16.05.1997

Ziviler Ungehorsam gegen Rassenhaß

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Ziviler Ungehorsam gegen Rassenhaß

Mit einigen Veränderungen wurde Ende März dieses Jahres das Gesetz zur Überwachung von Ausländern in Frankreich (Loi Debré) verabschiedet. Wieder einmal hat das Parlament ein Gesetz verschärft, nicht um die illegale Einwanderung zu verhindern, sondern um die in Frankreich lebenden ausländischen Arbeitnehmer zu isolieren, ihnen klarzumachen, daß sie Fremde sind und bleiben, und sich bei der fremdenfeindlichen Öffentlichkeit anzubiedern. Angesichts dieser Auswüchse kommt dem Aufbegehren der Intellektuellen und vieler anderer Bürger die Bedeutung eines moralischen Kampfes zu, der an die republikanische Tradition anknüpft.

Von PHILIPPE VIDELIER *

UNMITTELBAR nach dem Krieg schrieb der italienische Schriftsteller Umberto Saba in einer seiner Kurzgeschichten: „Die Farbe einer Zeit wird nicht nur durch die großen Ereignisse bestimmt, die man historisch nennt. Ein wacher Mensch findet sie, ohne zu suchen, auch in den kleinen Zeichen des Alltags.“1 Ein halbes Jahrhundert später hätte ein Beobachter mit einer solchen Blickweise bei der Betrachtung unserer Gesellschaft nur wenig Grund zur Freude.

„Meine Mutter, eine siebenundsechzigjährige Witwe, die in der Nähe von Constantine lebt, sollte zu mir zu Besuch kommen. Ich ging aufs Rathaus mit meinem Mietvertrag, meinem Paß, einer Quittung der Elektrizitätswerke, meinen Gehaltsabrechnungen und der Gebührenmarke des Office des migrations internationales (Amt für internationale Migration). Mein Antrag wurde entgegengenommen, und es hieß, man würde mich eine Woche später anrufen. Mich rief auch tatsächlich eine Angestellte des Office des migrations an und wollte meine Wohnung besichtigen. Sie sah sich jedes Zimmer an, und ich mußte ihr zeigen, wo meine Mutter schlafen sollte. Ich habe das als eine große Demütigung empfunden.“ Die junge Frau, die dies berichtet, ist Algerierin, Dozentin für Mathematik an der Universität Lyon. Sie lebt seit zehn Jahren in Frankreich und ist als Universitätslehrerin selbstverständlich im Besitz der vorgeschriebenen Papiere. Die nötigen Schritte, um den Besuch ihrer Mutter zu ermöglichen, hat sie im Dezember 1996 unternommen. Im März war das Visum noch immer nicht erteilt.

Durch immer strengere Praktiken der kommunalen Behörden werden die Immigranten verunsichert und auch dazu verleitet, absurde Regelungen zu übertreten, da es sich um Grundbedürfnisse handelt wie das Recht, seine Familie zu sehen. Ein Gewerkschafter aus Vaulx-en-Velin, ein Franzose, macht kein Geheimnis daraus, daß er anstelle eines ausländischen Kollegen einen Beherbergungsschein beantragt hat, weil dieser die verlangten Voraussetzungen für den Besuch eines Verwandten anläßlich eines Familienfestes nicht erfüllen konnte. Die Beherbergungsscheine gibt es zwar bereits seit 1982, wie die derzeitige Regierung betont hat. Aber Marie-Noälle Fréry zufolge – einer Anwältin, die sich in der Verteidigung der Ausländerrechte engagiert – wurden sie in den ersten Jahren nicht restriktiv gehandhabt. Doch nach der Verabschiedung der Pasqua-Gesetze 1993 haben die Gemeinden, gleich welcher politischer Couleur, ihre Befugnisse überschritten und sich die Zuständigkeit für die Einwanderungspolitik angemaßt, indem sie zusätzliche, vom Gesetz nicht vorgesehene Bedingungen stellten.

Eine humanitäre Organisation, die Cimade, hat in einer sorgfältigen, in rund tausend Gemeinden durchgeführten Umfrage2 die Praktiken bei der Ausstellung der berüchtigten „Beherbergungsscheine“ untersucht. Die auf Gemeindeämtern durchgeführte Untersuchung hat ergeben, daß über die Hälfte der befragten Verwaltungen sich ohne sonderliche Skrupel Freiheiten gegenüber dem Gesetz und folglich gegenüber den Grundfreiheiten herausnehmen.

