11.04.1997

Goldene Zeiten für geldgierige Franzosen

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Goldene Zeiten für geldgierige Franzosen

KRIMINELLE Finanzgeschäfte gibt es nicht nur auf dem Weltwirtschaftsmarkt, sie breiten sich auch in Staaten aus, in denen die Korruption alle Bereiche durchdrungen hat. Von Politikern und Parteien gedeckt, haben diese Praktiken in Frankreich längst auf den öffentlichen Sektor übergegriffen, ein gefundenes Fressen für die rechtsextreme Propaganda. Solange ihnen nicht eine unabhängige Justiz mit unnachsichtiger Strafverfolgung auch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus entgegentritt, wird der entfesselte Wirtschaftsliberalismus weiterhin die Fundamente der Republik unterhöhlen.

Von CHRISTIAN DE BRIE

Die Korruption – eine ewige Litanei, immer wieder von kurzatmigen Journalisten angestimmt, die den Müll der Welt auf den Schultern tragen; ein Refrain, bis zum Überdruß heruntergeleiert von hochrot angelaufenen Richtern, die ein bißchen vom Medienglanz abbekommen wollen. Hat dieses andere „älteste Gewerbe der Welt“ es wirklich verdient, daß jene, die alles ans Licht ziehen müssen, sich manisch damit befassen, während sich die öffentliche Meinung verschämt abwendet?1 Die Antwort scheint klar, lauscht man dem empörten Chor aus Beratergremien, Anwaltskanzleien, Kommunikationsabteilungen in den Großunternehmen, Arbeitgeberverbänden und einschlägigen Journalisten. Sie alle meinen, es sei höchste Zeit, das Komplott gegen all jene Staatsbediensteten und mutigen Unternehmenschefs aufzudecken, die in den Turbulenzen der internationalen Konkurrenz unermüdlich für den Erhalt von Arbeitsplätzen kämpfen.2

„Welche die Gründe auch sein mögen, all diese Affären sind eine Folge meiner mangelnden Ehrlichkeit. Als Präsident möchte ich mich aufrichtig beim Volk entschuldigen“ – solche Worte, wie sie kürzlich der ehemalige südkoreanische Staatschef äußerte3 , wird man in Frankreich nie zu hören bekommen. Indes existiert die Korruption à la française sehr wohl; einige Eigenschaften entsprechen dem Bild, das einem weltweit geboten wird; andere sind spezifisch französisch – vor allem das von der Mafia abgeguckte Laster, grundsätzlich alles abzustreiten, auch dann noch, wenn die Dinge klar auf der Hand liegen. Zu mehr als 90 Prozent spielt sich die Korruption außerhalb der öffentlich-staatlichen Organe, auf privater Ebene ab, wo sie längst zum Alltag gehört. Bestechung gehört zum Geschäft, auch wenn es um Säuglingsmilch für Entbindungskliniken geht. Kunden und Lieferanten von Waren und Dienstleistungen verfügen hier über fundierte Erfahrung.

Merkwürdigerweise interessiert diese Art von Korruption Justiz und Medien sehr viel weniger als jene 10 Prozent, bei denen ein Staatsbediensteter von einer Privatperson bestochen wird. Nur wenige Fälle werden aufgedeckt, meist zufällig oder durch einen Hinweis von außen, sei es, daß ein Konkurrent die Sache ans Licht bringt oder ein plötzlich ausgebooteter Kunde. Nur ein Bruchteil davon wird in Form einer politischen beziehungsweise Justizaffäre an die große Glocke gehängt. Korruption ist also nicht der Sand, sondern im Gegenteil das Schmierfett im Getriebe der Marktwirtschaft.

