Der leuchtende Pfad der Wettbewerbsgesellschaft
Seit 1984 hat Neuseeland einen radikalen Kurswechsel vollzogen: Vom Paradebeispiel des Sozialstaats ist das Land zum Modellversuch der Konkurrenzgesellschaft geworden. Die globalen „Entscheidungsträger“ haben das Land mittlerweile zum Musterschüler ausgerufen und fordern die „rückständigen“ europäischen Länder auf, sich an den wegweisenden Schritten dieses Landes ein Beispiel zu nehmen. Es war eine kleine Gruppe hoher Regierungsbeamter, die dem Land diese dramatische Umwälzung verpaßt hat: Ihr ist es gelungen, eine Partei der Linken auf wirtschaftsliberale Vorstellungen zu verpflichten.
Von SERGE HALIMI
NEUSEELAND erlebt zur Zeit einen regelrechten Polittourismus. Die beiden Inseln im Pazifik genießen offenbar den Ruf eines Soziallabors, in dem alle Versuche gelingen. Hier soll der Welt der leuchtende Pfad der Wettbewerbsgesellschaft gewiesen werden. Der ultraliberale Leitartikler einer amerikanischen Tageszeitung hat sich bereits – unter dem drohenden Titel „Europa muß sich an Neuseeland ein Beispiel nehmen“ – zu dem Satz hinreißen lassen: „Wäre das Wirtschaften eine olympische Disziplin, hätte Neuseeland schon einen Haufen Goldmedaillen gewonnen.“1
„Neuseeland erzielt fortwährend bemerkenswerte Resultate“ heißt es im ersten Satz eines OECD-Länderberichts.2 Und sämtliche Institutionen, Stiftungen und Publikationsorgane des real existierenden Kapitalismus stimmen in das Loblied ein: Die WHO gratuliert, die Weltbank und das Commonwealth-Sekretariat schicken fast jeden Monat eine Delegation vorbei, der französische Arbeitgeberverband CNPF empfiehlt dem eigenen Land nachdrücklich, das Vorbild der Antipoden „nachzuahmen“. Selbst das internationale Wochenblatt der „Entscheidungsträger“ sieht sich versucht, seine berühmte Zurückhaltung aufzugeben, und läßt seine Leser wissen: „Sie werden sich fragen, weshalb sich der Economist so ausführlich mit Neuseeland befaßt: einfach weil die Reformmaßnahmen, für die diese Zeitung eintritt, in Neuseeland seit einem Jahrzehnt erfolgreich durchgeführt werden.“3
Murray Sherwin, der Vizepräsident der neuseeländischen Zentralbank, findet all die Lobeshymnen fast schon lustig: „Neuerdings geben sich hier in Wellington die Politiker, Unternehmer und Journalisten die Klinke in die Hand. Sie kommen aus Asien, Europa und Lateinamerika: das Studium unserer Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen und der Reformen im öffentlichen Dienst hat beinahe industrielle Dimensionen angenommen.“ Im Mai wird Helmut Kohl in Neuseeland erwartet, im kommenden Jahr ist Präsident Clinton dran.
Jane Kelsey lehrt Recht und Ökonomie an der Universität Auckland. Beim Gespräch in ihrem Büro kommt sie gleich auf das Thema, zu dem man ihr schon hundertmal dieselben Fragen gestellt hat: „Unser Land galt immer als Urbild des Wohlfahrtsstaats, wir haben schon 1893, als erster Staat, das Wahlrecht für Frauen eingeführt, wir waren weltberühmt für unser ökologisches Engagement, waren grün orientiert und atomwaffenfrei. So fragt sich jeder Beobachter, wie es möglich war, daß dieses Land über Nacht zum Musterfall neoliberaler Politik werden konnte. Und erst recht, wieso ausgerechnet eine Labour-Regierung mit ihrer sozialdemokratischen Tradition die wesentlichen Schritte hierzu unternommen hat.“
Am 14. Juli, als alles begann
NEUSEELAND ist ein Lehrbeispiel, aber in anderer Weise, als man dort glaubt. Bei genauerer Betrachtung sind seine wirtschaftlichen Erfolge keineswegs sensationell. Zufriedenstellend sind nach den freilich nicht eben anspruchsvollen Maßstäben der OECD immerhin die Arbeitslosenquote ebenso wie der Prozentsatz der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze bleibt. Das liegt zum Teil daran, daß man das soziale Netz nicht zerrissen, sondern nur etwas tiefer gehängt hat, außerdem daran, daß die Wirtschaft des Landes vom allgemeinen Aufschwung im asiatisch-pazifischen Raum profitiert. Das Wachstum jedoch erreicht knapp einen Durchschnittswert4 , das Bildungsniveau ist mäßig, die Produktivität stagniert, die Handelsbilanz ist negativ und der Währungskurs durch die horrenden Realzinssätze überhöht. Völlig unangebracht sind so gesehen die ebenso dürftigen wie selbstgefälligen Lektionen, die gewisse neuseeländische Zeitungen dem Rest der Welt erteilen: daß etwa Australien seine wirtschaftlichen „Reformen“ nicht genug vorantreibe oder daß Europa die Subventionen in der Landwirtschaft abbauen müsse.
