der Verflechtungen zwischen Sendeanstalten und Presse“ zu rühren, und bestätigte damit, daß er im Falle seiner Wahl entgegen den Aussagen seiner Partei keine Hand an das Medienimperium Murdochs legen werde.4

Der Medienmogul aus Australien (dort besitzt Murdoch rund hundert Zeitungen sowie mehrere Hörfunk- und Fernsehsender) war Mitte der achtziger Jahre berühmt geworden, als er mit der ausdrücklichen Unterstützung der Regierung Margaret Thatchers die Druckereigewerkschaften zerschlug, die der Labour Party nahestanden. Zur Zeit kontrolliert er ein Drittel der Auflage der britischen Zeitungen, insbesondere die Sun und die angesehene Times sowie deren Sonntagsausgaben News of the World und Sunday Times. Dies ist aber nur ein ganz kleiner Teil des News-Corp.-Imperiums mit seinen 10 Milliarden Dollar Umsatz, das in Großbritannien auch British Sky Broadcasting (BSkyB) kontrolliert, ein über Kabel und Satellit zu empfangendes, vor Ort konkurrenzloses Pay-TV- Netz mit sechs Millionen Abonnenten, eine der rentabelsten Firmen an der Londoner Börse. Sie plant, ab dem kommenden Herbst in Großbritannien eine erste Palette digitaler Fernsehprogramme über Satellit auszustrahlen – ein Projekt, das sicherlich nicht wenig mit der Entscheidung der Sun zu tun hat, Tony Blair, den voraussichtlich nächsten Premierminister, zu unterstützen.

NEWS CORPORATION, zu 30 Prozent im Besitz von Rupert Murdoch, ist das typische Beispiel eines großen Multimediakonzerns unserer Zeit. Er kontrolliert in den Vereinigten Staaten den Harper Collins Verlag (550 Millionen Dollar Gewinn 1995)5 , die Tageszeitung New York Post, mehrere Fernsehzeitschriften wie TV Guide, die Produktionsgesellschaft Twentieth Century Fox, die unter anderem die Fernsehserie „Akte X“ produziert, den Fernsehsender Fox Network, den populären Kabelkanal FX, den Nachrichtenkanal Fox News Channel (seines Zeichens Konkurrent der Sender CNN von der Time-Warner- Gruppe, MSNBC von Microsoft sowie NBC von General Electric), die Marketing- und Werbefirma Heritage Media sowie etwa zwanzig Websites im Internet. Eine Milliarde Dollar hat Murdoch gerade in den Digitalbereich gesteckt, um den amerikanischen Fernsehzuschauern gemeinsam mit Echostar und der Telefongesellschaft MCI eine Palette von mehr als 200 Programmen präsentieren zu können.

Als Partner der japanischen Firmen Sony und Softbank stellte Murdoch zudem das Satellitenfernsehprojekt Japan Sky Broadcasting (JSkyB) auf die Beine und wird ab Frühjahr 1998 in Japan 150 Programme ausstrahlen. Sein Konzern besitzt bereits einen Satellitensender, Star TV, der einige Dutzend Programme in Richtung Japan, China, Indien, Südostasien und Ostafrika sendet.

Diese grenzenlosen Allianzen, Fusionen und Konzentrationen, wie sie Rupert Murdoch mit wegweisendem Geschick errichtet hat, sind typisch für die heutige Medienwelt.

In einer Zeit wirtschaftlicher Globalisierung, von Weltkultur (world culture) und „Einheits-Zivilisation“ bildet sich das heraus, was manche die „globale Informationsgesellschaft“ (global information society) nennen. Diese entwickelt sich parallel zu der raschen Ausbreitung der Informationstechnologien, die in alle Bereiche des menschlichen Lebens vordringen und das Wachstum der wichtigsten Wirtschaftssektoren fördern.

Eine „globale Informationsinfrastruktur“ (global information infrastructure) überzieht die Erde wie ein Spinnennetz, nutzt die Vorteile der Digitalisierung und fördert die Vernetzbarkeit aller kommunikativen Dienstleistungen. Sie unterstützt insbesondere die Verflechtung dreier Technologiebereiche – Computer, Telefonie und Fernsehen –, die in Multimedia und Internet zur Einheit kommen.