Korruption heißt, daß ein Bestechender einem zu Bestechenden etwas zukommen läßt, um einen unberechtigten Vorteil daraus zu ziehen. Das reicht von der Kiste Champagner für eine kleine Vergünstigung bis zu der festgesetzten Provision für die Erteilung eines Auftrags. Sie kann auf direktem oder indirektem Wege gezahlt werden, in Form von Vorkasse oder als Zahlung nach Erhalt. Man kann aber auch zu bestimmten Angeboten genötigt werden oder zu irgendwann in der Zukunft zu erbringenden Gefälligkeiten. Hier sind die unterschiedlichsten Formen denkbar: kostenlose oder besonders preisgünstige Sanierung von Privathäusern; kostenlose Hausangestellte, Autos oder Jachten; Traumreisen, die als Fortbildungen, Dienstreisen oder Kongresse deklariert werden; überhöhte Honorare für mehr oder weniger fiktive Berichte, Vorträge, Beratungen und Expertisen; zinslose und nicht zurückzahlbare Kredite; Beteiligung an Patenten oder Verkaufsoptionen; Bezüge für einen Verwandten oder Bekannten, die sich in klingender Münze und in Naturalien bemerkbar machen und deren Höhe sich eher nach den Bedürfnissen des Betreffenden als nach seinen Fähigkeiten richtet. Die Nachfolger der „Generation Mitterrand“ – der Premierminister und der derzeitige Pariser Oberbürgermeister, ihre Vorgänger, die Chefs des Parti républicain, Dutzende von Abgeordneten und Verwaltungsbeamten, Hunderte von leitenden Angestellten und Unternehmenschefs – haben auf die eine oder andere Weise von diesen Gepflogenheiten mit satten Beträgen profitiert.4

Bei allen sonstigen mehr oder weniger bedeutenden Affären, bei denen das integrierte Netz aus Wirtschaftskriminalität und Spitzenfunktionären aus Politik und Wirtschaft zum Zuge kommt, wird in den Steuerparadiesen unter dem Deckmantel des Bankgeheimnisses Geld gewaschen. Die klassische Variante ist das Schweizer Nummernkonto einer panamaischen Briefkastenfirma, die von einem Genfer Treuhänder verwaltet und von einer luxemburgischen Bank alimentiert wird – angeboten wird das Ganze als Paket. Sobald die Korruption systematische Formen annimmt, wird zwischen den Bestechenden und den Bestochenen ein Dienstleister zwischengeschaltet (als Planungsbüro, Scheinfirma oder Ausfertiger fingierter Rechnungen), die der Operation den Anstrich der Legalität verleihen, das Geld in Umlauf bringen und waschen und gegebenenfalls das Bauernopfer hergeben. Früher war das die Aufgabe von Leuten und Seilschaften aus der Unterwelt, die auf das Erstellen von Rechnungen spezialisiert waren5 ; heute kümmern sich Ableger und Spezialbüros der Unternehmen und politischen Parteien darum.

Drei Faktoren erklären die explosionsartige Entwicklung der Korruption in den letzten zwanzig Jahren. In erster Linie der Siegeszug der neoliberalen Ideologie und ihr Kult des Geldes, das zum einzigen Maßstab für beruflichen und sozialen Aufstieg geworden ist. In Frankreich ist dieser Ideologie in kürzester Zeit ein Teil der Spitzenfunktionäre im öffentlichen Bereich zum Opfer gefallen: Kabinettsmitglieder, Verwaltungsdirektoren und Chefs von verstaatlichten Unternehmen. Nehmen wir das Beispiel Crédit lyonnais. Nicht staatlicher Interventionismus hat diese Bank an den Rand des finanziellen Ruins getrieben, sondern die Abkehr von den Aufgaben eines öffentlichen Unternehmens zugunsten privater Bereicherung.6 Eine wachsende Zahl von Absolventen der Verwaltungseliteschule ENA nutzt ihre Position in der Verwaltungshierarchie, um in der Geschäftswelt Fuß zu fassen, quittiert dann – unter Mißachtung berufsständischer Regelungen 7 – den Dienst und wechselt in die private Wirtschaft.

