16.05.1997

Königreich der alten Seilschaften

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Königreich der alten Seilschaften

KEHRT das Chaos nach Kambodscha zurück? Obwohl die Regierungskoalition in den letzten drei Jahren große Erfolge in der Bekämpfung der Roten Khmer verbuchen konnte, ist sie hoffnungslos zerstritten, und die politische Gewalt feiert in Phnom Penh ein spektakuläres Comeback. Eineinhalb Jahre vor den Parlamentswahlen wirkt dieses Klima der Unsicherheit abschreckend auf ausländische Investoren. Seit 1994 sind rund 400 Millionen Dollar an Privatinvestitionen ins Land geflossen, doch das Finanzministerium schätzt den Bedarf des Königreichs auf das Dreifache.

Von RAOUL-MARC JENNAR *

Seit Jahren verschlechtert sich das politische Klima in Kambodscha kontinuierlich, und am 30. März 1997 wurde Phnom Penh zum Schauplatz tragischer Ereignisse: Vier Granaten, die in eine Demonstration vor dem Parlamentsgebäude geworfen wurden, töteten mindestens 17 Menschen und verletzten über 120. Die Demonstration war von der Khmer Nation Party (KNP) des ehemaligen Finanzministers Sam Rainsy organisiert worden.

Soldaten verhinderten die Festnahme zweier Männer, die als die Attentäter erkannt worden waren, und deckten ihre Flucht in ein Wohnviertel, das den Amtsträgern der kambodschanischen Volkspartei (CPP) vorbehalten ist – eine Gruppierung, die aus der seit 1979 regierenden Kommunistischen Partei hervorgegangen ist und dem Zweiten Premierminister der Regierungskoalition, Hun Sen, untersteht.1 Die Polizei weigerte sich, den Verletzten zu helfen. Hun Sen verlangte die Verhaftung von Sam Rainsy, während der Erste Premierminister Prinz Ranariddh erklärte, er habe kein Vertrauen in die vom Innenminister einberufene Untersuchungskommission. In einem von vierzig Parlamentariern der Funcinpec (der Partei des Prinzen) und der BLDP (Buddhistische Liberaldemokratische Partei) unterzeichneten Brief an den UNO-Generalsekretär forderte er eine internationale Untersuchung der Vorfälle und behauptete, der schlimmste Menschenrechtsverletzer in Kambodscha sei der mächtigste Mann des Landes. Gemeint war damit Hun Sen, mit dem er sich die Macht teilt.

Einige Tage später war zu erfahren, daß fünfzehn Mitglieder der Funcinpec, die an die thailändische Grenze geschickt worden waren, um mit den von Anlong Veng aus operierenden Polpotisten zu verhandeln, von diesen umgebracht worden seien. Hun Sen nutzte sogleich die Gelegenheit, um Prinz Ranariddh Unfähigkeit vorzuwerfen. Dies wurde von einem alten Freund aufgegriffen: Ung Phan, ehemaliges CPP-Mitglied, der 1992 zur Funcinpec überwechselte und derzeit Staatsminister ist. Später schlossen sich elf Abgeordnete und zwei Provinzgouverneure der Funcinpec Hun Sens Attacke an. Am 19. April bot Hun Sen diesen Dissidenten der royalistischen Partei, die Prinz Ranariddh feindlich gegenüberstehen, seine Unterstützung an und verkündete im selben Atemzug, er verfüge ab sofort in der Nationalversammlung über eine Mehrheit von 69 der insgesamt 120 Sitze.2 Das empfindliche politische Gleichgewicht, das 1993 nach den Wahlen hergestellt worden war, scheint also schwer erschüttert.

Die aktuelle Situation zeigt, wie dürftig die Ergebnisse der UNO-Intervention von 1992/93 waren. Die provisorische UNO- Verwaltung in Kambodscha (United Nations Transitional Authority in Cambodia – Untac) stand nicht nur der Weigerung der Roten Khmer, sich zu entwaffnen, machtlos gegenüber, sie war darüber hinaus auch nicht in der Lage, die CPP zur Aufgabe ihrer Kontrolle über Armee, Sicherheitsapparat und sämtliche Zentral- und Provinzverwaltungen zu zwingen.3

