Spalte und herrsche
DER Mensch besitzt neuerdings die Fähigkeit, sich selbst genetisch zu verändern. Immer schneller rast der wissenschaftliche Fortschritt voran, ohne daß ihm auf nationaler oder internationaler Ebene Schranken oder Grenzen gesetzt würden – dafür hat die Affäre um Dolly, das geklonte Schaf, den letzten Zweiflern kürzlich den Beweis geliefert. Andererseits wirft die Einführung von genmanipuliertem Mais oder Soja auf dem europäischen Markt zahlreiche Fragen zu den damit verbundenen Risiken auf. Für wen und zu welchem Zweck sind jene genetisch modifizierten Organismen entwickelt worden? War so etwas notwendig? Und war es vernünftig?
Von JACQUES TESTART *
Mit Hilfe der Gentechnologie lassen sich bei Pflanzen und Tieren Gene übertragen, die für den Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften nützlich sind. Dadurch wird es möglich, den Ertrag von Pflanzen und ihre Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge oder Herbizide zu steigern, sie mit Nahrungs- oder Energiebausteinen anzureichern oder gar pharmakologische Substanzen herzustellen.
Um die Verbreitung von transgenen Pflanzen zu rechtfertigen, wird immer wieder darauf verwiesen, daß im Jahr 2100 11 Milliarden Menschen ernährt werden müssen1 , daß also die Bevölkerung stärker wachsen wird als die Agrarproduktion, wenn diese auf die „traditionelle“ Weise weiterbetrieben würde. Doch selbst wenn transgene Pflanzen und Tiere die Bevölkerung ernähren könnten, wären die anderen Bedürfnisse des Menschen deswegen noch nicht befriedigt. Denn ohne eine Politik der Steuerung würde der Energieverbrauch im selben Verhältnis zunehmen. Nur die Atomenergie könnte dann die Nachfrage befriedigen, falls nicht bis dahin auf erneuerbare Energie zurückgegriffen wird.2 Was im Agrarsektor das Genetikprojekt, ist somit in der Industrie das Atomprojekt.
Dieser enge Bezug zwischen Gen und Atom, den manipulierbaren Grundelementen der lebenden und der unbelebten Materie, wird uns noch häufig begegnen. Die Verbreitung transgener Pflanzen hinzunehmen, heißt soviel, wie den vermehrten Bau von Kernkraftwerken zu akzeptieren. Umgekehrt wäre die Atomkraft aussichtslos ohne die Gentechnik. Der Verzicht auf das eine würde aus der Erkenntnis resultieren, daß Entwicklungen auf Dauer Bestand haben müssen, und würde zum Verzicht auf das andere führen. Dennoch halten sich diejenigen, die uns den Fortschritt durch das Gen aufnötigen wollen, für unabhängig von jenen, die uns den Fortschritt durch das Atom aufzwingen wollen. Denn auch wenn sie sich zu derselben Ideologie bekennen, gehören sie einander nicht verwandten Technikwissenschaften an.
Jeder kennt die Risiken, die mit der Erzeugung der Kernenergie verbunden sind. Was aber die transgenen Pflanzen betrifft, so dürfte noch niemand davon krank geworden sein, daß er eine zeitlich verzögert gereifte Tomate oder gegen bestimmte Schädlinge resistenten Mais gegessen hat, auch wenn die Öffentlichkeit Eingriffen in die naturgegebene Ordnung oft mit Angst begegnet. Das Ernährungsrisiko sollte aber auch nicht unterschätzt werden, da genetisch modifizierte Organismen Allergien verursachen können. Schwerer jedoch wiegt die Frage nach dem Weg, den die neuen Gene nehmen, wenn sie in die Natur entlassen werden. Die Folgen des Genflusses zu anderen Pflanzen oder zur mikrobiotischen Flora sind selbst nach Expertenmeinung unvorhersehbar.
So haben transgene Rüben, die resistent gegen Herbizide waren, ihre Resistenzgene bereits an ringsum wachsende Unkräuter weitergegeben; so gelang es transgenem Raps, der resistent gegen das Herbizid Basta war, seine Pollen mehrere Kilometer weit zu verbreiten, während Experten nur 500 Meter für möglich gehalten hatten, sowie Wildpflanzen zu befruchten und damit fortpflanzungsfähige Hybride zu erzeugen, obwohl Experten sie als steril bezeichnet hatten. Es besteht auch die Gefahr, daß Schädlinge herangezüchtet werden, die gegen Insektizide resistent sind, indem man transgene Pflanzen einsetzt, die bakterielle Toxine produzieren, welche Insekten töten können. In diesem Bereich haben Plantagenbesitzer schmerzliche Erfahrungen machen müssen: Sie investierten in transgene Baumwolle, die sich Schädlingen gegenüber als nicht so resistent wie versprochen erwies, dafür aber bei den Insekten eine solche Resistenz hervorrief, daß schließlich ungeheure Mengen Pestizide eingesetzt werden mußten.