Doch als Studienobjekt für die Frage, wie man eine Gesellschaft von Grund auf umwälzen kann, um ein umfassendes Primat des Marktes durchzusetzen, ist Neuseeland durchaus exemplarisch. Hier wird vorgeführt, wie systematisch sich die Mittel der ideologischen Kriegführung und des politischen Voluntarismus einsetzen lassen, wie man auf „Modernität“ fixierte Überläufer aus der Linken zunächst bekehrt und anschließend korrumpiert oder fallenläßt, wie man sich die Uneinigkeit unter den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Aktivisten und die Tatsache zunutze macht, daß sich die Intellektuellen lieber mit der „Zivilgesellschaft“ und den „Minoritäten“ befassen als mit dem Volk und der Wirtschaft ...
Da es sich bei alledem um eine Revolution handelt, begann die Geschichte passenderweise an einem 14. Juli: Am 14. Juli 1984 kam die Labour Party an die Regierung, ohne schon zu ahnen, daß es ihr beschieden sein würde, dem schrankenlosen Kapitalismus zum Durchbruch zu verhelfen. Davor hatte das Land eine große Stabilität demonstriert, und zwar politisch (in 29 von 35 Jahren hatte die Rechte die Regierungen gestellt) wie vor allem ideologisch. Keynesianismus und Sozialstaatsidee waren weithin dominierende Ideen, was auch für die Konservativen von der National Party galt. Ihr damaliger Führer Robert Muldoon, Premierminister und Finanzminister seit 1975, war ein offener Befürworter jener staatsinterventionistischen und protektionistischen Grundsätze, denen das Land seinen Wohlstand verdankte. Er zögerte nicht, einen Lohn- und Preisstopp zu dekretieren oder den Staat in ebenso kostspielige wie riskante Wirtschaftsunternehmungen (die sogenannten think big projects) zu verwickeln. Ronald Reagan hin, Margaret Thatcher her – weder der Umschwung in den USA noch der in Großbritannien vermochte der neuseeländischen Rechten den Glauben an die großen Kombinate zu nehmen. Das konnte sich nur ändern, wenn Robert Muldoon abtrat. Und er trat ab.
Der Gang der Ereignisse wird verständlicher durch die Ausführungen von Donald Brash, dem derzeitigen Leiter der neuseeländischen Zentralbank, die eine Art Staat im Staate darstellt. Brash war von 1966 bis 1971 bei der Weltbank in Washington tätig, wo er auch vom Keynesianer zum Monetaristen konvertierte. Vor einigen Monaten schrieb Brash in einer Würdigung von Friedrich Hayek, dem österreichischen Ökonomen und führenden Vertreter des Ultraliberalismus, Professor an der Universität von Chicago und Begründer der Mont-Pélérin-Gesellschaft: „Die neuseeländischen Reformen sind ganz im Sinne Friedrich Hayeks, auch wenn die Architekten dieser Politik sich dessen nicht immer bewußt waren. Schließlich hatte der Niedergang Neuseelands nach dem Zweiten Weltkrieg genau jene erbarmungslose Logik demonstriert, die Hayek in seinem Werk ,Der Weg zur Knechtschaft‘ dargelegt hatte. Seit Ende der dreißiger Jahre herrschte in Neuseeland tatsächlich eine der ersten Formen des Wohlfahrtsstaats – eine Art von Knechtschaft, auch wenn sie sich von der anderen Art unterschied, die mit Polizeistaat und Konzentrationslagern verbunden war und die in Europa dominierte, als Hayek [1944] sein Buch veröffentlichte.“
Nachdem er diesen Unterschied immerhin zugestanden hat, fährt Brash fort: „1984 wurde möglich, weil der geistige Widerstand gegen jene intellektuelle Konterrevolution, die Hayek in den vierziger Jahren begonnen hatte, vollständig zusammengebrochen ist. Der neue Wind in der wirtschaftstheoretischen Diskussion war das Werk einer kleinen, aber strategisch gut plazierten Gruppe von hohen Staatsbeamten, Intellektuellen und Politikern, die Roger Douglas um sich geschart hatte.“5 Tatsächlich war Roger Douglas der führende Kopf, weshalb die „Reformen“ auch als „Rogernomics“ bezeichnet werden. Heute ist er Vorsitzender der kleinen ultraliberalen Oppositionspartei ACT und als internationaler „Berater“ tätig, aber von 1984 bis 1988 war er Finanzminister der Labour-Regierung.
