Wenn die Minderheit die Mehrheit ist
Von CHRISTIAN DE BRIE
WENN die Wahlbeteiligung zurückgeht, so ist dies meistens das erste Anzeichen dafür, daß die Bürger der Demokratie zunehmend desillusioniert gegenüberstehen. In jedem Land und bei jeder Wahl variiert die Zahl der Nichtwähler, tendenziell aber nimmt sie überall zu. Im Osten, im Süden und in den Ländern des Übergangs zur Demokratie liegt sie höher als in den westlichen Ländern (und dort ist sie in den Vereinigten Staaten höher als in Europa). Bei Kommunal- und Regionalwahlen liegt sie höher als bei landesweiten Wahlen, und bei Volksentscheiden geben weniger Bürger ihre Stimme ab, als wenn es konkret um die Wahl der Volksvertreter geht. In Frankreich betrug der Anteil der Nichtwähler bei den Präsidentschaftswahlen 1995 20 Prozent (gegenüber 15 Prozent 1965), zwischen 30 und 32 Prozent bei den Parlamentswahlen 1993 (gegenüber 22 bis 25 Prozent 1958) und fast 50 Prozent bei den Europawahlen (47,3 Prozent 1994 gegenüber 39,3 Prozent 1979).
Die Enthaltung ist auch bei den Wahlen zum britischen Unterhaus gestiegen, und zwar von 16 Prozent im Jahre 1950 auf 23 Prozent im Jahre 1992. Bei den deutschen Bundestagswahlen lag sie 1992 bei 9 Prozent, 1995 hingegen bei 22 Prozent, bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen betrug sie 1996 51,2 Prozent gegenüber 37 Prozent im Jahre 1960.1 In den Ländern des früheren Ostblocks gingen 1996 bei der Präsidentschaftswahl in Rußland und 1994 bei den Parlamentswahlen in Ungarn je 33 Prozent der Wahlberechtigten nicht zur Wahl. Bei den Parlamentswahlen in Polen waren es 1993 sogar 49 Prozent.2
Diese Zahlen verschleiern allerdings die Realität mehr, als daß sie sie erfassen, denn nirgendwo gibt es ein wirklich allgemeines Wahlrecht: Die Grenzen für Alter und Nationalität werden häufig willkürlich festgelegt, so daß jüngere und ausländische Bürger, auch wenn letztere ihren ständigen Wohnsitz in dem jeweiligen Land haben, von der Wahl ebenso ausgeschlossen sind wie diejenigen, denen man aus strafrechtlichen Gründen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt hat. In einigen Ländern müssen sich die Wähler vor der Wahl nach mehr oder weniger strengen Regeln in Wahllisten eintragen. Von ungültigen Stimmzetteln ganz zu schweigen.
An die Urne geht der weiße Familienvater
DIE Zahl derjenigen, die nicht zur Wahl gehen, ergänzt um die der von Rechts wegen oder faktisch von der Stimmabgabe Ausgeschlossenen, liegt also weit höher als offiziell angegeben: Fast überall wären sie die stärkste der Parteien. Bei den französischen Parlamentswahlen vom 21. März 1993 müßte man beispielsweise zu den 12 Millionen Nichtwählern noch 1,5 Millionen ungültige Stimmzettel und etwa 2 Millionen Nichtwahlberechtigte hinzuzählen. Ihre Gesamtzahl läge dann höher als die Zahl der Stimmen, die die drei größten Parteien insgesamt erreicht haben: RPR (5 Millionen), UDF (4,7 Millionen) und PS (4,4 Millionen).3
Nichtwähler weisen häufig eine Reihe Gemeinsamkeiten auf. In der Regel sind es Bürger mit sehr niedrigem Lebens- und Bildungsniveau, Alleinstehende, die jüngsten und die ältesten Bürger eines Landes und ethnische Minderheiten, die nicht zur Wahl gehen, wobei dieses Verhalten nur selten systematisch ist.4 Schon vor längerer Zeit haben amerikanische Forscher, deren Ergebnisse sich auf andere Länder übertragen lassen, ein Porträt des typischen Wählers bzw. Nichtwählers entworfen. Nicht zur Wahl geht eine unverheiratete schwarze Mutter unter fünfundzwanzig, mit niedrigem Bildungsstand und einem jährlichen Einkommen unter 10000 Dollar. Zur Wahl geht hingegen der weiße Familienvater zwischen dreißig und fünfzig Jahren mit Hochschulabschluß und einem Jahreseinkommen von mehr als 50000 Dollar.