Anstatt in einem Land, das seit der Unabhängigkeit alle Formen des Autoritarismus kennengelernt hat4 , dauerhaft den Pluralismus zu verankern, hat die Untac zeitweise eine Illusion von Demokratie genährt. Schon die Regierungskoalition, die nach den Wahlen von 1993 gebildet wurde, war in ihrem Spielraum beeinträchtigt, weil sich die CPP nach Abzug der UNO weigerte, die Ergebnisse der Beratungen zu berücksichtigen. Die politische Übereinkunft wurde der Funcinpec unter Androhung von Gewalt aufgezwungen. Nicht nur, daß die Verteilung der Ressorts auf der Grundlage absoluter Parität zwischen den beiden großen Gruppierungen erfolgte, sondern die CPP verlangte von der Funcinpec obendrein die Doppelung der Posten des Premierministers, des Verteidigungs- und des Innenministers. Die Minister und Staatssekretäre der Funcinpec und der ebenfalls an der Regierung beteiligten BLDP verfügen nur insofern über Autorität, als die Beamten, die fast alle Mitglieder der CPP sind, zur Zusammenarbeit mit ihnen bereit sind.

Das Problem der Roten Khmer war 1993 nach wie vor ungelöst. Unter dem Einfluß von Hun Sen entschieden sich die Machthaber damals zunächst für eine Politik der Stärke gegenüber den Polpotisten. Diese Kriegslogik verstärkte den Einfluß der Armee in der Gesellschaft. Die Vertretung der Roten Khmer in Phnom Penh sah sich gezwungen, die Hauptstadt zu verlassen. Am 7. Juli 1994 stimmte die Nationalversammlung für ein Gesetz, das die Partei für ein demokratisches Kampuchea5 verbot. Diejenigen, die den Kampf aufgaben, kamen in den Genuß einer Amnestie. Fortan verfolgten die königlichen kambodschanischen Streitkräfte die Strategie, die von den Polpotisten kontrollierten Gebiete „abzuriegeln“.

Aufreibende Kämpfe um die Macht

DIESE Politik der Stärke trug Früchte, denn immer mehr Rote Khmer liefen zu den Regierungstruppen über. Paradoxerweise bereitete die allmähliche Zersetzung des militärischen Apparats der Rebellen, für die Regierung eigentlich ein Erfolg, den Boden für einen neuen Machtkampf zwischen den beiden großen Parteien und führte zu einer Krise, die, gemessen an der Zeit nach 1993, ganz neue Ausmaße hat. Am 21. März 1996 drohte Prinz Ranariddh vor seinem Parteitag, die Koalition zu verlassen und die Auflösung der Nationalversammlung zu provozieren.

Nach drei Jahren Beteiligung an der Macht wird der Funcinpec klar, wie begrenzt ihr Einfluß innerhalb des Staatsapparates ist. Sie stellt mit Erschrecken fest, daß ihre Wähler, und sogar ihre Mitglieder, massenhaft zur Khmer Nation Party von Sam Rainsy überlaufen, die dieser nach seinem Ausschluß aus der royalistischen Partei im Mai 1995 gegründet hatte. Ranariddh will kein „Marionettenpremierminister“ mehr sein und erklärt: „Wir können nicht bis 1998 so weitermachen.“6

Obwohl die Funcinpec und die CPP denselben autoritären Umgang mit der Macht pflegen, sind sie ansonsten doch sehr verschieden. Die Führungskader der Funcinpec verfügen nicht über den Professionalismus ihrer Kollegen von der CPP: Nach der Rückkehr in ein Land, das sie zehn, manchmal zwanzig Jahre zuvor verlassen haben, kennen sie sich mit den Staatsgeschäften schlecht aus, kümmern sich wenig um die alltäglichen Probleme der Menschen und wissen oft über die Verhältnisse vor Ort nicht Bescheid. Die CPP dagegen lenkt seit über zehn Jahren die Geschicke des Landes und versteht es, sowohl Situationen als auch Menschen perfekt zu beherrschen.

Die Funcinpec hat ihrer wichtigsten Partnerin (und größten Feindin) oft das Bild einer schwachen Partei geboten: Sie scheint vom übertriebenen Individualismus ihrer Führungskader geprägt zu sein, die sich gegenseitig beneiden und wenig Neigung zeigen, sich in den Regierungsgeschäften zu engagieren. Angesichts dieses Vakuums war es für die CPP – eine wohlstrukturierte, disziplinierte und fest verankerte Partei, die in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich ist – ein leichtes, sich zur dominierenden Partei aufzuschwingen.

Der Wechsel von Kadern und Soldaten der Roten Khmer zur CPP hat für Prinz Ranariddh beim Abstecken seiner Position eine entscheidende Rolle gespielt. Die royalistischen Parlamentsabgeordneten haben zwar prinzipiell, wenn auch zuweilen sehr widerstrebend, die Politik der Stärke der Regierung mitgetragen. Sie haben allerdings nie die stille Hoffnung aufgegeben, mit den Roten Khmer, ihren Verbündeten aus der Zeit zwischen 1982 und 1991, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Der Vorsitzende der Funcinpec steht nicht nur unter dem Druck der äußerst aktiven KNP, sondern muß auch auf die Kritik der hellsten Köpfe unter seinen eigenen Parteikadern reagieren. Zudem muß er für die Wahlen von 1998 ein Desaster befürchten. Doch durch seine öffentlich formulierte Kritik ist er das Risiko einer schweren politischen Krise eingegangen.

