16.05.1997

Schweigen und Engagement

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Schweigen und Engagement

ES scheint, daß die Maler der europäischen Moderne zwischen 1914 und 1920 das Grauen des Weltkriegs weitgehend ausgeblendet haben, erklärt Philippe Dagen.1 Fernand Léger etwa spricht in seinen Aufzeichnungen von „den Leichen, dem Morast, den Kanonen“. Und doch inspiriert ihn 1917 die „Prüfung des Grauens“ zu nur einem einzigen Gemälde, „Le Blessé“ (Der Verwundete).

Philippe Dagen nimmt die Werke zahlreicher Künstler genau unter die Lupe; überraschend nur, daß einige in diesem Zusammenhang bedeutende Namen fehlen (Meidner, Pechstein, Gromaire). Auch sind seine Kommentare in manchen Fällen diskussionsbedürftig. So wenn er Otto Dix' zwischen 1934 und 1936 entstandenes Gemälde „Flandern“ als eine bloße „Stilwirkung“, als eine „maltechnische Fingerübung“ hinstellt. Dix richtet in ihm mittels der Opferthematik einen Friedensappell an seine Zeit.

Interessant an dem Buch sind die fundierten theoretischen Überlegungen.

Auf dem Gebiet der Kunstkritik ist Félix Fénéon (1861–1942) so etwas wie eine Legende.2 Er kommt 1881 nach Paris, nachdem er den Prüfungswettbewerb um die Besetzung der Beamtenstellen im Kriegsministerium glänzend bestanden hat, und schreibt für die Zeitschriften der Anarchisten. Im April 1894 wird er verdächtigt, mit den anarchistischen Bombenlegern unter einer Decke zu stecken. Nach seiner Verhaftung durch die Polizei wird er seines Postens enthoben und im August 1894 in dem berühmten Schauprozeß der Dreißig zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Wegen erwiesener Unschuld wird er nach fünfmonatiger Haft auf freien Fuß gesetzt.

Im Anschluß daran arbeitet er zunächst als Chefredakteur der Revue blanche, und als die Zeitung 1903 ihr Erscheinen einstellt, schlägt er sich mühsam als freier Mitarbeiter für Le Figaro und Le Matin durch. Über die folgenden Jahre war bislang so gut wie nichts bekannt; diese Lücke schließt der vorzüglich kommentierte Briefband.

Das Buch belegt, daß Félix Fénéon, der gemeinhin als das Muster eines unabhängigen Kritikers gilt, weit stärker in den kommerziellen Kunstbetrieb involviert war, als man bislang gedacht hatte, und sich dabei als geschickter Geschäftsmann erwies.

Als Künstler, nicht als Kunsthistoriker, wollte Raymond Perrot sich mit Fougeron auseinandersetzen.3 Der heute über achtzigjährige Fougeron, dessen Malerei ihre Wurzeln im Realismus hat, war in der Nachkriegszeit bei Rechten und Linken gleichermaßen stark umstritten, nicht zuletzt auch unter denjenigen, die sich wie er für die Kommunistische Partei engagierten. Durch die Gespräche, die er mit Fougeron geführt hat, vermittelt sich uns ein ganz anderes Bild des Künstlers als das eines politischen Agitators. Es wird vor allem deutlich, daß, um eine Kunst hervorzubringen, die Ideen transportieren will, eine solide geschichtliche Kenntnis der Malerei und eine intensive Auseinandersetzung mit den Ausdruckswerten der bildenden Kunst unabdingbar sind.

LIONEL RICHARD

dt. Christian Hansen

Fußnoten: 1 Philippe Dagen, „Le Silence des peintres (les artistes face à la Grande Guerre)“, Paris (Fayard) 1996. 2 „Correspondances de Félix Fénéon et Jacques Rodrigues-Henriques 1906–1942“, hrsg. von Jean- Paul Morel in Zusammenarbeit mit Isabel de La Brunière, (Editions Séguier) 1996. 3 Raymond Perrot, „Esthétique de Fougeron“, Paris (E.C. Editions) 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von LIONEL RICHARD