Experten geben zu, daß eine Evaluierung nur unter realen Bedingungen möglich ist, und argumentieren gern mit den Verfahren der „Bioüberwachung“, ohne daß sichergestellt wäre, daß sich damit das Risiko hinreichend kontrollieren läßt.3 Die Verbreitung von genetisch veränderten Organismen erinnert an die Einführung von Pflanzen oder Tieren in Ländern, in denen es sie bis dahin nicht gab. So hat sich die Hälfte der Säugetiere und Vögel (19 von 40 Arten), die auf diese Weise planmäßig in die USA eingeführt worden waren, in eine Plage verwandelt, und man kennt die Geschichte der Kaninchen, die sich in Australien mit katastrophaler Geschwindigkeit vermehrten.
Noch dazu folgt die Verbreitung transgener Pflanzen landwirtschaftsökonomischen Vorgaben, die auf bestimmten Voraussetzungen basieren. Diese können sich jedoch im Laufe der Durchführung oder aufgrund anderer unvorhergesehener Faktoren verändern. Die natürliche Artenvielfalt, die schon durch die traditionelle Landwirtschaft bedroht wird, könnte rasch unter gigantischen Programmen für eine transgene Landwirtschaft zu leiden haben, die den Bestand an genetischen Ressourcen zerstören würden.4 Die traditionelle Art der Pflanzenselektion hatte nicht die ökologischen Auswirkungen, die die Verbreitung erfundener Arten nach sich ziehen würde. Im ersten, bereits erprobten Fall werden die Wildpflanzen durch die langsame Ausbreitung der ausgewählten Pflanzen weitgehend geschont. Die ungeheuren geistigen und finanziellen Investitionen, die in die transgenen Pflanzen gesteckt wurden, lassen darauf schließen, daß bislang ungekannte Lebendkonstruktionen genau wie Industrieproduktionen nach universellen Programmen verbreitet werden sollen, die keine politischen Grenzen und ökologischen Nischen und keinen Schutz des biologischen Erbgutes mehr respektieren werden.
Eine andere mögliche Folge wäre der Verzicht der Landwirte auf Arten, die besonderer Pflege bedürfen. Bestimmte Dünger, Pestizide und Anbauarten könnten sich als zwingend notwendig für die jeweilige Pflanze erweisen, das bedeutet zusätzliche Profite für die lebensmittelverarbeitende Industrie, die mit der Biotechnologieindustrie in mächtigen multinationalen Konzernen zusammengefaßt ist.
Diese nur unvollständig angeführten Risiken sind ganz real und wären nur hinnehmbar, wenn es kein anderes Mittel zum Überleben gäbe. „Ohne transgene Pflanzen keine Lösung für die Ernährungsfrage!“ heißt es. Das wird sich zeigen. Den Demographen zufolge könnte sich die Weltbevölkerung allenfalls verdoppeln. Sicherlich sind fünf Milliarden Menschen zusätzlich nicht gerade wenig, aber diese Kurve wird ab dem Ende des 21. Jahrhunderts nicht mehr so steil ansteigen. Warum sollte man nicht versuchen, die Bevölkerungszahlen niedriger zu halten, anstatt von einem Bevölkerungswachstum auszugehen, das angeblich unvermeidlich und unendlich ist? In die Molekularbiologie werden Riesensummen investiert. Die Erforschung neuer Verhütungsmittel aber wird nicht gefördert, und für die medizinischen Forschungsprojekte, die der Faszination der Genetik widerstehen, sind nur wenig Mittel da.
Diktatur der Wissenschaft
DIE Zunahme der Weltbevölkerung läßt sich weniger durch medizinische Neuerungen eindämmen als durch eine Verlängerung der Schulpflicht für Kinder, vor allem für Mädchen, bis ins Jugendlichenalter. Es ist erwiesen: Wo Frauen in den Genuß besserer Schulbildung kommen, sinkt die Geburtenrate deutlich. Doch wo ist die Lobby, die den Bau von Schulen auf ihre Fahnen geschrieben hat? Wer soll eine ausreichende Menge Lehrer finanzieren? Wenn die Welt bereits über die erforderlichen Mittel verfügt, um die Ernährung, die Gesundheit und die Bildung aller derzeit lebenden Menschen zu gewährleisten, warum will man uns partout nötigen, den Technikwissenschaften, die angeblich allein die richtigen Antworten parat haben, auf ihren Blindflügen zu folgen?