Weltweit gibt es 1,26 Milliarden Fernsehzuschauer (von denen mehr als 200 Millionen einen Kabelanschluß und ca. 60 Millionen Digitalfernsehen besitzen), 690 Millionen Fernsprechteilnehmer, 80 Millionen davon im Mobilfunknetz, und etwa 200 Millionen Computer, von denen 30 Millionen ans Internet angeschlossen sind. Voraussichtlich wird es im Jahre 2001 mehr Internet- als Telefonanschlüsse geben, wird die Zahl der Internet-User zwischen 600 Millionen und einer Milliarde betragen und das World Wide Web mehr als 100000 kommerzielle Sites umfassen.6 Der Umsatz der Kommunikationsindustrie, der 1995 bei 1000 Milliarden Dollar lag, könnte sich in fünf Jahren verdoppeln und damit etwa 10 Prozent der Weltwirtschaft ausmachen.7

Die Giganten der Computer-, Telefon- und Fernsehbranche wissen, daß die Profite der Zukunft in den neuen „Schürfgebieten“ liegen, welche die digitale Technologie vor ihren faszinierten, begierigen Augen erschließt. Dabei ist ihnen bewußt, daß ihr Territorium in Zukunft nicht mehr geschützt sein wird und die Giganten der benachbarten Sektoren es mit räuberischen Blicken betrachten. Im Medienbereich herrscht gnadenloser Krieg. Wer im Telefongeschäft war, will nun auch Fernsehen machen und umgekehrt. Alle mit Vernetzung befaßten Firmen, vor allem jene, die ein Versorgungsnetz unterhalten (Strom, Telefon, Wasser, Gas, Eisenbahn- und Autobahngesellschaften usw.), sind in Goldgräberstimmung und wollen sich ihren Anteil am Multimediakuchen sichern.

ALLÜBERALL auf der Welt kämpfen dieselben Konkurrenten miteinander, riesige Firmen, die die neuen Beherrscher der Welt geworden sind: AT&T, weltweit Marktführer im Telefonbereich, das Duo MCI (zweitgrößtes Telefonnetz in Amerika) und BT (vormals British Telecom), Sprint (der drittgrößte operator für Fernverbindungen innerhalb der USA), Cable & Wireless (die insbesondere Hongkong Telecom kontrollieren), Bell Atlantic, Nynex, US-West, TCI (der wichtigste Kabelfernsehbetreiber), NTT (die größte japanische Telefongesellschaft), Disney (das den Sender ABC aufgekauft hat), Time Warner (dem CNN gehört), News Corp., IBM, Microsoft (der Marktführer im Softwarebereich), Netscape, Intel usw.

In Europa stehen sich auf diesem Gebiet Konzerne mit vielfältigen, sich überschneidenden Interessen und wechselseitigen Beteiligungen gegenüber: News Corp., Pearson (The Financial Times, Penguin Books, BBC Prime), Bertelsmann (größter deutscher Medienkonzern), Leo Kirch, CLT (RTL), Deutsche Telekom, Stet (größter italienischer Telefonkonzern), Telefonica, Prisa (größter spanischer Medienkonzern), France Télécom, Bouygues, Lyonnaise des eaux, Générale des eaux (die nun auch Canal+ und Havas übernommen hat) usw. Immer häufiger kommt es zum Erwerb von Mehrheitsbeteiligungen und zu Fusionen. Allein 1993 soll es in Europa 895 Fusionen von Medienfirmen gegeben haben.8

Die übergeordnete Logik dieser Mutation des Kapitalismus ist nicht die Suche nach Verbündeten, sondern die Firmenübernahme, mit der man darauf abzielt, sich in einem Markt der permanenten und unvorhersehbaren technologischen Beschleunigung und der überraschenden Verbrauchererfolge (etwa der Internet- Boom) das Know-how derer zu sichern, die sich bereits am Markt etabliert haben. Im Mittelpunkt dieser neuen Phase steht der immer umfangreichere Datenfluß: Gespräche, Informationen, finanzielle Transaktionen, Bilder, Zeichen aller Art. Dies gilt zum einen für die Medien, die diese Daten herstellen – Verlage, Presseagenturen, Zeitungen, Kino, Rundfunk, Fernsehen, Websites und so weiter – und zum anderen für die Welt der Telekommunikation und Computerfirmen, die die Daten transportieren, aufbereiten und verarbeiten. Jeder einzelne Medienriese verfolgt das Ziel, alleiniger Gesprächspartner des Bürgers zu werden. Er will ihn mit allem versorgen – mit Nachrichten, Unterhaltung, Kultur, beruflichen Dienstleistungen sowie Finanz- und Wirtschaftsinformationen – und ihn allumfassend vernetzen.