Um einen Ausländer bei sich aufzunehmen, muß in Balgau, einer Gemeinde im Elsaß, der Antragsteller Franzose sein. In Colmar läßt man nur direkte Verwandte zu. Im ersten Arrondissement von Lyon besichtigen Gemeindeangestellte die Wohnung des Antragstellers. In Vienne muß man sich ans Polizeikommissariat wenden. In Arles und in Dieppe ist eine schriftliche Begründung der Reise erforderlich. In Tarascon werden Algerier abgelehnt, in Arpajon Türken. In Isle-sur-la-Sorgue wird von Tunesiern ein besonderer Ausweis verlangt. In Vias im Hérault will man keine Marokkaner mehr. Der Bürgermeister von Aigues-Mortes unterschreibt gar keine Beherbergungsgenehmigungen mehr. Der von Plessis-Robinson lehnt sie „prinzipiell“ ab: „Ich lehne es generell und ohne jede Ausnahme ab, solche Bescheinigungen auszustellen, um nicht bestimmte Personen zu bevorzugen.“

Rillieux, ein Vorort von Lyon mit langgezogenen Wohnblocks, schlägt alle Rekorde, was die Zahl der Papiere angeht, die für die Aufnahme eines Ausländers vorzulegen sind. Der Vordruck verlangt vom „Beherbergenden“: Familienbuch, Sozialversicherungsausweis des Ehemanns und der Ehefrau, Paß oder Aufenthaltsgenehmigung des Ehemanns und der Ehefrau, die letzten drei Lohnabrechnungen beider Eheleute und Belege über alle vorhandenen Geldmittel, die letzte Mietquittung oder die Eigentumsurkunde, einen Nachweis über die Bewilligung von Kinder- und Wohngeld, einen Kontoauszug mit der Überweisung des Kindergelds, eine Zivilstandsbescheinigung bei Ledigen, Angabe von Art und Größe der Wohnung und natürlich eine Gebührenmarke im Wert von 100 Franc (etwa 30 Mark) vom Office des migrations internationales.

Für den „Beherbergten“ umfaßt die Liste: Mietquittung oder Eigentumsurkunde, Ausweis (Vorder- und Rückseite), Beleg über Kostenübernahme bei medizinischer Versorgung, Beleg über vorhandene Geldmittel (Reiseschecks oder Kreditkarte) auch bei Ruheständlern sowie die Rückfahrkarte. „Alle Papiere“, so wird genauer ausgeführt, „sind in französischer Sprache vorzulegen“. Und schließlich muß die ganze Akte bei der örtlichen Polizei abgegeben werden.

In Schiltigheim, einem Vorort von Straßburg, wird den Antragstellern schriftlich mitgeteilt: „Nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Ihrem Besucher gewährten Visums befindet sich dieser in Frankreich im Status der Illegalität und hat somit eine Maßnahme zur Rückführung an die Grenze zu gewärtigen.“ Sicherheitshalber verlangt die Stadtverwaltung bei der Abreise des Gastes die Rücksendung eines Vordrucks. „Bei Nichterfolgen der Rücksendung dieses Kontrollscheins bleibt die spätere Ausstellung einer weiteren Bescheinigung in unser Ermessen gestellt, und wir würden uns darüber hinaus gezwungen sehen, ein Kontrollverfahren einzuleiten.“ Mit diesem Vorgehen passen sich die Verwaltungen, außerhalb jeder Legalität3 , der allgemein verbreiteten Ausländerfeindlichkeit an und schwingen sich zur Einwanderungspolizei auf.

Jean-Paul Nunez, verantwortlich für die Cimade- Umfrage, stellt bitter fest, daß sich 60 Prozent der Stadtverwaltungen in Sachen Beherbergungsschein nicht an das Gesetz halten. „Deshalb rufe ich zur Mobilisierung auf“, sagte er abschließend bei der Vorstellung seiner Untersuchungsergebnisse im Januar 1997, ohne große Hoffnung, Gehör zu finden4 . Verbände und Organisationen hatten monatelang vergeblich versucht, die Aufmerksamkeit einer sehr passiven Öffentlichkeit auf den Gesetzentwurf zur Loi Debré zu lenken. Es bedurfte erst eines Vorfalls in Lille, der von den Medien groß herausgestellt wurde, und eines traumatischen politischen Ereignisses in Vitrolles, damit eine Initiative von Kulturschaffenden eine Welle der Empörung hervorrief, deren Spontaneität und Thematik durchaus an die soziale Bewegung im Dezember 1995 erinnerte5 .