Die Äußerungen von Donald Brash beleuchten die Rolle, die bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungen in Neuseeland der Kampf der wirtschaftspolitischen Ideen spielte – und der in diesem Fall mit dem Sieg der Auffassungen von Friedrich Hayek und Milton Friedman endete. Deutlich wird aber auch, welch starken Rückhalt das liberale Dogma schon seit 1980 im rechten wie im linken Lager gefunden hatte und daß damit der politische Machtwechsel für das Kapital zu einem Spiel ohne Risiko geworden war. In dieser Hinsicht bot Neuseeland nur ein frühes und weit vorgreifendes Beispiel für eine Entwicklung, die sich seither auch in Frankreich (in den Amtsperioden François Mitterrands), in den USA (unter der Präsidentschaft Bill Clintons) und in Großbritannien (mit der Bekehrung Tony Blairs zum Thatcherismus) abgespielt hat. Ganz zu schweigen von all den anderen Abtrünnigen.
Um eine Roßkur gegen die „Zwänge“ des Sozialstaats verschreiben zu können, brauchte man jedoch den Vorwand einer Krise. Sie ergab sich in Gestalt der Währungsturbulenzen von 1984, bei denen sicher auf höchster Ebene im Finanzministerium etwas nachgeholfen wurde, um Premierminister Muldoon (genannt „der letzte Sozialist“) loszuwerden, der für einen Konservativen entschieden zu wenig Begeisterung für das Vorbild Margaret Thatcher zeigte. Tatsächlich herrschte eine wirtschaftliche Stagnation, begleitet von einem dramatisch wachsenden Defizit der Zahlungsbilanz. Rob Allen, Generalsekretär der Labour Party, erinnert sich an die damalige Situation: „Die Landwirtschaft operierte in einem weitgehend protektionistischen Umfeld. Bis in die sechziger Jahre genossen wir eine Wohlstandsära in einer Art Ferienkolonie. Die National Party sorgte für die Bauern, wir für die Gewerkschaften. Aber dann haben wir begriffen, daß wir endlich aufwachen und unseren Platz in der Welt erkämpfen mußten. Die National Party wollte jedoch den Status quo und ihre sozialistischen Staatsinterventionen nicht aufgeben. 1982 und 1983 steuerten wir geradewegs auf den Abgrund zu.“
Die neuen Kräfte in der Labour Party gingen sofort daran, einen Kurswechsel einzuleiten. Als Leitstern diente ihnen, was Rob Allen freimütig als die „Ideologie der neuen Rechten“ bezeichnet. Aber er relativiert diese Aussage sofort: „Eine ganze Reihe von Reformen waren erforderlich. Neuseeland durfte nicht länger von der übrigen Welt isoliert bleiben, wir mußten uns an die modernen Wirtschaftsformen anpassen. Natürlich hat das Tempo, das wir dabei vorlegten, eine Menge Opfer verlangt, und zwar gerade von unserer eigenen Wählerschaft. Aber die Wirtschaft war einfach dem System in den Ländern des Ostens zu ähnlich geworden – sie funktionierte nicht mehr. Der Staat mußte sich zurückziehen.“
Wenn man in Neuseeland mit den Leuten spricht, die als Akteure oder Beobachter die große neoliberale Transformation6 miterlebt haben, bekommt man häufig die gleiche Geschichte aus entgegengesetztem Blickwinkel erzählt. Die große Mehrheit jener Rechten, die nach der Beseitigung von Robert Muldoon die von den Sozialdemokraten begonnenen „Reformen“ zu Ende führen konnte, stellt es so dar, als ob vor 1984 alles ganz schlimm gewesen wäre und seither alles zum besten stünde – zumal seit 1990, als die National Party mit einem auf den Thatcher-Reagan-Kurs getrimmten Programm wieder an die Macht kommen konnte. Ganz anders sehen es jene Linken, die sich mit den Sozialdemokraten überworfen haben (die Alliance Party, eine grün-rote Gruppierung, erreicht einen Stimmenanteil von etwa 10 Prozent). Für sie steht außer Frage, daß sich der heiter kommunitäre Garten Eden, der Neuseeland in den sechziger Jahren war, seitdem in Dantes Inferno verwandelt hat. Lediglich die Sozialdemokraten kommen mit ihrer Darstellung ein wenig ins Schwimmen, weil sie ihre „kapitalistischen“ Reformen weder schamhaft verschweigen noch richtig stolz vorzeigen können: „Die Labour Party ist von ihren früheren Positionen bewußt nach links abgerückt“ meint Rob Allen. „Wir mußten schließlich eine Bilanz unserer Regierungsarbeit ziehen und mit dem Gespenst der achtziger Jahre fertigwerden.“
