16.05.1997

Der amerikanische Traum vom blauen Dunstplaneten

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Der amerikanische Traum vom blauen Dunstplaneten

DER Tabakkonsum ist in den letzten vierzig Jahren in der nördlichen Hemisphäre um die Hälfte gesunken, während er sich in den Ländern des Südens mehr als verdoppelt hat. Insbesondere in der Volksrepublik China gibt es mehr Raucher als in den Vereinigten Staaten Einwohner. Ein Eldorado für eine Zigarettenindustrie also, die – angesichts immer umfassenderer Schutzbestimmungen in den Vereinigten Staaten und Europa – dort, wo man sie läßt, Methoden der Vermarktung und Absatzsteigerung anwendet, wie sie in ihren Ländern künftig verboten sind (Ausrichtung der Werbung auf Minderjährige, Zigarettenautomaten). Und wenn sich in einem politischen System, das seelenruhig bestechlich ist, die Möglichkeit ergibt, die Gefälligkeit (oder Duldung) der politischen Kreise zu kaufen, warum darauf verzichten? Inzwischen allerdings ist die Justiz tätig geworden: Die auf die Tabakproduzenten zurollende Prozeßlawine könnte diese bis zu 300 Milliarden Dollar kosten.

Von HAL KANE *

Die Zigarette ist ein Geschenk der Vereinigten Staaten an den Rest der Welt. Ihre nachhaltige Verbreitung verdankt sie dem weltumspannenden Einfluß von Hollywood und der qualmenden Aura seiner Schauspieler. Gegenwärtig setzt die amerikanische Tabakindustrie alles daran, sich ausländische Märkte zu erschließen, um die sinkenden Verkaufszahlen im eigenen Land auszugleichen. Die Kampagnen zur medizinischen Aufklärung sind nicht spurlos an ihnen vorübergegangen, sowenig wie die wachsende Zahl der Strafprozesse und Reglementierungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Deshalb richten sich die wirtschaftlichen Hoffnungen der großen Tabakkonzerne jetzt auf Europa, Südostasien und die ehemalige Sowjetunion.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt die Zahl der Raucher weltweit auf 1,1 Milliarden, darunter 200 Millionen Frauen. Zwar ist der Zigarettenkonsum in den Vereinigten Staaten seit 1986 um 17 Prozent gesunken. Dennoch ist die Produktion amerikanischer Zigaretten weiter gewachsen, denn zwischen 1986 und 1995 haben sich die Exporte nahezu vervierfacht – von 64 auf 231 Milliarden Zigaretten. Allein von 1994 bis 1995 hat die Zahl exportierter Zigaretten um 70 Milliarden zugenommen.1

Ein wesentlicher Grund für diesen Zuwachs ist die Liberalisierung des japanischen Marktes 1986. Tatsächlich ist Japan zum zweitwichtigsten Kunden der amerikanischen Zigarettenhersteller aufgerückt (61,7 Milliarden Stück). Wenn immer noch der Komplex Belgien-Luxemburg an der Spitze liegt (71,4 Milliarden Stück), dann vor allem, weil der Export in die anderen europäischen Märkte über diese beiden Länder verläuft. Die übrigen Großimporteure oder Durchfuhrländer für Tabak sind weit abgeschlagen: Libanon (10,7 Milliarden Zigaretten), Saudi-Arabien (9,7 Milliarden), Singapur und Zypern (je 7,5 Milliarden) und Hongkong (6,7 Milliarden).

Die amerikanischen Zigarettenexporte stellen einen Wert von jährlich rund 5 Milliarden Dollar dar; zusätzlich entfallen noch 1,4 Milliarden Dollar auf unverarbeiteten Tabak, der hauptsächlich in die Europäische Union und nach Japan verkauft wird. Schon jetzt gehen 25 Prozent aller Zigarettenexporte auf das Konto der Vereinigten Staaten, doch winkt dem unbestrittenen Weltmeister in dieser Disziplin eine noch rosigere Zukunft, zum einen wegen vielversprechender Aussichten in einigen südlichen Ländern, zum anderen durch die Öffnung bislang geschützter Märkte.