Darüber hinaus hat die Globalisierung der Märkte und die Internationalisierung der Wirtschaft der Wirtschaftskriminalität unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet. Eine Kette aus Finanzparadiesen windet sich um den Globus, und ständig kommen neue hinzu. Hier ist man vor Verfolgung – ohnedies unwahrscheinlich – sicher. Die Früchte der Korruption, im Ausland besser geschützt und leichter manövrierbar als auf heimischem Boden, gelangen dorthin meist über ein Schweizer oder luxemburgisches Konto, das einer Gesellschaft aus Panama oder auf den Kanalinseln gehört. So kann sich ein Unternehmen in Frankreich, das eine Provision gezahlt hat, um einen ausländischen Staatsbediensteten zu bestechen und auf diese Weise einen Auftrag zu ergattern, der Strafverfolgung in Frankreich und anderswo bequem entziehen. Damit aber nicht genug, wird die Bestechungssumme im Falle eines Mißerfolgs auch noch zurückerstattet, vorausgesetzt, der Betrag wurde steuerlich deklariert.8

Durch die beschleunigte Privatisierung der öffentlichen Unternehmen hat sich auch die Rolle des Staates und der Gebietskörperschaften verändert. Sie sind nicht länger Dienstleistungsunternehmen, die alle Kunden gleich behandeln, sondern vergeben Aufträge an private Anbieter, die zu allem bereit sind, um einen Teil des Kuchens zu ergattern, dessen Jahresvolumen bei rund 700 Milliarden Franc liegt, wobei die Kunden gleich mitgeliefert werden. Darüber hinaus hat die systematische Deregulierung die vorsorglichen Kontrollen und Sicherheitsventile außer Kraft gesetzt, die verhindern helfen sollten, daß private und öffentliche Interessen miteinander kollidieren. Der Korruption haben sich Tür und Tor geöffnet, und Großunternehmen mit einem reich diversifizierten Angebot an Waren und Dienstleistungen haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Meister aller Klassen sind die Hoch- und Tiefbaufirmen und ihre zahllosen Dienstleistungsfilialen: Bouygues, Lyonnaise des eaux und Générale des eaux. Sie wurden wiederholt vom staatlichen Rechnungshof und seinen regionalen Abteilungen, den Chambres régionales des comptes, unter Anklage gestellt und beispielsweise mit Dutzenden anderer im Februar 1996 zu einer Geldstrafe von 380 Millionen Franc verurteilt – das sind mehr als hundert Millionen Mark, die höchste Strafe, die je vom Conseil de la concurrence, dem französischen Kartellamt, verhängt wurde. Der Grund: Absprachen bei der Aufteilung des TGV-Marktes – aber das stört sie nicht weiter. Sie kontrollieren nämlich auch einen Teil der Medien.

Organisierte Netze

DER Run auf das schnelle Geld begann mit der Dezentralisierung und der damit einhergehenden weitreichenden Autonomie der Regionen, Departements und Kommunen. Nachdem in den siebziger Jahren die Kosten der Wahlwerbung in immer schwindelerregendere Höhen gestiegen waren, nutzte man die neuen Möglichkeiten auf dezentraler Ebene für die Wahlkampffinanzierung. In allen Kommunen wurden zu diesem Zweck Planungsbüros eingerichtet; es sammelten sich Erfahrungen an, die später dazu beitrugen, wahre Korruptionsnetze zu entwickeln, deren bevorzugte Aktionsfelder die Gebietskörperschaften, die politischen Parteien sowie die Geschäftswelt wurden.

Solche Netze gibt es in ganz Frankreich, vom Elsaß bis nach Korsika, von der Seine-Maritime bis zum Languedoc, nicht zu vergessen die Überseedepartements, wo die Korruption die Günstlingswirtschaft der Parteien finanziert (des RPR auf Guadeloupe und in Französisch- Polynesien, der Sozialisten auf La Réunion, der Zentristen auf Französisch- Guyana und der Kommunisten auf Martinique). Drei Regionen allerdings bilden die Spitze: Île-de-France, Provence-Côte d'Azur und Rhône-Alpes. Als jüngst in Grenoble, der Hauptstadt der Dauphiné, ein ganzes Korruptionssystem aufgedeckt wurde, fiel vor allem auf, wie unterschiedlich die Hauptakteure von der Justiz behandelt wurden. Der große Herr der Lyonnaise des eaux, ehemals in Amt und Würden beim RPR, sollte nur als Zeuge geladen werden, während der junge Parvenü des lokalen Wirtschaftslebens von seiner politischen Familie fallengelassen wurde und ins Gefängnis wanderte.