Nichts ist so natürlich wie die Freizügigkeit und der Wettbewerb, und nichts erfordert so viele Eingriffe, Gesetze, Verbote und Bestimmungen: Der Maastricht- Vertrag ist ein Dickicht von Zwängen, für das Nafta-Abkommen war ein Text von 2000 Seiten nötig, und die Liberalisierung des Arbeitsmarktes nach englischem Muster brauchte sieben Gesetze zur Unterdrückung der Gewerkschaften. Also mußte auch in Neuseeland die Regierungsmaschinerie auf vollen Touren laufen, um eine Wettbewerbsgesellschaft zu erzeugen. Es galt, den Bauern die Subventionen zu streichen und die Telekommunikation, die Banken, die Eisenbahnen und die Forstverwaltung zu privatisieren. Überall (selbst in den Schulen, den Krankenhäusern und den kulturellen Einrichtungen) sollte das heilige Prinzip der Effizienz und Kostenkontrolle eingeführt werden, Gesetze mußten her, um der Zentralbank die ausschließliche Kontrolle der Währungspolitik zu übertragen, eine Verbrauchssteuer (von 12,5 Prozent) mußte eingeführt werden, um die Senkung der Einkommensteuern auszugleichen, Gesetze waren nötig, um das Arbeitsrecht dem Handelsrecht anzupassen, weitere Gesetze, um Beamtenstellen abzubauen und alle Führungspositionen mit Angestellten zu besetzen, außerdem mußten die Sozialleistungen gekürzt und das Rentenalter um fünf Jahre herabgesetzt werden.
Zur detaillierten Umsetzung seiner Strategie meinte Roger Douglas: „Versucht es nicht mit kleinen Schritten, sondern legt eure Ziele eindeutig fest und rückt ihnen in großen qualitativen Sprüngen näher. Sobald die Umsetzung des Reformprogramms begonnen hat, muß sie ohne Zwischenstopp zu Ende geführt werden – für die Gegner ist es wesentlich schwieriger, euch zu treffen, wenn sie auf bewegliche Ziele feuern müssen.“7 Der Wirtschaftswissenschaftler Brian Easton, der ein brillantes Buch über die „Kommerzialisierung Neuseelands“ veröffentlicht hat, kommentiert: „Dieser Ansatz unterstellt, daß der Widerstand gegen die Reformen nur von den Privilegierten ausgeht, die ihre ,angestammten Vorrechte‘ wahren. Andere theoretische Einschätzungen werden in keiner Weise zur Kenntnis genommen. Das ist um so paradoxer, als das Rezept erstmals bei einer Zusammenkunft der von Friedrich von Hayek gegründeten Mont-Pélérin-Gesellschaft dargelegt wurde.“8
Die Gegner Muldoons an die Macht!
DASS die Labour Party bei der großen Wende eine führende Rolle gespielt hat, wirkt zunächst erstaunlich, läßt sich aber unter zwei Aspekten erklären. In der Regierung war man sich durchaus nicht immer im klaren, wohin die Reise ging: Den Gang der Dinge bestimmte nur der kleine Kreis des jeweiligen Wirtschaftsministers und seiner Experten. An der Basis ging es um andere Themen und Probleme, die sehr wohl ihre Berechtigung hatten: das Engagement für die Umwelt und gegen die Kernwaffen, für die Rechte der Frauen und der Homosexuellen, für die kulturellen und sozialen Ansprüche und finanziellen Entschädigungsforderungen der Maori. Und keiner konnte sich vorstellen, daß der neue wirtschaftspolitische Kurs einen unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandel bewirken würde.
