11.04.1997

Wo Pyramiden wie Kartenhäuser zusammenfallen

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Wo Pyramiden wie Kartenhäuser zusammenfallen

Auch wenn sich im Laufe des April die Lage in Albanien stabilisieren sollte, werden die Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs noch jahrelang zu spüren sein. Im ärmsten Land Europas wußten die Pyramidenspieler, daß sie Hunderttausende von Gutgläubigen finden würden, und konnten auf das Einverständnis der Regierung Berisha rechnen. Das erklärt die Wut dieser Opfer des wilden Kapitalismus und der irreführenden Maxime „Bereichert euch!“.

Von IBRAHIM WARDE *

EINE verschwindend kleine Minderheit bereichert sich am Ruin der gesamten Bevölkerung.“ Mit diesem Satz hat Saint-Simon die Lage beschrieben, nachdem 1720 das von John Law inszenierte Geldschöpfungsprogramm des französischen Staates zusammengebrochen war. Der Satz könnte auch die aktuelle Situation in Osteuropa beschreiben, wo die „Pyramidengeschäfte“ reihenweise die Volkswirtschaften ruinieren.

Das Prinzip ist so alt wie die Welt: Das Geld der neuen Anleger wird nicht wirklich investiert, sondern lediglich benutzt, um die früheren „Anteilseigner“ auszuzahlen. Dieses System beruht auf der stetigen Anwerbung neuer Anleger, die so lange mit sehr hohen Zinssätzen angelockt werden, bis einfach keine neuen Anleger mehr aufzutreiben sind. Den Aufstieg und Fall dieser Pyramiden kann man auch als Parabel für die Hoffnungen und Enttäuschungen sehen, die der Übergang zur Marktwirtschaft ausgelöst hat. Außerdem veranschaulicht das relativ geringe Strafmaß für die betrügerischen Schwindler die unauflösliche Verflechtung von Finanzwelt und politischem Personal, die gleichermaßen von Korruption und Gangstertum unterwandert sind.

Bis zu der Tragödie in Albanien gehörte die berühmteste Pyramide der russischen Investitionsfirma MMM, deren Begründer Sergej Mawrodi in kürzester Zeit zum Volkshelden avancierte. Die mit einem Stammkapital von 1,1 Millionen Rubel gegründete Firma hatte Aktien im Gesamtwert von 1000 Milliarden Rubel ausgegeben. Obwohl die Firma beim Finanzministerium nicht registriert war, ihre Aktien also gar nicht notiert werden durften, wurden sie in unzähligen Verkaufsstellen und sogar in staatlichen Postämtern angeboten. Neu war auch, daß die Firma selbst für die Notierung ihrer Aktien sorgte und die Höhe ihrer fabelhaften Dividenden schon im voraus mitteilte.

Von Februar bis Juli 1994 stiegen die Aktien der Firma von 1600 auf 115000 Rubel. Das System brach jedoch zusammen, als Mawrodi verhaftet und angeklagt wurde – nicht etwa wegen Betruges oder unwahrer Behauptungen, sondern wegen Steuerhinterziehung: Der Staat forderte rückständige Steuern in Höhe von 50 Milliarden Rubel. Mawrodi holte zum Gegenschlag aus. Er startete eine gigantische Werbekampagne in allen großen russischen Zeitungen, er bezichtigte die Regierung, einen Rachefeldzug gegen ihn zu führen, und drohte sogar, seine „zehn Millionen Aktionäre“ zu einem Volksbegehren gegen die Politik der Regierung zu mobilisieren.

Um aus dem Gefängnis herauszukommen, ging er in die Politik. Praktischerweise war wenige Monate zuvor ein Geschäftsmann, der einen Moskauer Vorort in der Duma vertrat, ermordet worden. Gleich nach Bekanntgabe der Kandidatur Mawrodis bei den Teilwahlen beantragte ein Gericht seine Freilassung, gestützt auf eine von Präsident Jelzin erlassene Bestimmung, wonach ein Kandidat für einen Duma-Sitz nicht ohne Zustimmung des Obersten Gerichtshofes in Haft bleiben darf. Seine zentrale Wahlaussage lautete, seine Wahl werde eine erneute Notierung der MMM-Aktien ermöglichen. Außerdem versprach er, 10 Millionen Dollar aus eigener Tasche in den Wahlbezirk zu investieren, und gründete eine Partei, die sich aus Beiträgen von MMM-Aktionären finanzieren sollte, die an einer Rückerstattung ihrer Einlagen interessiert waren. Großsprecherisch unterstützte ihn der Ultranationalist Wladimir Schirinowski, der ihn als „Helden des Volkskapitalismus“ und „Opfer staatlicher Willkür“ hinstellte. Mawrodi schaffte den Spagat zwischen Geschäft und Politik. Er ließ zehn andere Kandidaten hinter sich und zog am 31. Oktober 1994 in die Duma ein. Ein stellvertretender Vorsitzender des Haushalts- und Finanzausschusses forderte sogar, der neue Abgeordnete solle „seinen reichen Erfahrungsschatz in die Ausarbeitung des anstehenden Wertpapiergesetzes einbringen“.