Im französischen Süden hält – nach Marseille und Nizza in den achtziger Jahren – nun das Departement Var die Spitze, wo traditionell der Parti Républicain fest verankert ist. Kaum hatte sich der Parteivorsitzende aus einer vergleichsweise lächerlichen Affäre um die Finanzierung einer Grundstücksmauer und eines privaten Schwimmbads herausgewunden – der dazugehörige Wohnsitz wurde zu überaus günstigen Konditionen erworben –, da verlor er einen seiner treuesten Mitstreiter, den Bürgermeister von Cannes, der bis zum Hals in einer Erpressungsgeschichte steckt. Es geht um die Aufstellung von Geldspielautomaten in städtischen Spielkasinos. Betreiber ist ein Geschäftemacher, der kurz darauf im Gefängnis landete. Sein Sturz folgte dem eines alten „Paten“, der auch dem rechten Spektrum angehörte, dem früheren Bürgermeister von Toulon und Präsidenten des Conseil général (des obersten Exekutivorgans des Departements). In perfektem Einvernehmen mit der örtlichen Mafia und ihren internationalen Mittelsmännern hatte er systematisch das Var geschröpft, ein Departement mit sizilianischen Gepflogenheiten, das inzwischen eine Hochburg des Front National geworden ist. Ebenfalls im Var wurde ein anderer hoher Vertreter des Parti Républicain, der Präsident des Conseil général des lothringischen Departements Meuse, unter Anklage gestellt: Seine Villa in Saint-Tropez hat ein befreundeter Bauunternehmer errichtet; der Finanzierungsmodus ist noch unklar, Tatsache aber ist, daß das Unternehmen im Lothringischen bevorzugt öffentliche Bauaufträge erhält. Eine vergleichsweise kleine Mauschelei, die den Blick von einer Affäre mit ganz anderen Dimensionen ablenkt, in die auch das Ausland verstrickt ist und bei der es um die dubiose Finanzierung des Parti Républicain geht. Die Ermittlungen sind im Sande verlaufen.9

Aufgedeckt hingegen wird Schritt für Schritt das System der Korruption und Parteienfinanzierung in Paris und der Île- de-France, wo alle politischen Fäden in der Partei von Jacques Chirac, dem RPR, zusammenlaufen.10 Die systematische Privatisierung der städtischen Dienstleistungen hat den Markt öffentlicher Aufträge, den die RPR-Leute kontrollieren, auf Milliarden Franc aufgebläht. Seit zwanzig Jahren besetzen sie das Rathaus – Zeit genug, die Methoden zu verfeinern, die bereits in den sechziger Jahren von den Gaullisten eingeführt und von allen Parteien übernommen wurden. Die Technik ist denkbar einfach: Die Auftragsvergabe hängt von einer prozentualen Provision ab, die im vorhinein festgelegt wird. Im allgemeinen wird diese an ein Büro überwiesen, dessen Betreiber zuverlässig sind und als geheime Schatzmeister fungieren; offiziell treten sie auf als Chef eines Planungsbüros oder Berater. Für die gezahlte Provision liefern sie fingierte Leistungen oder Rechnungen. Danach wird die Provision weitergeleitet, entweder bar oder per Überweisung auf ein Auslandskonto, zu dem der wirkliche Nutznießer oder eine Vertrauensperson Zugang hat.

Da die Stadt Paris sowie Staatsbetriebe und gemischtwirtschaftliche Gesellschaften, die der Stadt unterstehen, jährlich Tausende von Aufträgen zu vergeben haben, ist die Finanzierungsquelle unerschöpflich. So stehen beispielsweise allein für die weiterführenden Schulen Dutzende von Aufträgen an: Reparaturen, Malerarbeiten, Kantinenbewirtschaftung usw. Die festgelegten Abläufe dieser Auftragsvergaben ermöglichen es, die Dinge stets in der Hand zu haben und im vorhinein zu wissen, wer den Zuschlag bekommt und zu welchen Konditionen.11 Unternehmen, welche die Spielregeln nicht akzeptieren – und die sind eine Seltenheit – scheiden automatisch aus: Nichts verbietet es, immer die gleichen Firmen zu bevorzugen, jene Hoflieferanten, die regelmäßig die lukrativsten Geschäfte absahnen, insbesondere dann, wenn es sich um Gleichgesinnte handelt.