Noch bis in die jüngste Zeit scheuten sich die amerikanischen Konzernchefs nicht, bestimmte gesundheitspolitische Maßnahmen ausländischer Staaten als „protektionistisch“ zu bezeichnen und mit wirtschaftlichen Repressalien zu drohen. Auf diesem wie auf vielen anderen Gebieten hat die Wahrung amerikanischer Interessen Vorrang. Wird nicht Jesse Helms, der amtierende Vorsitzende des Senatsausschusses für Außenpolitik, zuweilen Tabak-Senator genannt? Während er im Bundesstaat North Carolina, den er im Senat vertritt, mit diesem Spitznamen auf Wählerfang geht, mahnt er andernorts ausländische Regierungen zur Vernunft, die sich allzu sehr um die öffentliche Gesundheit sorgen.

In zahlreichen Ländern machen Philip Morris (Marlboro), RJR Nabisco (Camel, Winston) und Brown & Williamson zudem schamlos Gebrauch von werbewirksamen Praktiken (Fernsehspots, Schirmherrschaft für Konzerte und kostenlose Zigarettenverteilung an Minderjährige), die in den Vereinigten Staaten strafbar wären. Philip Morris scheint damit den meisten Erfolg gehabt zu haben: Noch 1976 besaßen Marlboro-Zigaretten in Hongkong, Singapur und Frankreich einen Marktanteil von lediglich 2 Prozent; 1989 erreichte ihr jeweiliger Anteil 36,7, 20,7 und 18,2 Prozent.2

Da sich die Entwicklungsländer mit der gleichen Geschwindigkeit in Räucherkammern verwandeln, wie in den Industriestaaten der blaue Dunst sich lichtet, werden die armen Länder mit jedem Tag mehr zu einem Sauerstoffzelt für die amerikanischen Nikotinlieferanten. Beispielsweise haben sich die noch vor zehn Jahren völlig unerheblichen Exporte ins Nachbarland Mexiko mittlerweile verzehnfacht.

Schon heute gilt China als das quasi unberührte gelobte Land, auch wenn die amerikanischen Zigarettenexporte dorthin noch nicht der Rede wert sind. Hier werden jährlich 1,7 Billionen Zigaretten konsumiert, das ist ein Drittel des Weltverbrauchs. In China gibt es mehr Raucher (300 Millionen) als Einwohner in den Vereinigten Staaten. Während der achtziger Jahre nahm der Zigarettenkonsum um jährlich 5 Prozent zu; 35 Prozent der Minderjährigen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren rauchen, desgleichen 10 Prozent der Neun- bis Zwölfjährigen. Nach Schätzungen der WHO wird sich die Zahl der durchs Rauchen verursachten Todesfälle bis zum Jahr 2020 vervierfacht haben und die Schwelle von zwei Millionen Opfern überschreiten.

Dieser gigantische Markt wird zu 95 Prozent durch inländische Produkte und, was ausländische Zigaretten betrifft, durch Schmuggelware abgedeckt3 . Die Durchführung von wirtschaftlichen Reformen und die Öffnung des chinesischen Marktes muß die ausländischen Hersteller also unweigerlich anlocken. Schon jetzt haben die Konzerne Philip Morris und RJR Nabisco Vereinbarungen mit der staatseigenen China National Tobacco Corporation (CNTC) getroffen, die es ihnen erlauben, auf chinesischem Gebiet zu produzieren. Die einheimische Zigarettenindustrie konnte 1994 ihre Produktion um 25 Milliarden Stück erhöhen, 1995 um weitere 20 Milliarden.

Gerne würden sich die amerikanischen Hersteller von diesem Kuchen ein Stück abschneiden. Ein festes Standbein in China böte ihnen in der Tat die Möglichkeit, die rückläufigen Absatzzahlen in den Vereinigten Staaten mehr als auszugleichen. Schon heute produziert eine Fabrik in der Provinz Fujian jährlich 2,5 Milliarden Zigaretten der Marken Camel, Winston und Golden Bridge (eine einheimische Marke). Man bleibt denn auch nicht untätig: Philip Morris läßt sich die Werbung in China 20 Millionen Dollar kosten und sponsert Fußballspiele, Tennisturniere und Radiosendungen.