In Wirklichkeit funktioniert das Bankensystem außerhalb des Gesetzes oder vielleicht über dem Gesetz. Mittels Darlehen an den Staat, die dieser mit Aktienpaketen von Industriefirmen bezahlte, konnte sich vor kurzem eine kleine Finanzoligarchie die Filetstücke der Industrie des Landes unter den Nagel reißen. Diese Macht und die Art und Weise, wie sie ausgeübt wird, bringt freilich auch gewisse Gefahren mit sich. Allein 1996 sind 26 Bankiers, bei denen man die Einhaltung von „Abmachungen“ angemahnt hatte, eines nicht natürlichen Todes gestorben.

Solche oder ähnliche Affären haben alle Länder des früher kommunistischen Europas erlebt. Das von einer Art Goldrausch erfaßte Volk wird zur leichten Beute für einfallsreiche Finanziers, die sich Gesetzeslücken und die Attraktion des schnellen Reichtums zunutze machen. Und außerdem lockt die allgegenwärtige Werbung mit Fernreisen, Luxushäusern und schönen Autos. Werbefirmen schmieren Politiker, die als Gegenleistung – ausdrücklich oder stillschweigend – deren Machenschaften abdecken. Auch können sich die Finanzjongleure durch demonstrativen Bürgersinn und wohltätige Aktivitäten die Sympathien der Öffentlichkeit erkaufen. In ihrer Selbstdarstellung betonen die Pyramidensysteme schon sprachlich den mysteriösen Charakter ihrer zeitgenössischen Alchemie. In Rumänien behauptete der ehemalige Buchhalter Ion Stoica als Gründer der Investitionsfirma Caritas (die bewußt mit der gleichnamigen angesehenen katholischen Organisation verwechselt werden sollte), er verfüge über eine „magische“ Formel, nach der er den Anlegern nach hundert Tagen das Achtfache ihres Einsatzes zurückzahlen könne. In Anspielung auf das Wunder der Brotvermehrung ließ er sich auch als „Messias“ bezeichnen. Mit solchen Methoden gelang es ihm, vier Millionen Mitbürger übers Ohr zu hauen.

Diese „Pyramiden“ führen nicht nur zu privaten Geldeinbußen, sie vergiften den gesamten Finanzsektor und verwüsten am Ende auch noch die politische Landschaft. Angesichts der Attraktivität solch gewinnträchtiger Investitionsmöglichkeiten müssen vormals seriöse, gut geführte Häuser ähnlich verlockende Angebote machen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Bestenfalls lassen sie sich auf hochriskante Anlagegeschäfte ein, schlimmstenfalls machen sie bei den betrügerischen Machenschaften mit. Dank ihrer Profite gelingt es den Finanzjongleuren, die Politiker durch Geldgeschenke bei der Stange zu halten.

Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die Reaktionen auf die unvermeidlichen Zusammenbrüche. Es entspricht einer wirtschaftlichen Logik, die sowohl vom ideologischen Umfeld als auch von den Interessen ausländischer Gläubiger diktiert wird, daß nach der goldenen Regel caveat emptor (sieh dich vor, Käufer!) die Regierung keineswegs für die Leichtgläubigkeit der Anleger einstehen muß. Für bestimmte Verfechter des Ultraliberalismus sind solche Krisen sogar eine zwangsläufige oder gar heilsame Lektion im kapitalistischen Lernprozeß dieser Länder. Doch die politische Logik läuft völlig anders: Die Regierungen sind mit dem Zorn der geprellten Sparer konfrontiert, wollen sich aber nicht in die Skandale hineinziehen lassen, und versuchen gleichzeitig, ihre großzügigen Geldgeber so gut es geht zu schützen. Das Ergebnis sind Kompromisse, die niemanden zufriedenstellen können: Entweder setzt man die Notenpresse in Gang, was die Inflation anheizt und die Kaufkraft verringert, oder man versucht, die geprellten Kunden mit fast wertlosen Staatspapieren zu entschädigen.

Albanien, das ärmste der ehemaligen Ostblockländer, war offenbar prädestiniert für eine Krise größten Ausmaßes. In dem letzten vom Kommunismus befreiten Land Europas kam zu den Lasten eines ungezügelten Kapitalismus noch der Hang der Regierung, an den unausrottbaren stalinistischen Praktiken festzuhalten. Vor dem Hintergrund staatlicher Willkür und politischer Prozesse betrieb das Regime von Präsident Sali Berisha eine kompromißlose Liberalisierung. Da es sich als einziges Bollwerk gegen die Altkommunisten präsentierte, genoß es trotz zweifelhafter politischer Praktiken die uneingeschränkte Unterstützung der westlichen Regierungen und internationalen Organisationen. 1996 meldete das Land die höchsten Wachstumsraten von ganz Europa – dank Schwarzhandel und Geldwäsche und vor allem aufgrund des künstlichen Booms der Pyramidengeschäfte, deren Zusammenbruch das Land seitdem an den Rand des Bürgerkriegs brachte.