„Racketville Paris“ – die französische Variante des mailändischen „tangentopoli“ (Schmiergeldstadt) – erstreckt sich auf die ganze Region der Île-de-France, und wenn es auch hie und da zu bröckeln beginnt – in den Departements Hauts-de- Seine, Essonne und Val-d'Oise und insbesondere in der Hauptstadt, wo diese Praktiken samt der dazugehörigen Akteure bis in die Staatsspitze hinein weitgehend aufgedeckt wurden12 –, so trotzt Racketville doch allen Strafverfolgungen. In Frankreich ist es nicht möglich, die Justizbehörden auf ähnliche Weise zu mobilisieren, wie es in Italien mit der Operation „Saubere Hände“ geschehen ist, in deren Folge die korrumpiertesten Teile der Christdemokraten und der Sozialisten von der Bildfläche verschwanden und die am schlimmsten belasteten Politiker und Wirtschaftsvertreter verurteilt wurden.

Das charakteristischste Zeichen der Korruption à la française ist die relative Straffreiheit. Seit sie zu Staatspräsidenten, Premierministern und Justizministern avanciert sind, haben die ehemaligen Herren der Hauptstadt ihrerseits alle Mittel an der Hand, um Druck auf die Justiz auszuüben, die in der französischen Republik als ein der Staatsmacht untergeordnetes Organ betrachtet wird. Man ernennt Staatsanwälte, die als brave Präfekten im Reich der Rechtsprechung funktionieren. Man weist ihnen Schlüsselpositionen zu, ja man schickt Hubschrauber los, um die Unterschrift eines von ihnen auf den Hängen des Himalaya einzuholen13 ; Verfahren werden abgetrennt; in anderen Fällen weigern Staatsanwälte sich, sie einzuleiten; wieder andere Verfahren werden verschleppt, blockiert und schließlich eingestellt; allzu neugierige Richter werden eingeschüchtert; die Kriminalpolizei verweigert die Zusammenarbeit14 und untergräbt die internationale Amtshilfe15 ; Telefone werden widerrechtlich abgehört, Zeugen, Täter und Ankläger unter Druck gesetzt – notfalls landen sie in der Psychiatrie, und auch ein Selbstmord wird in Kauf genommen.

Wo das nicht ausreicht, greift man auf zwei klassische Mittel zurück. Einerseits kündigt man, um die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken, feierlich eine weitreichende Reform an, die die Unabhängigkeit der Justiz und die Wahrung des Ermittlungsgeheimnisses garantieren soll – eine Reform, die just von jenen ausgeheckt wird, die die Unabhängigkeit der Justiz und das Ermittlungsgeheimnis torpediert haben. Andererseits ändert man die Spielregeln, also das Strafgesetzbuch, auf eine Weise, die jede Strafverfolgung von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Um der Strafverfolgung zu entgehen, üben die Unternehmen starken politischen Druck aus, damit Wirtschaftsdelikte aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, insbesondere jene Paragraphen, in denen es um Veruntreuung geht und die es gegebenenfalls erlauben, sowohl den Bestechenden als auch den Bestochenen wegen Hehlerei zu belangen (außerhalb eines solchen Verfahrens und als solche ist die Korruption schwer nachweisbar). Zwar ist es der Unternehmerlobby und ihren parlamentarischen Fürsprechern nicht gelungen, eine erneute Amnestie zu erwirken – die Regierungsmehrheit fürchtete die Reaktion der öffentlichen Meinung –, beim Kassationsgericht aber fand man offenere Ohren: Sorgsam wurde dort das Terrain für eine Amnestie vorbereitet.16