Inzwischen sehen sich die Militärs aufgefordert, die jeweils eine oder andere der beiden großen Parteien, die sich auf einen regelrechten Showdown eingelassen haben, bei ihren Machtdemonstrationen zu unterstützen. Die beiden rivalisierenden Premierminister garnieren ihre jeweiligen Forderungen mit der Drohung, die Panzer rollen zu lassen. Bei den Offizieren hingegen fühlt man sich nach wie vor an die alten politischen Treueverpflichtungen gebunden, auch wenn jetzt alle die gleiche Uniform tragen. Die Zeit war zu kurz, um sie durch Leute abzulösen, die weniger von den Ereignissen der achtziger Jahre geprägt sind. Die nur oberflächlich gelungene Integration der Regierungsarmee, in der sich deutlich zwei unterschiedliche Kommandostrukturen abzeichnen, wird so auf eine harte Probe gestellt.

Im Juni 1996 planten die Gegner der CPP, auf politischer Ebene jenes Bündnis wiederherzustellen, das vor 1991 die Kommunistische Partei militärisch bekämpft hatte. Diese Operation sollte von einem massiven Zulauf von Roten Khmer in ihr Lager begleitet werden. Die Funcinpec nutzte zu diesem Zweck die tiefgreifenden Differenzen zwischen der polpotistischen Führung in Anlong Veng und jenen Truppenchefs, die in den Regionen mit großen Holz- und Edelsteinreserven, Phnom Malai, Phnom Dei, Pailin und Samlaut, das Sagen haben.

Mit letzteren begann sie zu verhandeln. Als die Kontakte bereits sehr weit gediehen waren, tauchte im August 1996 Ieng Sary, der ehemalige Außenminister des Demokratischen Kampuchea, plötzlich wieder auf der politischen Bühne auf und gerierte sich als politischer Anführer der Militärchefs, die mit der Funcinpec verhandelten. Es gelang ihm, sie davon zu überzeugen, daß es, außer Pol Pot zu gehorchen oder einfach zu den Regierungstruppen überzulaufen, noch eine dritte Möglichkeit gebe: die Schaffung einer dritten politischen Kraft, die den Regierungsparteien beigeordnet wäre, aber einen autonomen Bereich beanspruchen würde. Ieng Sary gründete daraufhin die Mouvement national d'union démocratique (MNUD). Er erkennt zwar die Unteilbarkeit des nationalen Territoriums und die Autorität der königlichen Regierung an, doch ist er der Auffassung, man müsse, um eine vollständige Integration der Kräfte zu erreichen, Zwischenstufen einplanen.

Hun Sen, der über diese taktischen Manöver im Bilde war, tat alles dafür, daß sich die abtrünnigen Roten Khmer der CPP anschlossen. Ein regelrechtes Buhlen um die Roten Khmer begann, und mehrmals kam es zu Zusammenstößen zwischen Roten Khmer, die sich der einen und der anderen Seite angeschlossen hatten, und das führte dann wiederum zu Auseinandersetzungen zwischen politisch verfeindeten Mitgliedern der Regierungstruppen. Im Februar 1997 forderten in der Provinz Battambang heftige Kämpfe zwischen Truppenteilen, die zur CPP halten, und Soldaten, die der Funcinpec und der BLDP gegenüber loyal sind, an die hundert Tote.

Ende 1996 war ganz Kambodscha, mit Ausnahme der Region von Anlong Veng, befriedet. Nach Abschluß der Verhandlungen, bei denen die Frage nach der zukünftigen Nutzung von Minen und Wäldern eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielte wie politische Erwägungen, hatten sich etwa 3900 bewaffnete Soldaten entweder der CPP angeschlossen (2250) oder der Funcinpec (1650). Die Polpotisten haben das Herzstück ihrer ökonomischen Macht und entscheidende Anteile ihrer Subsistenzmöglichkeiten eingebüßt. In Anlong Veng verfügen sie nur noch über etwa 2500 Soldaten.