Rund ein Drittel der Albaner (und damit vier von fünf Haushalten) wurden vom Fieber der raschen Bereicherung gepackt und verschleuderten ihre kümmerlichen Ersparnisse, die Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Herden, ihrer jüngst privatisierten Grundstücke oder ihrer Wohnungen, die sie gerade erst zu einem symbolischen Preis erworben hatten, wie auch das Geld, das ihnen ihre nach Griechenland oder Italien ausgewanderten Kinder geschickt hatten. Sie investierten alles in den rund zehn „Stiftungen“, die auf dem Prinzip des Pyramidensparens beruhten. Diese Leichtgläubigkeit ist verständlich: Sie resultiert aus illusionären Vorstellungen über einen Kapitalismus, den man ihnen in den rosigsten Farben darstellte, nachdem man ihn jahrzehntelang verteufelt hatte. Die Kritik am Westen aus der Enver-Hodscha-Ära erachtete man wie selbstverständlich als null und nichtig, die idyllischen Bilder hingegen, die das westeuropäische Fernsehen verbreitete, für wirklichkeitsgerecht.

Erwachen im schlimmsten Alptraum

EINER desorientierten Bevölkerung ohne Beschäftigung, deren monatliches Durchschnittseinkommen nicht mehr als 70 Dollar beträgt, mußten die versprochenen Gewinnaussichten von monatlich 35 bis 100 Prozent als einziger Ausweg erscheinen, um ihrem Elend zu entrinnen. Gelegentliche Warnungen vor den Risiken gingen unter im Chor der Beschwichtigungen, die sowohl die Betreiber der Pyramidensysteme als auch die Politiker von sich gaben. Manche Anleger wußten, daß ihre Gelder höchst riskant angelegt waren, hielten sich aber für gerissen genug, sie rechtzeitig wieder abzuziehen. Der plötzliche spektakuläre Reichtum ihrer Nachbarn und das Stehvermögen der Pyramiden, die sich teilweise über zwei Jahre hielten, überzeugten schließlich auch die größten Skeptiker.

Wie anderswo auch fanden sich in Albanien Finanzleute, Politiker und Mäzene in fröhlicher Gemeinsamkeit zusammen, wobei die Raffgier allenfalls von den absurden Zügen übertroffen wurde. So ist die Chefin der Sude-Stiftung eine Hellseherin, die man nur „die Zigeunerin“ nennt. Und Rappush Xhaferi, der Leiter der wohltätigen demokratischen Volksstiftung Xhaferi, konnte sich, als er zum Besuch seiner Heimatstadt Lushjna in einem gepanzerten Mercedes eintraf, als veritabler Wohltäter und Volksheld aufspielen. Hatte er nicht aus Brasilien und Argentinien große Fußballstars geholt und einen Mario Kempes für 350000 Dollar als Trainer des örtlichen Fußballvereins eingekauft?

Insgesamt wurden mehr als eine Milliarde Dollar, ein Drittel des albanischen Bruttosozialprodukts, in diesen Pyramiden begraben. Im Dezember 1996 wurden die schwächsten Firmen zahlungsunfähig. Als das Kartenhaus zusammenfiel, merkten alle, die ihr Geld im Schlaf hatten vermehren wollen, daß sie in einem gigantischen Alptraum aufgewacht waren. Die Regierung ergriff zwar eine Reihe von Maßnahmen – man verhaftete die Pyramidenbetreiber, die noch nicht geflohen waren, blockierte einige noch zugängliche Guthaben und ließ die Pyramiden insgesamt verbieten –, aber in den Augen der Öffentlichkeit war die Regierung für das Debakel verantwortlich. Alles schien darauf hinzudeuten, daß die Hauptverantwortlichen der Anlagefirmen enge Verbindungen zur regierenden Demokratischen Partei unterhielten, deren Slogan bei den – von Betrug begleiteten – Wahlen von 1996 gelautet hatte: „Wählen Sie die Demokratische Partei, und alle werden gewinnen“. Es war ein unübersehbarer Hinweis auf den plötzlichen Reichtum, der jetzt scheinbar für alle wahr werden sollte ...

dt. Sabine Scheidemann

* Professor an der Universität von Berkeley in Kalifornien. Mitverfasser von „Mythologies américaines“, Paris (Editions du Félin) 1996.

Fußnoten: 1 Le Monde, 2. November 1994. 2 Marie Lavigne, „L'économie russe tout entière saisie par la finance“, Le Monde diplomatique, Dezember 1994. 3 Les Echos, 3. Februar 1997. 4 Vgl. Ibrahim Warde, „Les faiseurs de révolution libérale, Le Monde diplomatique, Mai 1992. 5 Vgl. Paolo Raffone, „Verbesserter Wahlbetrug“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von IBRAHIM WARDE