Es gehört zur Tradition der marktwirtschaftlichen Demokratien, daß nur die armen Diebe als Diebe gelten, während die reichen Diebe Reiche bleiben. Deshalb auch ist der ganze Justizapparat – von der Untersuchungshaft bis zum Strafvollzug nach der Verurteilung – so eingerichtet, daß Verfahren gegen kleine Gauner aus den unteren Schichten, die man vorab für schuldig befindet, die auf frischer Tat ertappt oder angezeigt oder zu einem Geständnis gepreßt wurden, rasch abgewickelt werden können.17 Daß dasselbe Gesetz auch auf Unternehmenschefs angewendet werden könnte – wenn auch unter Ausschöpfung sämtlicher Rechte und Garantien –, die weitaus größere Straftaten begangen haben, ist eine schockierende Vorstellung für jene Eliten, die eine andere Behandlung gewöhnt sind. Haftstrafen – selten genug – werden eher gegen Politiker als gegen Geschäftsleute verhängt. Unterdessen sitzen 55000 Gefangene in den Haftanstalten, von denen vermutlich schätzungsweise 40 Prozent unschuldig sind, aber dennoch wie Schuldige behandelt werden. Kein Wunder also, daß die Franzosen kein Vertrauen in ihre Justiz haben.18 Es ist reine Willkür, wenn die einen – etwa kommunistische und sozialistische Parteifunktionäre – verfolgt und bestraft werden, während andere, die dieselben Straftaten begangen haben – Funktionäre des RPR oder des Parti Républicain – unbehelligt gelassen werden. Während sie bei den Schwachen hart durchgreift, übt sie Nachsicht bei den Mächtigen, die, geschützt durch endlos sich hinziehende Verfahren, selten verurteilt werden. Diese Verfahren, mit ihren Dutzenden von Richtern, Kriminalpolizisten, Rechtsvertretern, Anwälten und Sachverständigen, mit ihren Hundertschaften von Zeugen und Tausenden von Aktenzeichen, sind nicht nur ineffizient, sondern kommen den Steuerzahler teuer zu stehen. In der Regel enden sie nach Jahren mit rein symbolischen Verurteilungen wegen Unterschlagungen, die alles andere als symbolisch sind.

Man bräuchte schon eine Justizrevolution, um gegen den schleichenden Verfall anzugehen – der keine französische Besonderheit ist, sondern alle Länder und Märkte ergreift. In den USA ist Präsident Bill Clinton (zusammen mit seinem Vizepräsidenten Al Gore) in einen Skandal um die Finanzierung seines Wahlkampfs verwickelt, während das ganze politische System in den Griff der korrumpierenden Lobbys geraten ist: 80000 Mann stehen in Washington bereit, um Druck auf 535 Abgeordnete auszuüben. In Japan wiederum hätte die Allianz aus Banken und Unterwelt mit Immobilienspekulationen beinahe das ganze Land ins Chaos gestürzt – drei von vier Japanern haben kein Vertrauen mehr in das politische und administrative System, das immer mehr in Abhängigkeit von einer korrumpierten Geschäftswelt gerät.19

In Großbritannien verkaufen konservative Parlamentarier ihre Auftritte im Unterhaus an Firmen, und in der City von London haben die Spekulationsgeschäfte bereits ein nicht mehr kontrollierbares Ausmaß erreicht20 . Innerhalb der Europäischen Union gibt es Betrügereien bei der regionalen Förderpolitik und der Mehrwertsteuer, und Pressure-groups zwingen Straßburg und Brüssel ihren Willen auf. In Deutschland geriet eine ganze Riege von Großunternehmern in den Verdacht, bei der Privatisierung von Kombinaten in der ehemaligen DDR gewaltige Geldsummen veruntreut zu haben. In Belgien haben Dassault, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, und die italienische Firma Augusta der Regierungspartei Schmiergelder gezahlt, um Aufträge im Militärbereich zu erhalten. Und auch in Italien steht die Strafverfolgung gegen Politiker und Geschäftsleute wegen Korruption weiterhin auf der Tagesordnung.