Damit die gebotenen Infrastrukturen für den user von Nutzen sind, muß die Kommunikation ohne Hindernisse rund um die Welt zirkulieren können, so frei, wie der Wind über die Ozeane streicht. Dies ist der Grund dafür, daß die Vereinigten Staaten (die ersten Produzenten der neuen Technologien und Sitz der wichtigsten Firmen) zum Zwecke der Globalisierung der Wirtschaft ihr ganzes Gewicht in die Waagschale der Deregulierung warfen, um zu erreichen, daß möglichst viele Länder ihre Grenzen dem „freien Informationsfluß“ öffnen, sprich den Giganten der US-amerikanischen Medien- und Unterhaltungsindustrie.9

Vier internationale Konferenzen – Genf 1992, Buenos Aires 1994, Brüssel 1995 und Johannesburg 1996 – boten Präsident Bill Clinton und vor allem Vizepräsident Al Gore Gelegenheit, ihre Thesen zur „globalen Informationsgesellschaft“ bei den wichtigsten Politikern der Welt populär zu machen. Ferner setzte Washington bei den Gesprächen zum Abschluß der Uruguay-Runde des Gatt 1994 den Gedanken durch, Kommunikation sei als reine „Dienstleistung“ zu betrachten und müsse daher dem allgemeinen Handelsgesetz unterliegen.

Die Telekommunikation im engeren Sinne stellt mit einem Markt von 525 Milliarden Dollar, der jährlich um 8 bis 12 Prozent wächst, einen der rentabelsten Bereiche des Welthandels dar. 1985 betrug die Zeit, die die Nutzer weltweit mit Telefonieren, Faxen oder Datenübermittlung verbrachten, 15 Milliarden Minuten, 1995 schon 60 Milliarden Minuten; im Jahr 2000 wird sie 95 Milliarden Minuten übersteigen.10 Besser als jedes andere Argument belegen diese Zahlen, um welche Dimensionen es bei der Liberalisierung der Kommunikation geht. Im November 1996 erreichten die Vereinigten Staaten beim vierten Gipfeltreffen der Apec (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum) in Manila endlich die Öffnung der Märkte dieser Region für die Informationstechnologien bis zum Jahr 2000.11 Im gleichen Sinne empfahl die Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO im Dezember 1996 in Singapur „eine völlige Liberalisierung sämtlicher Telekommunikationsdienste ohne generelle Beschränkung“. Ebenfalls unter der Ägide der WTO öffnete ein am 15. Februar 1996 von 68 Ländern in Genf unterzeichnetes Telekommunikationsabkommen vor allem den großen US-amerikanischen, europäischen und japanischen operators die nationalen Märkte zahlreicher Länder.

Bekanntlich hat die Europäische Union ihrerseits beschlossen, die Telefonmärkte ungeachtet der verschiedenen Träger (Kabel, Funk oder Satellit) ab dem 1. Januar 1998 völlig zu liberalisieren. Vor diesem Hintergrund werden die staatlichen Monopole angesichts der zu erwartenden heftigen Konkurrenz auf den nationalen Märkten nach und nach abgebaut und die öffentlichen Betreibergesellschaften privatisiert. British Telecom, nunmehr BT, und die spanische Telefonica sind bereits privatisiert. France Télécom, deren erste Kapitaltranche am 6. Mai auf den Markt kommt, baut ihre Partnerschaft mit der Deutschen Telekom aus, die nach dem Jahr 2000 ebenfalls vollständig privatisiert sein wird. Beide Betreiber haben sich übrigens mit der US-amerikanischen Sprint zusammengeschlossen, an der sie zu jeweils 10 Prozent beteiligt sind, und dürften sich nun der britischen Cable & Wireless annähern, die 80 Prozent des Kapitals von Sprint erwerben will.12 So beschleunigt sich gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der staatlichen Monopole der Wettlauf um die notwendige Firmengröße, mit der es sich auf dem Weltmarkt überleben läßt; gleichzeitig ringt man in allen Kommunikationsbereichen um Diversifizierung. Dies alles geschieht in einer Atmosphäre gnadenlosen Wettbewerbs, in dem alles erlaubt ist: „Immer wenn ich mit den großen Telefonfirmen rede“, stellt SNCF-Präsident Louis Gallois fest, „habe ich das Gefühl, mich in einen Raubtierkäfig zu begeben.“13