Die Lösungen sind vorhanden, werden aber aus Mangel an politischem Willen nicht genutzt. Angesichts solcher Mystifikationen stellt sich die Frage nach der Beherrschbarkeit der Technikwissenschaft.5 Es ist unerhört, das Hohelied auf eine lichte Zukunft im Zeichen des technologischen Fortschritts zu singen, wenn gleichzeitig Überschüsse zerstört anstatt umverteilt werden, wenn fruchtbares Land durch Brachlegung unfruchtbar gemacht wird, wenn bei der Bekämpfung von Krankheiten die am häufigsten auftretenden außer acht gelassen werden und man sich lediglich um die Sicherung des Wohlergehens jener kümmert, die sich bester Gesundheit erfreuen.
Zu den sieben transgenen Arten, die 1995 vermarktungsfähig waren6 , gehören sowohl die Baumwolle, die zweifellos wichtig, jedoch keine Nahrungspflanze ist, als auch der Tabak, dessen Nährwert bisher unterschätzt wurde. Unter dem humanitären Mäntelchen, das den Transgenetikprogrammen umgehängt wird, stecken andere Interessen, bei denen die Marktwirtschaft den Ausschlag gibt. Eine Region wird von Überschwemmungen verwüstet, während die andere unter Dürre leidet. Warum gibt es keine Leitungen wie die Ölpipelines, um die feuchteren Gebiete mit den trockeneren zu verbinden?
Die Verbreitung von genetisch veränderten Organismen droht nicht nur unsere Beziehungen zu unserer natürlichen Umwelt zu beeinträchtigen, sie könnte auch unser künstliches Umfeld verändern; man denke an die klimatischen Störungen, die unser immer ausgefeilteres und damit anfällig gewordenes technisches Universum durcheinanderbringen. Ein kaum überdurchschnittlich kalter Winter wird heutzutage als dramatisch empfunden: Tunnel, Straßen und Züge werden lahmgelegt, die Produktion stockt, Nahrungsmittelvorräte verderben, und die Ärmsten sterben auf der Straße. Nicht minder katastrophal ist es, wenn es ein bißchen zu warm wird oder – bezogen auf den von den Experten errechneten Durchschnitt – etwas mehr oder etwas weniger regnet als vorgesehen. Jene Tiere und Pflanzen aber, die ausgewählt wurden, um dem Menschen zu dienen, sind fast immer anspruchsvoller als wilde Arten und überdies nicht so widerstandsfähig. Dies gilt zum Beispiel für die Kühe mit besonders hoher Milchproduktion, die eine überwachte Stallhaltung unter besonderen Bedingungen, intensive tierärztliche Betreuung und eine angereicherte Nahrung benötigen. Noch dazu steigert man ihren Ertrag mit einer Fleischdiät, so daß sie „wahnsinnig“ werden. Die fortschreitende Destabilisierung der Beziehungen des Menschen zu seinem unmittelbaren Umfeld zwingt uns, die technologischen Verheißungen auf eine einfache Frage zu reduzieren: „Brauchen wir das? Ist es vernünftig?“7
Die OECD hat 1986 empfohlen, das potentielle Risiko, das in jedem genetisch modifizierten Organismus steckt, zu evaluieren. Die Europäische Kommission verabschiedete 1990 eine Richtlinie, nach der jedes Verbreitungsvorhaben zuerst von sachkundiger Stelle geprüft und den anderen europäischen Staaten zur Mitentscheidung unterbreitet werden muß. So wurden die heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den laxesten Ländern wie etwa Spanien und den umsichtigsten Ländern wie Deutschland entschärft.8 Gleichzeitig veranlaßte die unnachgiebige Haltung mehrerer Länder einige Unternehmen dazu, sich freiwillig diesen Regelungen zu unterwerfen, um einen makellosen Markennamen vorweisen zu können.
Im Unterschied zu den medizinischen Neuerungen, die von den Patienten selbst gewünscht werden und deren Modalitäten im Prinzip ihrer Zustimmung unterworfen sind, wird die Verbreitung transgener Pflanzen ohne gesellschaftliche Nachfrage und ohne Zustimmung der Bürger durchgesetzt. Auch hier stößt man auf die absolute Macht der Experten mit ihren arrogant vorgetragenen Gewißheiten, die man schon von der Atomtechnologie her kennt. Ganz entschieden haben Gen und Atom nicht nur zu konvergierenden, sondern sogar vergleichbaren politischen Prozessen geführt. Die damit verbundenen massiven, unumkehrbaren Maßnahmen bedrohen die Gesundheit und die Lebensqualität, und sie gefährden auch die Demokratie.
