16.05.1997

Neubegründung

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Neubegründung

Von IGNACIO RAMONET

JEAN-Jacques Rousseau war der entschiedenen Ansicht, die Demokratie sei „eine so vollkommene Regierungsform, daß sie den Göttern, nicht aber den Menschen angemessen ist“. Muß man sich also – da doch wenig Hoffnung besteht, daß aus Menschen in nächster Zukunft Götter werden – mit einer immer unvollkommeneren Demokratie abfinden? Einer, in der das republikanische Ideal ohne Unterlaß fehlgeleitet und pervertiert wird, wie es gerade erst wieder der französische Staatspräsident Jacques Chirac mit seiner Entscheidung gezeigt hat, aus politischer Bequemlichkeit, und um eine größere Debatte über die Zukunft Frankreichs auszubooten, die Nationalversammlung aufzulösen.

Die meisten großen Mängel der Demokratie sind seit langem bekannt und entsprechend kritisiert worden.1 Und zwar nicht nur von erbitterten Gegnern, sondern auch von scharfsinnigen Verteidigern dieses Systems, die wissen, daß es sich glücklicherweise vervollkommnen läßt.

Am Vorabend des beginnenden dritten Jahrtausends stellt sich die Frage einer Revision der Demokratie, einer Reform dieses Modells, auf neuartige und dringliche Weise. Ein politisches Gerüst, das im wesentlichen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England, den Vereinigten Staaten und Frankreich entworfen wurde und auf die griechische und römische Antike zurückgeht, bedarf unweigerlich einer grundlegenden Erneuerung. Gewiß, es sind einige, zum Teil fundamentale, Veränderungen an ihm vorgenommen worden (die Abschaffung der Sklaverei und des Zensuswahlrechts, die Einführung des Frauenwahlrechts), doch jeder spürt genau: Das System ist verbraucht, es läuft leer und entfernt sich immer weiter von den Sorgen und Nöten der Bürger.

Immer mehr Menschen fordern eine „radikale Demokratie“, in der der Rechtsstaat und die Persönlichkeitsrechte endlich ohne Abstriche respektiert würden.2 Sie halten den Moment einer solchen Reform für gekommen, nun, da die Industriegesellschaften in den Strudel einer dreifachen – technologischen, wirtschaftlichen und soziologischen – Revolution geraten sind.3

Durch die Revolution der Informatik wird das menschliche Gehirn (zumindest eine wachsende Zahl seiner Funktionen) durch „intelligente“ Maschinen ersetzt. Diese Entwicklung in Richtung intelligenter Produktionsmittel (in der Industrie so gut wie im Dienstleistungsbereich) wird durch die rasante Ausbreitung der Telekommunikationsnetze beschleunigt. Die Produktivität schießt in die Höhe, während ganze Berufszweige verschwinden und Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsunsicherheit um sich greifen.

Die vorherrschende Erscheinung auf wirtschaftlichem Gebiet heißt Globalisierung und bedeutet die immer engere Verflechtung einer wachsenden Zahl von Volkswirtschaften. Sie betrifft vor allem den Finanzsektor, der auf dem Wirtschaftssektor die Vormacht ausübt. Die Finanzmärkte folgen selbstgesetzten Regeln und sind mittlerweile imstande, den Staaten ihre Gesetzmäßigkeiten aufzuzwingen.

Auf soziologischem Gebiet schließlich stellen die beiden zuvor benannten Revolutionen den Begriff der Macht in Frage. Einst vertikal, hierarchisch und autoritär, gibt sie sich nun horizontal, vernetzt und (dank der Manipulationstechniken der Medien) konsensorientiert. Dieser Wandel betrifft insbesondere Selbstverständnis und Praxis der politischen Macht.

Innerhalb der Europäischen Union kommt noch hinzu, daß die Staatsmacht durch die Übertragung von Hoheitsrechten – an die EU in der einen Richtung, an die Regionen in der anderen – in doppelter Hinsicht ausgehöhlt wird.

Markt als Zuchtmeister der Gesellschaft

WIE soll in einer solchen Situation die Demokratie nicht einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit einbüßen? Die Bürger sind nicht mehr in der Lage, mit ihrer Wählerstimme auf entscheidende Bereiche wirksam Einfluß zu nehmen, weil diese mittlerweile außerhalb ihrer Reichweite liegen. Die Wirtschaft insbesondere ist zunehmend vom Sozialen abgekoppelt, und ihre führenden Vertreter weigern sich, für die Folgen aufzukommen, die mit der Unterwerfung unter das Dogma der Globalisierung einhergehen (wie Arbeitslosigkeit, Verarmung, Ausgrenzung, sozialer Bruch).