In den letzten Monaten wurde deutlich, welche heftigen Konflikte die Einführung miteinander konkurrierender Digitalfernsehangebote im gesamten Medienbereich auslöst. In Spanien kam es zu einer direkten und brutalen Konfrontation zwischen der konservativen Regierung von José Maria Aznar, der zur Sicherung seiner Macht einen einflußreichen Medienkonzern aufbauen will, und dem größten Medienkonzern Prisa (El Pais, Radio SER), einem Partner von Canal+.14

In Frankreich herrscht der totale Krieg zwischen den Partnern von Télévision par satellite (TPS) und denen von CanalSatellite. Die spektakulärste Veränderung fand bei letzteren am 6. Februar statt, als die Générale des eaux die Kontrolle über Havas und Canal+ übernahm, um „in einem einzigen Medienkonzern alle Kompetenzen zu vereinen, die zu seiner insbesondere internationalen Entwicklung nötig sind“, und einen „integrierten Medienkonzern von Weltrang“ zu schaffen. Die Générale des eaux konnte ihren zweiten Platz auf dem französischen Telefonmarkt übrigens ausbauen, indem sie am 12. Februar Partner der SNCF wurde, der sie über ihre Tochtergesellschaft Cégétel, welche wiederum mit British Telecom verbunden ist, Teile ihres 26000 Kilometer umfassenden Telefonleitungsnetzes abkaufte, von denen 8600 Kilometer Glasfaserkabel sind.

Noch wenige Monate zuvor hatte der Vorsitzende der Générale des eaux, Jean-Marie Messier, keinerlei Annäherung an Havas beabsichtigt. Woher also der plötzliche Sinneswandel? „Ich hatte die Geschwindigkeit unterschätzt“, antwortet er, „mit der Telefongesellschaften und Medienindustrie sich einander annähern. Bald wird nur noch eine einzige Leitung für Bild, Ton, Multimedia und Internet die Haushalte versorgen. Diese Entwicklung ist bereits im Gange. In zwölf bis achtzehn Monaten wird sie kommerzielle Realität sein. Diese Beschleunigung hat mich davon überzeugt, daß man alle Glieder der Kette – Inhalte, Produktion, Ausstrahlung und Verbindung zum Abonnenten – kontrollieren muß, wenn man seine Marktanteile behalten will.“15

ALLE Glieder der Kette kontrollieren“, das ist der Ehrgeiz der neuen Informationskolosse. Zu diesem Zweck betreiben sie weiterhin intensiv Akquisition und Konzentration. Für sie ist Kommunikation vor allem eine Ware, die in sehr großem Umfang hergestellt werden muß – Quantität vor Qualität. In 30 Jahren hat die Welt mehr Informationen bereitgestellt als in den 5000 Jahren zuvor. Ein einziges Exemplar der Sonntagsausgabe der New York Times enthält mehr Informationen, als ein Europäer des 17. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben zusammentragen konnte. Täglich werden ungefähr 20 Millionen Wörter Sachinformation auf verschiedenen Medien – Druckerzeugnissen, Disketten, CD-Roms – festgehalten. Ein Leser, der tausend Wörter pro Minute lesen könnte und dies acht Stunden am Tag täte, bräuchte eineinhalb Monate, um die Produktion eines einzigen Tages zu bewältigen. Zwischenzeitlich wäre dann sein Leserückstand auf fünfeinhalb Jahren angewachsen ...