Die wirtschaftliche Schützenhilfe des Handelsministeriums der Vereinigten Staaten in der Ära von Ronald Reagan und George Bush zugunsten der amerikanischen Zigarettenhersteller erreichte Ausmaße, die von verschiedenen Seiten mit dem Opiumkrieg [britisch-chinesischer Krieg 1840–1842, ausgelöst durch das chinesische Opiumeinfuhrverbot] verglichen wurden.

1986 unterbreitete Senator Jesse Helms dem damaligen japanischen Premierminister Yasuhiro Nakasone den folgenden „Vorschlag“: „Ich möchte Sie bitten, sich für ein Programm stark zu machen, dem zufolge amerikanischen Zigaretten bei Ihnen ein bestimmter Marktanteil eingeräumt wird. Ich würde vorschlagen, daß das Ziel von 20 Prozent innerhalb von 18 Monaten erreicht sein sollte“.5

Der Vorschlag wurde beherzigt: 1996 kontrollierten ausländische – vor allem amerikanische – Firmen 21 Prozent des japanischen Zigarettenmarktes; und daß die Zahl rauchender junger Frauen derart zugenommen hat, ist zum Teil ihren massiven Werbekampagnen zu verdanken. Der Wirtschaftskrieg in Asien schließt gleichwohl nicht aus, daß amerikanische Firmen hin und wieder eine Schlacht verlieren: In Thailand hat die von den Verteidigern der öffentlichen Gesundheit gestartete Gegenoffensive Philip Morris zum Rückzug gezwungen.6

„So schädlich wie Milch oder Brot“

BEI der Einfuhr amerikanischer Zigaretten rangiert die Europäische Union gleich hinter Südostasien. Doch im Vergleich zu den Wachstumsraten auf dem asiatischen Markt – sie fielen mit 77 Milliarden Zigaretten 1990 gegenüber 86,6 Milliarden fünf Jahre später eher bescheiden aus –, erscheinen die Zahlen für Europa geradezu spektakulär (53 Milliarden Zigaretten 1993, 77 Milliarden 1994, 85 Milliarden 1995). Und da die Antiraucherkampagnen auch in Europa den amerikanischen Herstellern Sorgen bereiten, hat Philip Morris 1996 in den Printmedien unter Umgehung einschlägiger Gesetzesbestimmungen eine gigantische Werbekampagne zur Verteidigung der „individuellen Freiheiten“ der „97 Millionen europäischen Raucher“ gestartet.

Der Konzern – der auch schon behauptet hatte, daß Tabak für die Gesundheit der Nichtraucher genauso wenig schädlich sei wie zum Beispiel Brot oder Milch – organisierte zudem, man höre und staune, einen „Schreibwettbewerb, um unter Journalisten und in der Bevölkerung eine Debatte über die Zukunft Europas anzuregen“.

Der Nahe Osten ist von der aggressiven Handelspolitik amerikanischer Produzenten nicht verschont geblieben. Seit drei Jahren jedoch stagniert der Import und hat sich bei rund 31 Milliarden Zigaretten eingependelt, auf einem mittleren Niveau zwischen den Zahlen für Ende der achtziger Jahre (24 Milliarden) und dem Rekordergebnis von 1993 (36 Milliarden). Libanon, Saudi-Arabien und Israel sind die in dieser Reihenfolge wichtigsten amerikanischen Absatzmärkte der Region.

Der Löwenanteil amerikanischer Tabakerzeugnisse wird zur Zeit nach Südostasien, Europa und in den Nahen Osten verkauft, ohne daß man deswegen die Aussicht auf eine Expansion nach Osteuropa und in die ehemaligen Sowjetrepubliken aus den Augen verlieren würde. Rußland versucht seine Produktion (die gleichzeitig mit der Sowjetunion zusammengebrochen war) auf das einstige Niveau zu bringen, um die einheimische Rauchlust zu befriedigen, die ebenso unersättlich ist wie die der zentral- und osteuropäischen Nikotinanhänger.