In den letzten zwanzig Jahren haben die politisch Verantwortlichen ihr Heil in Monetarismus, Deregulierung, freiem Warenverkehr, unbeschränktem Kapitalfluß und Privatisierung gesucht und damit einer Übertragung entscheidender Kompetenzen (in puncto Hoheitsrechte, Sicherheit, Investitionen, Beschäftigung, Gesundheit, Erziehung, Kultur, Umweltschutz) vom staatlichen auf den privaten Sektor Vorschub geleistet. Und sie ließen es zu, daß die neuen „Herrscher der Welt“4 sich allgemeinen Wahlen nicht zu unterwerfen haben. Deren Entscheidungen entziehen sich mitsamt ihren Auswirkungen (etwa auf Arbeitsmarkt, Kultur oder Umwelt) der Kontrolle durch den alleinigen „Souverän“, das Volk.5

Überall auf der Welt läßt sich das gleiche Phänomen beobachten. Einst bekämpften die Besitzenden im Verein mit den Unterdrückungsapparaten (Armee, Sicherheitskräfte, Polizei) jeden Versuch zur Einführung demokratischer Verhältnisse. Zuhauf gibt es Beispiele dafür, wie demokratische Regime gestürzt wurden, weil sie Ungleichheiten abbauen und den Reichtum gerechter verteilen wollten. Etwa weil sie sich anschickten, strategische Bereiche der Wirtschaft zu verstaatlichen (d.h. in den Dienst des Landes zu stellen). Damals bedeutete Demokratie die Herrschaft der Politik über die Wirtschaft, zum Wohl und Nutzen der Bürger.

Heutzutage haben sich die Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Lateinamerika wie Osteuropa und die Nachfolgestaaten der implodierten UdSSR, Afrika wie Südostasien leben in „Übergangsphasen zur Demokratie“. So daß die Demokratie, die bis vor zwanzig Jahren noch eine Seltenheit war, zu dem meistverbreiteten politischen System geworden ist. Überall jedoch reimt sich heute Demokratisierung auf Entstaatlichung, Privatisierung; und nicht selten auf Spekulation und Korruption.

Überall bröckelt der Zusammenhalt der Gesellschaft. Oben etabliert sich eine immer wohlhabendere Kaste (in Frankreich besitzen 10 Prozent der Haushalte 55 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums, und man kann davon ausgehen, daß zweihundert Manager das Schicksal des Planeten bestimmen).6 Dagegen zieht nach unten hin die Armut ständig weitere Kreise. Eine Vielzahl armer, ausgegrenzter Bürger ist nicht mehr imstande, die Rechte wahrzunehmen, die ihnen in der Demokratie formal zustehen.7

Die Demokratie hat fortan keine Handhabe mehr, den schädlichen Einflüssen der Finanzmärkte entgegenzuwirken. Da die Zentralbanken unabhängig geworden sind, haben sich die Staaten freiwillig der Mittel beraubt, den Kapitalfluß zu bremsen und den Spekulanten Einhalt zu gebieten. Willig gehorchen sie Regeln, die mit den sozialen Erfordernissen der Gemeinschaft nichts gemein haben.

Die Bürger wissen, wer die wirkliche Macht besitzt. In einer Umfrage äußerten 64 Prozent der Befragten, „es sind die Finanzmärkte, die heute in Frankreich die meiste Macht haben“8 , vor „den Politikern“ (52 Prozent) und „den Medien“ (50 Prozent).

In den meisten großen Demokratien distanzieren sich die Regierungen, kaum daß sie gewählt sind, von ihrem eigenen Programm und befolgen die allgemeingültig formulierten Anweisungen der (nicht gewählten) überstaatlichen Organisationen wie Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO). Zusätzlich steht Europa unter dem Diktat der vier im Maastrichter Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien für den Beitritt zur Einheitswährung (Haushaltsdefizit unter 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), Staatsverschuldung unter 60 Prozent des BIP, Inflationsrate unter 3 Prozent und langfristige Zinssätze unter 7,5 Prozent).

Bankrotterklärung der Politik

TROTZ allem gibt es einige führende Persönlichkeiten, die versichern, noch an die Autonomie des Politischen zu glauben. Erst kürzlich forderte Philippe Séguin (RPR), der Präsident der Nationalversammlung, „den Vorrang der Politik (gegenüber) einem Markt, der, wie es scheint, der neue Zuchtmeister unserer Gesellschaften ist und sie auf Globalisierung einschwören möchte“. Dieser Markt, fügte er hinzu, sei eine „anonyme Macht mit unbekannten Absichten. Man spricht von ihm wie von einer Person, der sagenhafte Fähigkeiten zugeschrieben werden, die von einer unfehlbaren Vernunft sein soll und sich anschickt, sich einer Demokratie entgegenzustellen“, die bereits „der Bedrohung durch einen totalitären Kapitalismus“ ausgesetzt ist9 .