Das humanistische Ideal, alles lesen und alles wissen zu wollen, ist illusorisch und sinnlos geworden. Ein Pico della Mirandola16 würde heutzutage vor der erdrückenden Masse verfügbarer Informationen kapitulieren müssen. Waren die Informationen früher rar und schwer zugänglich, so prasseln sie heute von überall her auf einen nieder. Sie gehören, ähnlich wie Wasser und Luft, zu den wenigen Dingen auf unserem Planeten, die es vergleichsweise reichlich gibt. Je mehr Informationen in Umlauf gebracht werden, desto billiger werden sie, aber wie Luft und Wasser auch, sind sie immer stärker verschmutzt und verseucht.

Man mag sich sogar fragen, ob die Kommunikation nicht ihre beste Zeit schon hinter sich, ihren Zenit überschritten hat und in jene Phase eingetreten ist, in der sich ihre positiven Seiten in negative, ja ihre Vorteile in Nachteile zu verwandeln beginnen. Denn die neue Ideologie der totalen Kommunikation, der Kommunikationsimperialismus, ist mittlerweile ein Unterdrückungsinstrument geworden.

Lange Zeit dominierte der Aspekt der Befreiung, denn die Kommunikation bedeutete (nach der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks) eine neue Etappe in der allgemeinen Verbreitung von Wissen, Kenntnissen und Gesetzen; sie stand für den Siegeszug der Vernunft gegen Aberglauben und Obskurantismus jedweder Art. Nun aber, da sie als absolutes Muß daherkommt und alle Bereiche des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens überschwemmt, führt sie ein tyrannisches Regiment und könnte sich gar in den größten Aberglauben unserer Zeit verwandeln.

Diese entscheidende qualitative Veränderung spüren die Bürger, deren Enttäuschung über die Medien wächst, wie man aus allen neueren Untersuchungen ersehen kann.17 55 Prozent der US-Amerikaner sind der Meinung, die Informationen der Presse seien „häufig ungenau“.18 Auch die Nachrichten im Fernsehen werden von diesem Trend nicht ausgenommen (nur noch 42 Prozent der Amerikaner verfolgen sie regelmäßig, 1993 waren es noch 60 Prozent). In der Alten Welt informieren sich zwar noch 87,9 Prozent der Europäer hauptsächlich durch Fernsehnachrichten, doch das Mißtrauen ist groß.

Der Hauptvorwurf ist der des Sensationsjournalismus um jeden Preis, der Auswüchse wie seinerzeit bei der Affäre um die Massengräber von Temesvar oder während des Golfkriegs nach sich zieht und dazu führen kann, daß betrügerische „Fakes“ produziert werden. Das berühmteste französische Beispiel ist eine „von Jean Bertolino in der Sendung „52 sur la Une“ präsentierte Reportage, in der Denis Vincenti Darsteller in einem Steinbruch von Meudon filmte und so tat, als sei er auf Schlafwandler gestoßen, die nachts durch die Pariser Katakomben spukten. (...) Eine ähnliche Auseinandersetzung gab es im Januar 1992, als Régis Faucon und Patrick Poivre d'Arvor in einer Reportage ein Interview mit Fidel Castro präsentierten, das in Wirklichkeit ein Zusammenschnitt einer Pressekonferenz war, so daß die im Fernsehen dokumentierten Antworten des kubanischen Politikers sich in Wirklichkeit auf andere Fragen anderer Journalisten bezogen.“19

Das jüngste Beispiel stammt aus Deutschland, wo der 38jährige Journalist Michael Born zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Man hatte ihn für schuldig befunden, zweiunddreißig Reportagen ganz oder teilweise gefälscht zu haben. Der Fälscher, der wußte, daß Fernsehsender Sensationsbilder erwarten, hatte mit Hilfe von Schauspielern und Komplizen kurze „Dokumentarfilme“ über einen angeblichen deutschen Zweig des Ku Klux Klan, über Kokainhändler, über Briefbomben verschickende Neonazis, über Kinderarbeit in der Dritten Welt und über arabische Schleuser gedreht. Diese „Reportagen“ wurden anstandslos gekauft – von Sendern, die sich auch in der Vergangenheit nicht durch besondere Skrupelhaftigkeit ausgezeichnet hatten, vor allem von Stern TV, dem Fernsehmagazin der gleichnamigen Wochenzeitschrift, die seinerzeit die angeblichen Hitler-Tagebücher veröffentlichte. Und so fanden die Haß schürenden Bilder mehr als vier Millionen Zuschauer und brachten nicht unerhebliche Werbesummen ein.