Die gigantischen Biotechnologieprogramme sind imstande, die Produktionsbeziehungen zu verändern und soziale Veränderungen einzuleiten, über die sich bislang kein Parlamentsausschuß Gedanken zu machen scheint. Ein Verbund aus Industriellen und Spezialisten setzt neue Lebensformen durch, deren Gewinn für die Mehrheit der Menschen fraglich ist. Debatten unter Experten übertönen die Tatsache, daß es hier um ethische und politische Fragen geht. Experten wollen uns weismachen, die fraglos vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen genügten zur Rechtfertigung dieser oder jener Vorgehensweise.
Man nehme den Streit um die Injektion von Spermatozooen in die Eizelle (ICSI), durch die nicht fortpflanzungsfähige Männer zeugungsfähig werden: Mehrfach entschied man sich aus Sorge um die genetische Sicherheit, aber unter Mißachtung der damit verbundenen menschlichen Probleme, für eine Samenspende Dritter.9 Manche der ICSI-Kinder werden ebenso zeugungsunfähig sein wie ihre Väter, aber die Suche nach dem absolut „fehlerfreien“ Produkt könnte dazu führen, daß Zeugungsunfähigen medizinische Hilfe verweigert wird, wenn sie zugleich auch kurzsichtig oder Asthmatiker sind, also vielleicht Kinder zeugen würden, die die Behinderungen ihrer Eltern erben könnten. Orthogenik oder Eugenik?
Der ständig wiederkehrende Hinweis auf die Konferenz von Asilomar, der sich durch alle Heldensagen der modernen Genetik zieht, ist bezeichnend für den fortschreitenden Substanzverlust der ethischen Problematik zugunsten der Möglichkeiten der technischen Machbarkeit. 1975 tagten 140 Molekularbiologen in Kalifornien, um sich Gedanken über die unbeabsichtigte Verbreitung von Organismen mit veränderter DNA zu machen. Sie verabschiedeten ein Moratorium mit der Forderung, Sicherheitsvorschriften auszuarbeiten und einen Aufsichtsrat zu bilden. Die Frage nach den impliziten Risiken der Molekulargenetik interessierte die Initiatoren nicht; sie wollten lediglich die unmittelbaren Risiken einer Technologie reduzieren, die ansonsten als unumstritten galt. Daß heute ausgerechnet diese Konferenz zur Geburtsstunde einer genetischen Ethik erklärt wird, spricht Bände über die Verwirrung der Begriffe Sinn und Kontrolle. Die Fragen, die die neuen Technologien aufwerfen, werden somit gegenstandslos, sobald die technische Diskussion sich um die Technik selbst dreht.
Auch die Volksvertreter übernehmen diese Denkweise. Sie lassen sich beeinflussen von den technischen Aspekten, die die Experten in der Diskussion um die genetisch modifizierten Organismen in den Vordergrund heben, und beschwören die potentiellen Gefahren, die von transgenen Nahrungsmitteln ausgehen, und fordern bessere Verbraucherinformationen durch klare Kennzeichnung. Der Sinn dieser Etikettierung liegt einzig in der Möglichkeit, die genetisch modifizierten Organismen zu boykottieren, wenn deren ökologische und politische Auswirkungen zutage treten.
So lassen sich die Verbraucher, ungeachtet ihrer Lebensqualität, weiter von dem blenden, was auf ihrem Teller liegt. Und um sachkundig zu bleiben, picken sie sich Molekulardiätetikexperten heraus, die immer noch mehr Technik empfehlen, um die Technologie zu kontrollieren. Eine solche Reduktion des Politischen auf das rein Technische ist beunruhigend. Sie blendet den ethischen Aspekt aus und nimmt dadurch den Menschen die Möglichkeit, ihre Zukunft selbst zu bestimmen und zu gestalten; sie begrenzt ihre Handlungsfreiheit auf die Verwaltung eines technologischen Schicksals.
dt. Sabine Scheidemann
* Forschungsdirektor am Nationalen Institut für Gesundheitswesen und medizinische Forschung (Inserm), Paris; Verfasser von „La procréation médicalisée“ und „Le Désir de gène“, Paris (Flammarion) 1993 bzw. 1994.
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