Peter Harris, Führungsmitglied des neuseeländischen Gewerkschaftsbundes, kommt zu folgendem Schluß: „Die Regierung Muldoon war äußerst konservativ und autoritär. Deshalb erhielt die Labour Party Unterstützung von allen Seiten, sie wurde allmählich zu einer Koalition der Gegner Muldoons, in der natürlich die Gewerkschaften zu finden waren, aber ebenso die Umweltschützer, die Feministinnen, die Gegner der Rassendiskriminierung. Und sogar die Neoliberalen. Als die neue Regierung installiert war, ging es allen nur um ihre eigenen Forderungen: Die Pazifisten erwarteten den Austritt aus dem Militärbündnis unter amerikanischer Vorherrschaft, die Antiapartheid-Bewegung forderte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Südafrika, die Gewerkschaften bestanden auf einer Stärkung des Streikrechts. Hinzu kam, daß die sozialdemokratische Basis von Volkswirtschaft keine Ahnung hatte und sich ganz auf ihre Führung verließ.“
Ähnlich sieht es Bruce Jesson, einer der einflußreichsten Linksintellektuellen des Landes: „Als zwei, drei Minister der Labour Party auf den neoliberalen Kurs der neuen Rechten einschwenkten, war man in den intellektuellen Kreisen überrascht und unfähig zur Gegenwehr. Die Gegner der Reformen schwiegen, um den Kampf von Premierminister David Lange gegen die Atomversuche nicht zu gefährden (im Juli 1985 erfolgte der Anschlag des französischen Geheimdienstes auf die Rainbow Warrior). Und auch die Gewerkschaften regten sich nicht, da man den Grundsatz nicht angetastet hatte, daß in bestimmten Branchen nur Gewerkschaftsmitglieder eingestellt werden konnten.“
Ursprünglich hoffte die Labour Party, sowohl die staatlichen Aktivitäten – die ökologisch und finanziell ruinösen big projects – zu begrenzen als auch „Schluß zu machen mit der Privatisierung“ von öffentlichen Unternehmen, die damals erst in geringem Umfang stattfand. Weder der neue Premierminister Lange noch sein Stellvertreter Geoffrey Palmer verstanden etwas von Wirtschaftsfragen – beide waren von Beruf Rechtsanwalt. Sie überließen die wesentlichen Entscheidungen in diesem Bereich einer Minister-Troika, der Roger Douglas, Richard Prebble und David Craygill angehörten. Douglas und Prebble sind inzwischen ins Lager der Rechten abgewandert ...
Allerdings bezog diese Troika ihre Vorstellungen ihrerseits von einigen hohen Beamten im Finanzministerium. Diesen Spezialisten, die ihre Kenntnisse meist bei der OECD, der Weltbank oder an amerikanischen Universitäten erworben hatten, ging es darum, ihr Land zu einem Musterbeispiel der Wettbewerbsgesellschaft zu machen. Was ihnen der konservative Robert Muldoon verwehrt hatte, wurde nun unter dem Sozialdemokraten David Lange möglich. So wie die ultraliberalen Spitzenbeamten die drei Minister bekehrt hatten, so überzeugten diese den Premierminister und Geoffrey Palmer, und diese fünf Regierungsmitglieder ließen dann die Vorschläge im Kabinett absegnen. Am Ende stand hinter dem Kabinett ein erheblicher Teil der Labour-Fraktion, die im allmächtigen Parlament über die Mehrheit verfügte. Das internationale Klima war äußerst günstig. Donald Brash erinnert sich: „Ende 1984 setzten sich die Finanzminister von sechs OECD-Staaten (Neuseeland, Australien, Spanien, Frankreich, Schweden und Großbritannien) für die Liberalisierung ein. Und mit einer Ausnahme [Großbritannien] handelte es sich bei allen um Regierungen der Linken.“9