Werbefirmen und Inserenten verfügen längst über einen unbestrittenen und schädlichen Einfluß auf den Inhalt der Nachrichten als solche. Im Jahr 1995 drehten in den USA die Produzenten der CBS-Nachrichtensendung „60 minutes“ (eine der seriösesten ihrer Art), einen Dokumentarfilm über die Praktiken der Tabakkonzerne. Darin wurde unter anderem aufgedeckt, daß die Angaben auf den Zigarettenschachteln vielfach falsche Nikotinwerte enthielten, womit die Konzerne eine stärkere Nikotin-Gewöhnung der Raucher zu erreichen suchten. CBS zensierte die Sendung. Wie zu erfahren war, gab es dafür sogar zwei Gründe: Erstens wollte CBS so unmittelbar vor der Fusion mit dem Westinghouse-Konzern nicht in einen Prozeß verwickelt werden, da man befürchten mußte, daß ein Prozeß der Aktiennotierung schaden würde, und zweitens besaß eine der CBS-Tochtergesellschaften, die Loews Corporation, die Zigarettenfirma Lorillard. Die Interessen des Kapitals und des Unternehmens wurden also über die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung gestellt.

Drei Monate zuvor hatte der Sender ABC ein ähnliches Abenteuer erlebt. Nachdem er in seinem Programm „Day One“ Philip Morris beschuldigt hatte, die Nikotinwerte zu manipulieren, wurde er von dem Tabakkonzern mit einem Prozeß und einer Schadenersatzklage in Höhe von 15 Milliarden Dollar bedroht. Auch ABC stand gerade kurz vor dem Verkauf (an Disney), und der Prozeß hätte empfindliche Kursverluste nach sich gezogen. Daher entschied sich der Sender für eine öffentliche Richtigstellung, die zwar nicht der Wahrheit entsprach, den Konzern aber von jedem Verdacht reinwusch.20

Wie kann man in einer Zeit, da sich die Verästelungen, Verflechtungen und Fusionen der großen Medienkonzerne mehren und das Klima immer kannibalischer wird, noch sicher sein, daß die Nachrichten, die einem präsentiert werden, nicht dazu da sind, die jeweiligen Firmeninteressen zu protegieren, sondern den Interessen des Bürgers verpflichtet sind? Woher nehmen wir in einer Welt, die zunehmend der Logik der Großunternehmen und den Handelsgesetzen einer WTO gehorcht und in der die nationalen Regierungen von der Entwicklung überrollt zu werden drohen – woher nehmen wir in solch einer Welt die Gewißheit, daß die Demokratie überleben wird oder sich sogar ausweiten läßt? Wie kann im Umfeld eines solchen Krieges der Giganten eine unabhängige Presse überleben?

DIESE große Herausforderung hat Le Monde diplomatique bislang bewältigt. In einer Zeit rückläufiger Entwicklung in den Printmedien hat unsere Zeitung es geschafft, neue Leser zu gewinnen. Zwischen 1984 und 1995 hatten sich unsere Verkaufszahlen bereits verdoppelt – von 86000 auf über 160000 Exemplare. 1996 ist die Kurve noch steiler geworden.

Offizielle Statistiken belegen, daß im Jahr 1996 allein in Frankreich durchschnittlich pro Monat 130150 Exemplare verkauft wurden, eine Steigerung von 17,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Gesamtverkaufszahlen (Frankreich, Ausland, Abonnenten) erreichten im Schnitt 180738 Exemplare, also 11,2 Prozent mehr als 1995. (Auch unsere Vierteljahresschrift Manière de voir hat im letzten Jahr ein Plus von 11,1 Prozent zu verzeichnen). Insgesamt also ist unsere Bilanz positiv, auch wenn die Werbeeinnahmen – mit weniger als 3 Prozent unseres Umsatzes – weiter gesunken sind.