1996 haben bei den US-Wahlen die 16 Prozent der Familien mit einem Jahreseinkommen unter 15000 Dollar 10 Millionen Stimmen abgegeben, während die 14 Prozent der Familien mit einem Jahreseinkommen von über 75000 Dollar 25 Millionen Stimmen abgegeben haben. Ebenso haben die 20 Prozent der Bevölkerung, die einen Universitätsabschluß besitzen, 39 Millionen (d.h. 43 Prozent) von den insgesamt 90 Millionen abgegebenen Stimmen ausgemacht. Diese Stimmen gingen mehrheitlich an Robert Dole, den Kandidaten der Republikaner. Die 20 Prozent der Bevölkerung ohne höhere Schulbildung haben nur 5,5 Millionen (das heißt 6 Prozent) der abgegebenen Stimmen ausgemacht und sind zu zwei Dritteln an Bill Clinton gegangen.5
Das jeweilige Wahlverfahren verschärft noch die Ungleichheit zwischen den Bürgern. Auch wenn das Verhältniswahlrecht, das in den meisten Ländern Europas gilt, das kleinere Übel zu sein scheint, ermöglicht es trotzdem den Ausschluß der kleinsten Parteien, weil diese die Fünfprozentklausel für den Einzug ins Parlament nicht überwinden können.
Gestärkt werden die Starken
DAS Mehrheitswahlrecht hingegen sorgt dafür, daß die dominierenden Kandidaten und Parteien, insbesondere der Sieger, überrepräsentiert und die anderen ausgeschaltet werden. Bei den letzten französischen Parlamentswahlen hatte 1993 ein Abgeordneter der RPR durchschnittlich 20000 Stimmen und einer der UDF 25000 Stimmen benötigt, um gewählt zu werden. Ein kommunistischer Abgeordneter mußte hingegen 100000, ein sozialistischer sogar 120000 Stimmen haben. Die Stimme eines rechten Wählers hat also vier- bis sechsmal soviel Gewicht wie die eines linken. Aus diesem Grund mußte die gegenwärtige Regierungskoalition nur einen von vier Wählern auf ihre Seite bringen, um 80 Prozent der Sitze im Parlament zu erobern. Die etwa 3 Millionen Stimmen für die Grünen oder den Front National reichten nicht für einen Parlamentssitz.
Unter dem Strich stärken Wahlrecht und Wahlpraxis fast überall die Stellung der herrschenden Parteien oder Koalitionen. Sie stützen sich auf eine Minderheit, während eine große Zahl von Bürgern ausgebootet wird. Diese Parteien wechseln sich an der Macht ab, nachdem sie den Zugang verbarrikadiert haben. Sie werden zu politischen Zwillingen, deren Ziele und Programme einander immer ähnlicher werden.
Sind Tories und Labour in Großbritannien, Christ- und Sozialdemokraten in Deutschland, Linke und Rechte in Frankreich, Spanien oder Italien und Republikaner und Demokraten in den USA nur die zwei Strömungen ein und derselben Partei, der Partei der Märkte?6 „Kann man eigentlich noch von Demokratie sprechen, wenn die Mehrheit der Bürger die Thesen der Opposition nicht mehr von denen der Regierung unterscheiden kann?“ fragte sich Claude Julien bereits vor fünfundzwanzig Jahren und fuhr fort: „Die Demokratie ist in ihren Grundfesten erschüttert, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung zu der Überzeugung gelangt ist, daß sie die Politik der Regierung nicht mehr beeinflussen kann.“7
dt. Christian Voigt