Selten dürfte eine Revolution so ideologisch bestimmt gewesen sein. Im Finanzministerium war man völlig überzeugt von den Theorien, die an der Universität von Chicago vertreten wurden – und dort galt theoretische Stringenz stets mehr als die konkreten Fakten, die allzu leicht die Perfektion eines Denkmodells beeinträchtigen können. Die Gesellschaft würde sich dem Modell schon zwangsläufig fügen. Sie paßte sich tatsächlich an, mehr schlecht als recht. Und auch wenn Donald Brash heute einräumt, daß „sich die Neuseeländer in der stürmischen Entwicklung der letzten zwölf Jahre skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gezeigt haben“, so haben manche die Anpassung erheblich besser als andere geschafft. Brian Easton allerdings betont, „daß der politische Erfolg der Anhänger der Kommerzialisierung sich weder aus ihrer intellektuellen Brillanz erklärt noch aus ihrer Fähigkeit, dem Trommelfeuer der Kritik und des Zweifels standzuhalten. Die Wahrheit ist, daß eine kleine Gruppe am richtigen Ort war und die nötige politische Unterstützung erhielt, so daß sie ihre strategische Position und ihren exklusiven Zugang zu Wirtschaftsinformationen nutzen konnte, um alle anderen Konzepte zu verhindern und zu zerschlagen.“
Der „richtige Ort“ war das Zentrum des Staatsapparates. Roger Kerr leitet heute den „Business Roundtable“, eine Unternehmerlobby, der die Führer der sechzig größten Unternehmen des Landes – inzwischen überwiegend ausländische Firmen – angehören, doch bis vor einigen Jahren bekleidete auch er eine hohe Stellung im Finanzministerium. Er gibt ziemlich bereitwillig zu, daß „die Pläne für die neuseeländischen Reformen aus den Reihen des öffentlichen Dienstes kamen, aus der Finanzverwaltung und aus der Zentralbank. Die Kritik am Keynesianismus und der Wunsch, die strukturelle Anpassung einzuleiten, wurden uns auf den internationalen Konferenzen nahegebracht, die OECD, Weltbank und IWF veranstaltet hatten. Wir waren auch stets auf dem laufenden über die Veröffentlichungen der think tanks, etwa des Cato Institute, der Heritage Foundation, des Institute for Economic Affairs in London. Ich selbst bin Mitglied der Mont-Pélérin-Gesellschaft, und ich habe mich sehr bemüht, all diese Kontakte aufrechtzuerhalten.“10
Jede dieser „Reformen“ zog eine weitere nach sich. Um die Finanzkrise zu überwinden, gab die Labour-Regierung zunächst den Wechselkurs des Neuseeland-Dollars frei. Dann verzichtete sie auf die Kontrolle des Kapitalverkehrs und der Geldpolitik. Im nächsten Schritt wurden die Subventionen für die Landwirtschaft und die Industrie abgebaut, die teilweise so überhöht waren, daß man sie nicht mehr rechtfertigen konnte. Es folgten die Liberalisierung des Außenhandels und dann die Privatisierungen. Geoffrey Thomson, Anwalt für Wirtschaftsrecht und Präsident der National Party, läßt sich in Wellington in seiner prachtvollen Anwaltspraxis interviewen: „Als erstes nahmen sich die Labour-Politiker die Bauern vor“, erklärt er. „Douglas hat sich gesagt: ,Das macht nichts, die stimmen sowieso nicht für uns.‘ Wir waren dagegen, nach unserer Ansicht darf der Wandel nicht zu Lasten einer bestimmten Gruppe gehen. Aber immerhin hat die Labour Party den Reformprozeß in Gang gesetzt. Natürlich hatte sie angesichts der Krise auch keine andere Wahl, und eigentlich ist sie mehr zufällig auf diesen Weg geraten: Der Zug war abgefahren, und sie konnte nicht mehr abspringen. Aber nachdem sie die Sache einmal angefangen hatte, hat sie sich doch sehr entschlossen gezeigt.“
Der Reformkurs kam nicht ohne Umleitungen aus. Da die Bauern alle Subventionen eingebüßt hatten, forderten sie nun, soweit sie nicht bankrott gegangen sind, die völlige Aufhebung der Handelsbeschränkungen. Sie hofften, aus eigener Kraft überleben zu können, wenn sie bei Gütern, Arbeitskräften und Transportmitteln die günstigsten Angebote herauspicken könnten. Das hatte zur Folge, daß sie auch für die Reduzierung der Staatsausgaben eintraten. Davon versprachen sie sich verminderte Zinslasten und einen billigeren Neuseeland-Dollar – was sich für ihre weitgehend exportabhängige Branche unmittelbar positiv ausgewirkt hätte. Seitdem konnte Roger Douglas darauf rechnen, daß die Bauern und die Kleinunternehmer auch die nachfolgenden „Reformen“ unterstützen würden, bis hin zur Beendigung der Staatsmonopole.