Zu viele Verantwortliche werden jedoch nicht müde, im Namen ultraliberaler Prinzipien „Anstrengungen zur Anpassung“ zu fordern, und finden sich mit der Entmachtung der Politik ab. Einige träumen gar von einer rein verwaltenden, technokratischen Regierung und betrachten Wahlen folgerichtig als lästige Zeitverschwendung. Der französische Industrieminister Franck Borotra rechtfertigte tatsächlich die Auflösung der Nationalversammlung und die Stegreifveranstaltung vorgezogener Neuwahlen mit der Versicherung, wenn der vorgesehene Termin (März 1998) eingehalten worden wäre, „hätte das Land ein Jahr mit fruchtlosen Diskussionen verloren“.

Eine solche Bankrotterklärung verschärft die Ungerechtigkeiten im Süden wie im Norden. Überall vertiefen sich die Ungleichheiten in dem Maße, wie die Vorherrschaft der Märkte zunimmt. In Europa gewöhnt man sich daran, daß die Demokratie den Grundwerten des Gesellschaftsvertrags den Rücken kehrt und fast 18,5 Millionen Arbeitslose und 50 Millionen Arme in Kauf nimmt. In einigen „demokratischen“ Staaten bildet sich vor unseren Augen eine Gesellschaft aus Rentnern und Sozialhilfeempfängern...

Diese Ungerechtigkeit wird viel zu selten angeprangert, da es den Massenmedien häufig am nötigen Scharfblick und Mut dazu fehlt. Und die Methoden der Manipulation (die auf subtile Weise den Zustand einer Konsensgesellschaft herbeiführen) haben in den Demokratien beunruhigende Fortschritte gemacht, vor denen uns seit 1958 Aldous Huxley warnt: „Im Licht unserer jüngsten Erkenntnisse“, schreibt er, „wird offenkundig, daß die Kontrolle durch die Unterdrückung nonkonformer Verhaltensweisen letztendlich weniger wirkungsvoll ist als die Kontrolle durch die Stärkung geeigneter Verhaltensweisen mittels Belohnung; und daß, insgesamt gesehen, eine Regierung durch Terror weniger erreicht als durch die gewaltlose Manipulation des Umfeldes, der Gedanken und Gefühle eines einzelnen.“10

Die Fehlentwicklungen in Sachen Demokratie zeigen sich an noch weiteren Punkten: die mangelnde Repräsentativität der „gewählten Volksvertreter“, die tendenzielle Mißachtung der Parlamente seitens der Regierungen, die sich lieber über die Massenmedien an die Bürger wenden; der skandalöse Einfluß von Pressure-groups (siehe den Artikel von Serge Halimi, Seiten 12 und 13); die Ohnmacht der Judikative (siehe den Artikel von Jean-Paul Jean, Seite 11); und die zunehmende Bestechlichkeit der Politikerkaste.

Verwundert es da, daß immer mehr Bürger die Demokratie für einen ausgemachten Schwindel halten? Daß in ihren Augen die Demokratie von einem Grüppchen Privilegierter verraten und vereinnahmt wurde?

dt. Christian Hansen

Fußnoten: 1 Hierzu empfiehlt sich die vergnügliche Lektüre von Italo Calvino, „Der Tag eines Wahlhelfers“, Frankfurt/Main 1964. 2 Siehe Jürgen Habermas, „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1992, sowie Jürgen Habermas und John Rawls, „Débat sur la justice politique“, Paris (Cerf) 1997. 3 Siehe Ignacio Ramonet, „La planète des désordres“, Manière de voir, Nr. 33, Februar 1997. 4 Vgl. „Les Nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, November 1995. 5 Siehe Richard Lacayo, „But Who Has the Power?“, Time, 17. Juni 1996. 6 Siehe Frédéric F. Clairmont, „Endlose Profite in einer endlichen Welt“, Le Monde diplomatique, April 1997. 7 Siehe René Lenoir, „La démocratie au péril de la finance, Le Monde, 21. Februar 1995. 8 Le Monde, 18. Dezember 1996. 9 Le Monde, 8. Januar 1997. 10 Aldous Huxley, „Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt“, München 1987.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von IGNACIO RAMONET