In unserem Bemühen, auch außerhalb Frankreichs mehr Leser zu erreichen, haben wir nach und nach ein Netz von Partnern aufgebaut, die unsere Zeitung in ihren jeweiligen Sprachen herausbringen. In Italien ist dies die Tageszeitung il manifesto, in Deutschland die tageszeitung, in der deutschsprachigen Schweiz die WochenZeitung und in Spanien der L-Press-Verlag. Möglicherweise wird die arabische Vierteljahresausgabe demnächst wieder monatlich erscheinen. Weitere Ausgaben sind geplant, als nächstes in Mexiko. Eine ganz neue Erfahrung machen wir seit Januar: In London werden die wichtigsten Artikel jeder Ausgabe übersetzt und stehen fortan unseren englischsprachigen Partnern nicht nur in den USA, Irland und Großbritannien, sondern auch in Asien und Ostafrika über E-Mail zur Verfügung.

Mit unserer Internet-Website, die wir vor drei Jahren installiert haben, besitzen wir heute eine der begehrtesten Websites Frankreichs. Anfang 1997 verzeichneten wir bereits mehr als 150000 Zugriffe pro Woche. Auch unser CD-Rom-Angebot, das wir letztes Jahr mit der vollständigen Dokumentation unserer Zeitung aus dem Zeitraum November 1989 bis Oktober 1996 begonnen haben, werden wir laufend fortsetzen und dabei nicht nur aktuelle, sondern auch frühere Jahrgänge aufnehmen.

Trotz der insgesamt eher düsteren Perspektiven: Gute Nachrichten also für alle, denen an der Meinungsfreiheit liegt und die sich auch in Zukunft verläßliche Informationen wünschen, die sich den Grundwerten der Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit verpflichtet fühlen und aus diesem Motiv heraus im letzten Jahr der Leservereinigung „Amis du Monde diplomatique“ beigetreten sind. Zur Sicherung der Unabhängigkeit unserer Zeitung haben wir uns zum Ziel gesetzt, daß die „Amis du Monde diplomatique“ zusammen mit der aus der Belegschaft bestehenden „Association Gunter Holzmann“ in den Besitz von über 33,4 Prozent des Stammkapitals der Zeitung kommen und so über eine Sperrminorität verfügen sollen, um jede mögliche feindliche Einflußnahme zu verhindern.

Zu diesem Zweck benötigt die Vereinigung „Amis du Monde diplomatique“ ein Kapital von 10 Millionen Franc. 8650000 Franc sind bereits vorhanden. Damit ist das Ziel nicht mehr fern, wenn jeder, dem ein engagierter Journalismus dies wert ist, zu einem – gegebenenfalls erneuten – finanziellen Beitrag bereit ist. Sich zu informieren ist mühsam und kostet Geld. Doch unabhängige, rebellische Information ist in unserer Zeit unbezahlbar.

dt. Sabine Scheidemann

Fußnoten: 1 „Die Sun unterstützt Blair“. 2 El Pais, Madrid, 19. März 1997. 3 Libération, Paris, 19. März 1997. 4 Correspondance de la presse, Paris, 21. März 1997. 5 Vgl. das Dossier „The Crushing Power of Big Publishing“, The Nation, New York, 17. März 1997. 6 Correspondance de la presse, 27. Februar und 11. März 1997. Vgl. auch Dan Schiller, „Marktplatz Internet“, Le Monde diplomatique, März 1997. 7 La Repubblica, Rom, 19. Februar 1997. 8 Ibid. 9 Vgl. Armand Mattelart, „Von der Kanonenbootpolitik zu einer Diplomatie der Netze“, Le Monde diplomatique, August 1995, und „La Mondialisation de la communication“, Paris (PUF, coll. „Que sais-je?“) 1996. 10 Time, New York, 9. Dezember 1996. 11 Le Monde, Paris, 26. November 1997. 12 La Tribune, Paris, 20. März 1997. 13 Le Nouvel Observateur, Paris, 20. Februar 1997. 14 Le Monde, 8. März 1997. 15 Le Monde, 8. Februar 1997. 16 Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), italienischer Gelehrter der Renaissance, der für sein enzyklopädisches Wissen berühmt war. 17 Vgl. Télérama, Paris, 29. Januar 1997. 18 1985 taten dies nur 34 Prozent, Le Monde, 23. März 1997. 19 Arnaud Mercier, „Le journal télévisé. Politique de l'information et information politique“, Paris (Presses de la Fondation nationale des sciences politiques) 1997, S. 13. 20 Vgl. Serge Halimi, „Industriels solidaires“, Le Monde diplomatique, November 1995.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von IGNACIO RAMONET