Anfangs hatte die Labour-Regierung erklärt, die Staatsbetriebe müßten wie Privatunternehmen geführt werden, um sie „effizienter“ zu machen, dann folgten massive Entlassungen11 , und schließlich wurden fast alle diese Unternehmen verkauft. Auch wenn Premierminister Lange und die Mehrheit seiner Minister es damals bestimmt noch nicht klar voraussahen: Die Umstrukturierung konnte nur eine Vorstufe zur Privatisierung bedeuten – also letztlich das Abtreten staatlicher Vermögenswerte an ausländische Käufer. Das wird aus der Aufzählung von Peter Harris deutlich: „Wir haben die Telekommunikation und die Eisenbahn an die Amerikaner verkauft, die Forstwirtschaft an die Amerikaner und die Japaner, die Banken an die Australier, die Versicherungen an die Briten und die Fluglinien an die Australier und die Briten.“
1990 erfuhr die Labour Party eine entscheidende Schwächung. Unter Führung des ehemaligen Vorsitzenden Jim Anderton verließ ein Teil des linken Flügels die Partei, um eine neue politische Gruppierung ins Leben zu rufen, aus der später die Alliance Party wurde. Am rechten Flügel schickten sich Douglas und Prebble an, eine kompromißlos neoliberale Bewegung (die ACT) zu gründen, weil David Lange ihnen nicht mehr die gewohnte Aufmerksamkeit schenkte – der Premier hatte beschlossen, daß es Zeit für eine Atempause sei („It's time for a cup of tea“). Dann kamen die Wahlen. Seit 1984 hatte sich die Arbeitslosenquote mehr als verdoppelt. Und die National Party übernahm wieder die Staatsgeschäfte.
Das Ende der Zweiparteienlandschaft
ROGER SOWRY, amtierender Sozialminister, faßt die Entwicklung der Reformen im Bild eines „Schemels mit drei Beinen“ zusammen: „In den ersten drei Jahren unter der Labour-Regierung (1984-1987) ging es um die Liberalisierung der Finanzmärkte, in den folgenden drei Jahren (1987-1990) um die Privatisierung der Staatsunternehmen. Als wir an die Macht kamen, haben wir den Stier bei den Hörnern gepackt und das erledigt, was die Sozialdemokraten nicht schaffen konnten. Sie hatten die Subventionen in der Landwirtschaft und in der Industrie abgebaut – das traf Schichten, die nicht zu ihrer Wählerschaft gehörten. Aber ihrer eigenen Klientel wollten sie nicht zu nahe treten: Die staatlichen Sozialleistungen blieben erhalten, und auch die Gewerkschaften genossen weiterhin Sonderrechte. Wir haben die Liberalisierung des Arbeitsmarkts durchgesetzt, die Höhe der Sozialleistungen verringert, die Forstwirtschaft privatisiert und privat geführte Gefängnisse zugelassen.“ In diesem Geiste erklärt Graeme Hunt in seinem Leitartikel in der National Business Review, einem wöchentlich erscheinenden Wirtschaftsblatt, mit feierlichem Ernst: „Es ist wie in Osteuropa: Wenn man das Volk erst einmal auf den Geschmack an der Demokratie gebracht hat, will es nicht mehr zurück. Auch ich denke an den Wohlfahrtsstaat, auf den ich einst so stolz war, nur noch mit Schrecken zurück.“
Das „dritte Schemelbein“ bedeutete folgendes: Am 15. Mai 1991 trat das Arbeitsvertragsgesetz (schon wieder ein Gesetz) in Kraft. Es schafft alle früheren Rechte der Gewerkschaften ab, es regelt das Streikrecht, und es gleicht die Sozialgesetzgebung an das Privatrecht an. Seither feiern die Unternehmer – allzeit zu Späßen aufgelegt – ihren Sieg jeweils am 1. Mai. Innerhalb von vier Jahren sank der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer um 45 Prozent, die Zahl der Streiktage ging auf ein Zehntel zurück. „Die Arbeitnehmer sind eben zufrieden“, meint der amtierende Arbeitsminister Max Bradford.