Ob man auf Rußland blickt, wo die neuen liberalen Kleptokraten (häufig dieselben Personen wie zur Sowjetzeit) sich als wesentlich geschickter erweisen als zu Zeiten der Nomenklatura, ob man China nimmt, wo fünftausend Parteifunktionäre wegen Korruption in Ungnade fielen, oder Süd-Korea, wo Anklage gegen die alte politische Führung erhoben wurde, deren Mitglieder gewaltige Summen unterschlagen haben; ob man die Türkei betrachtet oder Indien, Pakistan, Marokko, Nigeria, Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Peru, Argentinien, Brasilien – die Korruption gehört überall zum Alltag.

Es ist vor allem die Globalisierung der Wirtschaft, die die Mechanismen und Akteure der nationalen Korruption immer offener mit den internationalen Kanälen der Wirtschaftskriminalität in Verbindung bringt.21 Ob es sich um Provisionen für die politischen Parteien handelt oder um Geld aus den Erpressungsgeschäften der russischen Mafia oder um die Gewinne aus dem Drogenhandel der kolumbianischen Kartelle bzw. der chinesischen Triaden – die fein aufeinander abgestimmten Methoden der Geldwäsche und die Netze, die die Finanzunternehmen und deren Filialen und Partnerbanken in den Finanzparadiesen um den ganzen Globus gespannt haben, sind stets die gleichen. Immer offener kooperieren Politiker, Unternehmen, Banken und die organisierte Kriminalität in echten Joint-ventures, wo alle Seiten ihre Dienste austauschen und voneinander profitieren.

So gesehen ist es fast lächerlich, wenn die extreme Rechte um Jean-Marie Le Pen nur die Politiker des Landes als korrupt an den Pranger stellt. Indem sich der Front National diesen Sündenbock ausgesucht hat, beabsichtigt er, eines Tages das Kind Demokratie mit dem Bad Politik auszuschütten – unter dem Schutz des big business und der diversen Mafias. Ein mildes Lächeln verdient auch der liberale Katechismus, wenn er verlautbart, die Korruption sei eine staatliche Angelegenheit: je kleiner der öffentliche Anteil und je größer der private, desto tugendhafter die Geschäfte; was man im Osten und im Süden nachprüfen kann, wo der Staat sich auflöst und die Korruption regiert.

Nichts deutet darauf hin, daß in absehbarer Zeit effektive internationale Regulationsmechanismen entwickelt werden. Vereinte Nationen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, OECD, G 7, Europäische Union und WTO reihum mögen sich noch so besorgt über die drohende Gefahr äußern, ihre Ansätze zur Lösung des Problems bleiben partikularistisch, und zudem scheuen sie die offene Konfrontation mit der Wirtschaft. Bis heute haben einzig die in einer kleinen Gruppe zusammengeschlossenen Richter, die den Genfer Aufruf unterzeichnet haben, und jene vierhundert französischen Richter und Staatsanwälte, die sich ihnen kürzlich anschlossen, die Dinge vorangebracht: Sie haben eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die es erlauben würden, „im Interesse der Gemeinschaft ein gerechteres und sichereres Europa zu errichten, wo Betrug und Kriminalität nicht länger weitgehende Straffreiheit genießen und die Korruption ausgerottet ist“22 .