Die gerichtliche Verurteilung einer Frau in Lille am 4. Februar 1997, die sich der Aufnahme eines Ausländers ohne gültige Papiere „schuldig“ gemacht hatte, und der Sieg der extremen Rechten bei den Kommunalwahlen in Vitrolles haben durch ihr Zusammentreffen das virtuelle Bild eines Frankreichs gezeichnet, das sich selber fremd ist. Deshalb veröffentlichten am 11. Februar neunundfünfzig Filmemacher den aufsehenerregenden Aufruf „zum Ungehorsam, um sich nicht inhumanen Gesetzen zu unterwerfen“. Diese Geste löste einen moralischen Aufstand aus.

Der Appell der Filmemacher klingt wie ein fernes Echo auf das Orakel aus Concord in Massachusetts vor hundertfünfzig Jahren. „Ich finde, wir sollten erst Menschen sein und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit“6 , proklamierte Henry David Thoreau in seinem berühmten Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ von 1849, als es um die Abschaffung jener „besonderen Einrichtung“ ging, die den Stolz der Gentlemen im Süden ausmachte und mit der sich auch die Kaufleute im Norden ohne größere Probleme arrangierten: der Sklaverei. In der Überzeugung, daß sich der zivilisierte Mensch in erster Linie durch sein Gewissen auszeichnet, verfocht Thoreau die Notwendigkeit des beispielgebenden individuellen Widerstands und die Verweigerung aus ethischen Gründen, was sich jedoch in Taten niederschlagen müßte, um von anderen aufgenommen zu werden.

Henry Miller, der Autor von „Wendekreis des Krebses“, drückte aus, worin das sehr einfache Geheimnis für den nach wie vor lebendigen Einfluß des Dichters bestehe: „Er war ein Mann mit Grundsätzen, bei dem Denken und Handeln immer in Einklang standen. Er fühlte sich für sein Handeln ebenso verantwortlich wie für seine Worte. Das Wort ,Kompromiß‘ existierte in seinem Wortschatz nicht.“7 In Thoreaus Geist handelten auch der Schriftsteller Upton Sinclair, als er während der Weltwirtschaftskrise 1929 die kalifornischen Streiks unterstützte, und der Pastor Martin Luther King im schwierigen Moment des Kampfes gegen die Rassendiskriminierung im Staat Alabama in den sechziger Jahren. Der Nobelpreisträger erklärte, in Thoreaus Schrift habe er das „Konzept von der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit dem organisierten Bösen“ entdeckt.

Genau auf diesem Konzept von der Notwendigkeit des Ungehorsams gegenüber der Ungerechtigkeit beruhte auch die Stärke des Aufrufs der Intellektuellen. Die politischen Kräfte traf das völlig unvorbereitet. Der sozialistische Parteisekretär bot das Schauspiel einer gespaltenen Persönlichkeit, „als Staatsbürger“ und „als Politiker“, während in den Zeitungen die Protestlisten mit den Namen derjenigen, die dieses Abdriften in die Fremdenfeindlichkeit ablehnten, immer länger wurden.

Unter der Schlagzeile „Februar 1997: Kulturkrieg“ erklärte National Hebdo, das offizielle Organ der extremen Rechten in Frankreich, mit seiner üblichen Emphase, das jetzt Vorgefallene sei das Schlimmste seit 1968: „Meine lieben nationalen und nationalistischen Kameraden, wir müssen uns die Namen dieser Leute genau merken. (...) Denn eines Tages wird das französische Recht einen Hauptanklagepunkt aufweisen, die schwerwiegendste Anklage überhaupt: Verbrechen gegen die Nation und gegen das französische Volk. Das wird für uns der Tag der Abrechnung sein.“8

Die Kultur des Hasses ruft zum Haß auf die Kultur auf. In ihrer Presse, ihren Blättern, mehr untereinander als nach außen, käut die extreme Rechte täglich ihre Argumente wieder. In France-Inter hatte der Journalist Daniel Mermot die Idee, in der Sendung „Là- bas si j'y suis“ in ungekürzter Originalfassung die Aufzeichnung des Interviews zu senden, das Catherine Mégret, die gewählte Bürgermeisterin von Vitrolles, der Berliner Zeitung gegeben hat: „Ich sage, man soll im Leben nichts komplizieren. Wir haben es mit Leuten zu tun, die immer alles komplizieren, und die Probleme, um die anzugehen, braucht man eben einfache Lösungen. (...) Mit den Immigranten, das ist vollkommen schwachsinnig, was für Ausmaße das annimmt. Sie machen ich weiß nicht wie viele Kinder und setzen sie dann auf die Straße. Sie machen Kinder, um das Kindergeld zu kassieren, und ziehen sie nicht mal groß. (...) Genau deshalb haben uns die Leute gewählt, damit wir denen Angst machen, denn sie haben es satt, immer in Angst vor diesen Leuten zu leben. (...) Wenn es keine Unterschiede zwischen den Rassen gäbe, warum würde man uns dann als Rassisten beschimpfen? Es gibt Unterschiede in den Genen, wie Le Pen sagt: Die Schwarzen haben eine größere Begabung für Sport und Tanz als die Weißen. (...) Ein echter Franzose ist ... äh ... ein echter Franzose. Nicht, weil er auf französischem Boden geboren ist, sondern durch das Recht des Blutes. Voilà.“9