In diesem politisch-militärischen Kontext hat die Funcinpec mit Blick auf die für 1998 vorgesehenen Wahlen die Idee eines breiten Bündnisses wiederbelebt. Dieses kam im vergangenen Februar zustande. Unter dem Namen „Nationale Einheitsfront“ vereinigt es auf der Basis eines Minimalprogramms die Funcinpec, die KNP und die von Son Sann geführte Fraktion der BLDP.7 Die CPP ihrerseits hat ein Kooperationsabkommen mit der von Ieng Mouly geführten Fraktion der BLDP geschlossen sowie mit der Molinaka und acht kleineren Gruppierungen, die 1993 kein Mandat erreicht hatten. Zwei von ihnen wollen Kambodscha in eine Republik umwandeln.

Trotz alledem sind auf Initiative der beiden Vizepremierminister Ing Kieth (Funcinpec) und Sahr Keng (CPP) Versuche unternommen worden, die Koalition neu zu beleben und die Regierung wieder handlungsfähig zu machen. Diese Bemühungen hatten zunächst gute Aussichten auf Erfolg, aber dann sorgte eine Erklärung von König Norodom Sihanouk für neue Differenzen. Der Monarch hatte unter Berufung auf den wachsenden Einfluß republikanischer Kräfte mit dem Verzicht auf die Krone gedroht...

Ohne sich um den Schiedsrichterstatus zu scheren, den ihm die Verfassung zuweist, mischt sich König Sihanouk regelmäßig in die politische Debatte ein, indem er immer wieder gegen Beschlüsse der Regierung Position bezieht. So bringt er das politische System um den ruhenden Pol, den es so dringend benötigt. Hun Sen hat ihn im Verdacht, eine Neuauflage des Schachzuges von 1955 zu planen8 oder zumindest im nächsten Wahlkampf eine entscheidende Rolle anzustreben. Diese Ankündigung führte zu einer heftigen Auseinandersetzung über die Rolle der königlichen Familie im öffentlichen Leben. Während also der Wiederaufbau des Landes stagniert und die staatliche Korruption grassiert, sehen die Kambodschaner weiterhin hilflos den aufreibenden Streitigkeiten ihrer Machthaber zu.

dt. Miriam Lang

* Wissenschaftler, Verfasser von „Chroniques Cambodgiennes, 1990-1994“, Paris (L‘Harmattan) 1995.

Fußnoten: 1 Seit den Wahlen im Mai 1993 lebt Kambodscha unter einem doppelköpfigen politischen System: Die Front uni national pour un Cambodge indépendant, neutre, pacifique et coopératif (Funcinpec) stellt mit 58 von insgesamt 120 Parlamentssitzen den Premierminister, während ein zweiter Premierminister der CPP (51 Abgeordnete) angehört. Die Buddhistische Liberaldemokratische Partei (BLDP, 10 Mandate) und die kambodschanische nationale Befreiungsbewegung (Molinaka, royalistisch, 1 Mandat) gehören der Koalition ebenfalls an, spielen dort aber nur eine untergeordnete Rolle. 2 Zu den 51 Abgeordneten der CPP kommen noch 12 Dissenten der Funcinpec, 5 Mitglieder der BLDP (Ieng-Mouly-Fraktion) und der einzige Vertreter der Molinaka hinzu. 3 Siehe die Artikel „Des Khmers rouges à bout de souffle“ von Christophe Peschoux sowie „Elections minées au Cambodge“ und „Le Cambodge ravagé par l'incurie“ von Raoul-Marc Jennar in Le Monde diplomatique, Ausgaben November 1993, Mai 1993 und Februar 1995. 4 Von seiner Unabhängigkeit 1953 bis 1993 hat Kambodscha nacheinander eine konstitutionelle Monarchie erlebt, die von 1955 an durch das von Norodom Sihanouk regierte Einparteiensystem der Sangkum Reastr Niyum (Sozialistische Volksgemeinschaft) geprägt war; dann das Militärregime des Generals Lon Nol von März 1970 bis April 1975, die national-maoistische Diktatur der Roten Khmer (April 1975 bis Januar 1979) und schließlich ein kommunistisches System der Volksdemokratie, das von den Vietnamesen eingerichtet worden war. 5 Bezeichnung für die Bewegung der Roten Khmer. 6 Siehe Phnom Penh Post, 5. April 1996. 7 Seit 1993 rivalisieren Son Sann, der Vorsitzende, und Ieng Mouly, Generalsekretär und Informationsminister der BLDP, um die Herrschaft in der Partei. Jede Fraktion verfügt über fünf Abgeordnete im Parlament. 8 Nachdem er die Regierung abgesetzt, sich mit allen Vollmachten ausgestattet und die Nationalversammlung aufgelöst hatte, dankte Sihanouk ab und regierte bis zu seinem Sturz 1970 allein.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von RAOUL-MARC JENNAR