dt. Eveline Passet

Fußnoten: 1 Vgl. Yves Mény, „La Corruption de la République, Paris (Fayard) 1992; „La corruption dans la vie publique“, Problèmes politiques et sociaux, Paris, 24. Januar 1997; „La corruption dans les démocraties occidentales“, Revue internationale des sciences sociales, September 1996; und „La justice face à la corruption“, Déviance et Société, September 1996. 2 Le Nouvel Observateur, Paris, 6. Februar 1997. 3 Erklärung von Präsident Kim Jong Sam, der in den Skandal um die Hanbo Steel verwickelt ist; Time, 10. März 1997. 4 Die früheren Unternehmensleiter von Alcatel und Elf beispielsweise konnten für sich mehrere Millionen Franc verbuchen. 5 Vgl. Jean Cosson, „Les Industriels de la fraude fiscale“, Paris (Le Seuil) 1971. 6 Das Finanzloch des Crédit lyonnais wurde kürzlich neu beziffert, und zwar auf 130 Milliarden Franc, das sind rund 40 Milliarden Mark. Siehe auch Christian de Brie, „Au carnaval des prédateurs“, Le Monde diplomatique, April 1995. 7 Insbesondere wird die Vorschrift umgangen, daß eine Karenzzeit von sechs Monaten eingehalten werden muß, ehe derjenige, der den Staatsdienst verläßt, in einem Unternehmen anfangen kann, das Geschäfte mit dem Staat abschließt. 8 Die einzige löbliche Ausnahme bilden die USA, wo die Unternehmen sich deshalb zum selben Zweck ausländischer Zwischenpersonen bedienen, die die Bestechung übernehmen. 9 Vgl. Denis Robert, „Pendant les ,Affaires‘, les affaires continuent“, Paris (Stock) 1996. 10 Vgl. Alain Guédé und Hervé Liffran, „Péril sur la Chiraquie“, Paris (Stock) 1996; „La Razzia, enquète sur les fausses factures et les affaires immoblilières du RPR“, Paris (Stock) 1995. 11 So das Splitten von Aufträgen, damit man solche unter 300000 Franc ohne Ausschreibung vergeben kann; Vorausabsprachen der Bewerber, um den zu bestimmen, der das kostengünstigste Angebot unterbreitet; Weitergabe relevanter Informationen an den künftigen Auftragsempfänger; Zuschnitt der Ausschreibung auf ein bestimmtes Unternehmen hin; Auftragsvergabe aufgrund herabgesetzter Preise, die dann später durch Aufschläge korrigiert werden; Subunternehmerverträge für den eigentlichen Nutznießer, der hinter dem scheinbar Beauftragten verborgen bleibt etc. 12 Vgl. Alain Guédé und Hervé Liffran, a. a. O., sowie die Untersuchungen von Le Monde. 13 Damit sollte eine Anklageerhebung gegen die Gattin des Pariser Bürgermeisters verhindert werden, die einen Gefälligkeitsbericht erstellt hatte, für den der Conseil général des Départements Essonne 200000 Franc zahlte. 14 Ihr Chef, den der Innenminister in seiner Funktion bestätigt hatte, sollte vom Pariser Appellationsgericht seines Amtes enthoben werden. 15 Es geht hier insbesondere um die Zusammenarbeit mit den Schweizer (siehe Denis Robert, a. a. O.) und den belgischen Justizbehörden im Zusammenhang mit der Strafverfolgung gegen die Unternehmenschefs von Merlin-Gerin und Dassault. 16 Der Gerichtshof betrachtet es nicht als Veruntreuung, daß ein Schmiergeld in Höhe von 760000 Franc (also von rund 230000 Mark) gezahlt wurde, um so die Erlassung einer Schuld von zehn Millionen Franc zu erreichen. Libération, 7. Februar 1997, und Le Monde, 8. Februar 1997. 17 Vgl. Philippe Robert, „La justice française et les affaires de corruption“, in Déviance et Société, a. a. O. 18 Le Monde, 31. Januar 1997. 19 Philippe Pons, „La dérive du modèle japonais“, Le Monde, 4. Juli 1996. 20 Siehe zum Beispiel den Sumitomo-Skandal mit einem Verlust von 3 Milliarden Mark bei London Metal Exchange, einem Warentermingeschäft mit Rohstoffen, Le Monde, 9. Juli 1996. 21 Vgl. Michel Chossudovsky, „Wie die Mafia die Weltwirtschaft unterwandert“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996; Denis Robert, „La Justice ou le chaos, Paris (Stock) 1996; Jean-Louis Hérail und Patrick Ramael, „Blanchiment d'argent et crime organisé“, Paris (PUF) 1996; und Ludwig Verduyn und Jean Vanempten, „Blanchiment, mode d'emploi“, Brüssel (Editions Luc Pire) 1997. 22 Denis Robert, „La Justice et le chaos“, a. a. O.; Le Monde 6. Februar 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von CHRISTIAN DE BRIE