Inzwischen haben die Neuseeländer die „Reformen“ ebenso satt wie den Monetarismus. Als Phil Verry, Leiter der Behörde für die Wollproduktion, im Februar die Zentralbank wegen des überhöhten Währungskurses kritisierte, fand er harte Worte: „Das Ganze ist ein Wahnsinn. Aber die Verantwortlichen fühlen sich stark, weil sie von denen umworben werden, die von dieser Politik profitieren. Wir haben es satt, daß unsere Denkfähigkeit beleidigt wird von diesen anmaßenden Bürschchen, die sich Ökonomen nennen, uns im Auftrag von irgendwelchen Finanzinstitutionen mit ihren simplistischen Rezepten kommen und ihre Prognosen abgeben, die fast immer falsch sind.“12
Der Sozialstaat ist verkümmert, aber noch nicht abgestorben. Im Dezember 1990, während des Golfkriegs, stellte Finanzministerin Ruth Richardson13 die „Mutter aller Haushalte“ vor: In diesem Budget war eine (fallbezogene) Reduzierung der Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Renten, Witwen- und Invalidenrenten) um 5 bis 27 Prozent vorgesehen. Seither hat die Rechte begriffen, daß sie weiter nicht gehen kann: Die soziale Ungleichheit hat bereits ein Ausmaß erreicht, über das man im Finanzministerium lieber keine genauen Angaben macht14 ; inzwischen sind auch der Gesundheitsdienst und die höhere Schulbildung nicht mehr kostenlos. Aber es regt sich noch immer Widerstand gegen die kultische Verehrung des Geldes, des Individuums und der Effizienz – gestützt auf Traditionen der Solidarität in einer Inselgesellschaft, die auch durch zwölf Jahre der „Öffnung“ und der „Reformen“ noch nicht ausgelöscht sind. Noch ist Neuseeland nicht Amerika: Jeanette Fitzimons, die Spitzenpolitikerin der Grünen, räumt ein, daß die Obdachlosen „nicht allzu zahlreich sind“.
Vor vier Jahren haben die Wähler deutlich gemacht, daß sie nicht immer nur die Wahl haben wollen zwischen einer Labour Party, die sich herzlich wenig um die Welt der Arbeit schert, und einer National Party, die sich vornehmlich um ausländische Investoren kümmert: In einer Volksbefragung haben sie für die Einführung des Verhältniswahlrechts gestimmt. Seither gibt es drei neue politische Kräfte im Parlament, die Alliance Party auf der Linken, die ACT von Roger Douglas und Richard Prebble auf der Rechten – und die New Zealand First Party (NZFP), die nicht ohne weiteres einzuordnen ist.15 Für diese Gruppierung, die vom derzeitigen Vizepremier und Finanzminister Winston Peters geführt wird, haben zum Beispiel die Maori gestimmt; vom Establishment wird sie hingegen gehaßt und von den Intellektuellen verachtet. Die NZFP tritt gegen die bestimmende Rolle ausländischen Kapitals in der heimischen Volkswirtschaft an, was aber nicht heißt, daß sie fortschrittliche Positionen vertritt. Immerhin verdankt ihr die National Party, nach langem Feilschen um eine Koalitionsregierung, daß sie immer noch an der Macht ist.
Die neue Regierung hat einen Privatisierungsstopp angekündigt. Aber was gibt es überhaupt noch zu verkaufen? Die Post? Sie wird bereits wie ein Privatunternehmen geführt und hat fast die Hälfte ihrer Arbeitsplätze abgebaut. Die Krankenhäuser? Von einem leitenden Funktionär kann man die befriedigte Feststellung hören: „In diesem Bereich hat sich vieles gewandelt, im Einklang mit dem politischen Klima. Die Vorstellungen von einem staatlichen Krankenhaus, das der Allgemeinheit alle Grundversorgungsdienste kostenlos bietet, passen nicht mehr in die heutige Wirklichkeit.“16 Viel weiter kann man also nicht mehr gehen.
Dem Lobbyisten Roger Kerr, der die internationalen Wirtschaftsorganisationen und die Murdoch-Presse hinter sich weiß, geht das alles zu langsam: Er hätte gern noch mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern, die Abschaffung des Mindestlohns, strengere Maßstäbe bei der Berufsunfähigkeitsrente, die Heraufsetzung des Rentenalters auf 70 Jahre ... Der Parteiführer George Thomson kann ihn da halbwegs beruhigen: „Die Zeit der drastischen Reformen ist vorbei. Aber wir bleiben auf dem Weg des Wettbewerbs, des Handels und der Freiheit für das Kapital.“ Solange die Linke sich in Auflösung befindet, werden die „anmaßenden Bürschchen“ im Dienst der Finanzinstitutionen noch ein paar schöne Jahre haben.
dt. Edgar Peinelt