Die Wahl von Vitrolles hat ein Gefühl von Dringlichkeit entstehen lassen. Der Cocktail Vitrolles-Loi Debré hat einen Schock ausgelöst. Dieser erklärt den Erfolg der Demonstration am 29. März in Straßburg gegen die Le-Pen-Partei, die dort ihren Kongreß abhielt. Nach dem Aufruf von Zusammenschlüssen sozialer Vereinigungen hat eine gewaltige Menschenmenge gesagt „Jetzt reicht's!“, hat sich in Bewegung gesetzt und die Rechtsextremisten in ihrem Bunker isoliert. Wie um diesen Schwung aufzugreifen, erstatteten in den ersten Apriltagen über siebenhundert Bürger Anzeige gegen Catherine Mégret wegen rassistischer Äußerungen in ihrem Interview in der Berliner Zeitung.

„Das war eine gesunde Reaktion“, kommentiert Marie-Noälle Fréry, „aber leider ist sie nicht weit genug gegangen. Bei dem Debré-Gesetz geht es nicht in erster Linie um die Beherbergungsgenehmigung, sondern um die Infragestellung der zehnjährigen Aufenthaltsgenehmigung, die 1984 von Fabius eingeführt wurde und jeweils automatisch verlängert wird. Das Debré-Gesetz trifft die ausländische Bevölkerung, die sich auf Dauer hier niedergelassen hat. In der Begründung wird auf den Kampf gegen die illegale Einwanderung Bezug genommen, doch kein Artikel des Gesetzes hat wirklich mit diesem Problem zu tun, mit Ausnahme vielleicht des Artikels 1 über die Beherbergungsgenehmigung, aber auch der berührt es nur am Rande. Alles andere betrifft nur die Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen. Das Gesetz ist in Wirklichkeit eine sehr deutliche Botschaft an die Immigranten: Wir wollen euch hier in Frankreich nicht mehr haben.“

Selbst mit dem Zusatz im ersten Artikel verschärft das Gesetz also einen ohnehin schon beachtlichen Gesetzesapparat, ohne auf irgendeines der Probleme zu antworten, die es zu lösen vorgibt. Paradoxerweise erschwert das neue Gesetz die doch ständig geforderte Integration der zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Wenn man die Möglichkeit der zehnjährigen Aufenthaltsgenehmigung einschränkt, die Lage der regulär hier lebenden Immigranten erschwert und ständig mit dem Finger auf sie zeigt, begibt man sich der Möglichkeit, ihnen ein stabiles, ruhiges Leben zu bieten. Doch das ist offenbar vor allem eine Anbiederung an die Le-Pen-Wähler, die man seit Jahren unermüdlich umwirbt.

dt. Sigrid Vagt

* Historiker am Forschungszentrum CNRS in Lyon.

Fußnoten: 1 Umberto Saba, „Scorciatoie e raccontini“, 1946. 2 „Certificats d'hébergement: analyse des pratiques de délivrance dans un millier de communes“, Cimade-Bericht, Montpellier 1997. 3 Vgl. Ignacio Ramonet, „Xenophobie“, Le Monde diplomatique, März 1997. 4 Causes communes, Zeitschrift der Cimade, 20. Januar 1997. 5 Vgl. Le Monde diplomatique, Januar 1996. 6 Henry David Thoreau, „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, Zürich 1973, übersetzt v. W.E. Richartz, S. 9. 7 Henry Miller, „Henry David Thoreau“, Europe, Juli/August 1967, S. 170. 8 National Hebdo, 27. Februar 1997. 9 Auf französisch geführtes Interview mit dem Korrespondenten der Berliner Zeitung, gesendet von France-Inter.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von PHILIPPE VIDELIER