1990 verzeichneten die amerikanischen Exporteure in Rußland den größten En-bloc-Verkauf ihrer Geschichte (34 Milliarden Zigaretten); 1994 wurden 7 Milliarden Stück abgesetzt (gegenüber weniger als 2 Milliarden fünf Jahre zuvor). Längst haben die Werbeausgaben der ausländischen Tabakindustrie einen erheblichen Anteil am Etat russischer Fernseh- und Radiosender, der Metros von Petersburg und Sofia sowie der Verkehrseinrichtungen von Bukarest. Doch sind schon heute die Länder Osteuropas Weltmeister im Lungenkrebs.

Als das ukrainische Parlament 1995 ein Anti-Tabak-Gesetz verabschiedete, setzte Philip Morris alle Hebel der Lobbyarbeit in Bewegung, wie sie der Konzern schon durch seine Erfahrungen in den Vereinigten Staaten meisterlich beherrscht (vgl. hierzu den Artikel von Mark Pertschuk). Mit Erfolg: Im Juli 1996 wurde das Gesetz revidiert. Seither ist die Zigarettenwerbung in Kiew auf eine Weise allgegenwärtig, daß man die Stadt für „eine ukrainische Ausgabe von Marlboro Country“7 halten könnte.

Nachdem der Konzern auch der führende amerikanische Investor in Polen geworden ist, war es in Kasachstan Margaret Thatcher höchstpersönlich, die sich aus Liebe zum Freihandel – und für eine Aufwandsentschädigung von 2 Millionen Dollar seitens der Firma – bereit fand, die kasachische Führung dazu zu bewegen, Philip Morris mit offenen Armen zu empfangen.

Zwar sind die Vereinigten Staaten der größte Zigarettenexporteur der Welt (235 Milliarden Stück 1996), doch stehen sie nicht mehr allein auf weiter Flur. Deutschland hat fast 85 Milliarden Zigaretten ins Ausland verkauft, die Niederlande 82 Milliarden, Großbritannien 73 Milliarden, China 66 Milliarden, Brasilien 65 Milliarden, Hongkong, Singapur und Bulgarien jeweils 50 Milliarden. Doch nur die Vereinigten Staaten reservieren nahezu ein Drittel ihrer gesamten Produktion für den Export. Die anderen Ausfuhrländer beginnen gerade erst, begehrliche Blicke auf ausländische Märkte zu werfen, insbesondere solche in Volkswirtschaften, die sich – ob sie wollen oder nicht – dem internationalen Handel öffnen. Wenngleich eine Politik der Produktionsverlagerung einzusetzen beginnt (vgl. hierzu untenstehenden Kasten), wird der größte Teil des erzeugten Tabaks immer noch dort verbraucht, wo er geerntet wird.

In der sich abzeichnenden Konfrontation wird der Werbung eine Schlüsselrolle zukommen. Die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit dürften kaum auf sich warten lassen. Schon heute soll der Zigarettenkonsum jährlich drei Millionen Menschen das Leben kosten.8 Im Jahre 2020 werden es nach Schätzungen der WHO 10 Millionen sein, davon 70 Prozent in den Entwicklungsländern.

dt. Christian Hansen

* Leiter eines ökologischen Forschungszentrums in San Francisco.

Fußnoten: 1 Diese Entwicklung hat sich 1996 fortgesetzt, allerdings in verlangsamter Form, denn man schätzt, daß das Exportvolumen 235 Milliarden Zigaretten erreicht haben wird. 2 Vgl. „Philip Morris's Passion to Market Cigarettes Helps It Outsell RJR“, The Wall Street Journal Europe, 31. Oktober 1995. 3 Siehe Craig Smith, „Western Tobacco Sales Are Booming in China, Thanks to Smuggling“, The Wall Street Journal Europe, 18. Dezember 1996. 4 Vgl. „The Ultimate Battleground“, The Washington Post National Weekly Edition, 16. Dezember 1996. 5 Siehe „The Tobacco Pushers“, The Washington Post National Weekly Edition, 25. November 1996. 6 Vgl. „Thai Health Advocates Turn Back an Assault by U.S. Tobacco“, International Herald Tribune, 19. November 1996. 7 „American Tobacco's Seizure of Ukraine“, International Herald Tribune, 20. November 1996. 8 Man schätzt, daß ab dem Jahr 2025 in Frankreich jährlich 160000 Menschen infolge von Tabakgenuß an Krebs sterben werden (vgl. Le Monde, 5. April 1997).

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von HAL KANE