16.05.1997

Die Globalisierungspolizisten von der WTO

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Die Globalisierungspolizisten von der WTO

DIE Welthandelsorganisation WTO gibt sich nicht damit zufrieden, im Bereich des internationalen Handels die Prinzipien des freien Warenverkehrs über andere – kulturelle, soziale oder ökologische – Erwägungen zu stellen. Künftig will sie die Regeln des Wettbewerbs, den Zugang zu staatlichen Aufträgen und die Investitionsgesetzgebung bestimmen. Und dies alles mit Unterstützung der OECD und zum ausschließlichen Nutzen der multinationalen Industrie- und Finanzkonzerne, deren engagierte Sprecher die Regierungen sind.

Von MARTIN KHOR *

Am 1. Januar 1995 wurde die Welthandelsorganisation (WTO) als internationale, aus ihren Mitgliedsstaaten bestehende Organisation gegründet. Sie trat an die Stelle des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das ein permanentes Verhandlungsforum war, bei dem die Staaten nur den Status einer „Vertragspartei“ hatten. Die WTO gab dem radikalen Wandel der Weltwirtschaftsordnung einen institutionellen Rahmen.

In der Vergangenheit sollte diese Ordnung die Entwicklung der Rohstoffpreise oder die Austauschrelationen bei Grundstoffen aus den Entwicklungsländern regeln. Mittlerweile ist sie zu einem reinen internationalen Handelssystem geworden.

Mit der WTO verfügt dieses System über ein ganzes Arsenal an Zwangsregeln und obligatorischen Entscheidungsverfahren. Bei einem Verstoß gegen eine der WTO-Regeln drohen jedem Mitgliedsland Sanktionen. Besonders gilt dies aber für die schwächsten Länder. Wenn sich die Vereinigten Staaten mit dem Helms- Burton-Gesetz1 , das die sakrosankten Prinzipien des Freihandels mit Füßen tritt, gegenüber Unternehmen aus Drittländern, die mit Kuba Handel treiben, extraterritoriale Rechte anmaßen, dann geschieht dies bisher in völliger Straflosigkeit.

Die WTO ist das Herzstück der Abkommen aus der Uruguay-Runde, die im Dezember 1993 in Genf abgeschlossen und im April 1994 in Marrakesch unterzeichnet wurden. Sie hat die Aufgabe, die praktische Umsetzung dieser Abkommen zu planen. Auf ihrem Terminplan für die kommenden Monate und Jahre stehen die Regeln für den Wettbewerb, die Öffnung der staatlichen Märkte und die Investitionen. Für jeden dieser drei Bereiche ist auf der ersten Ministerkonferenz der WTO, die im Dezember 19962 in Singapur tagte, eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden. Diese Arbeitsgruppen sind die erste Etappe in einem Prozeß, der zu einer umfassenden Liberalisierung führen soll.

Mit dem Wettbewerb will man die letzten noch existierenden nationalen Monopole zerschlagen, die kraft einer politischen Entscheidung aufgebaut worden sind. Bei der Telekommunikation ist man bereits am Werk: Schon im vergangenen Februar wurde im Rahmen der WTO beschlossen, diesen Bereich zu liberalisieren. Aber es gibt noch andere Bereiche – zum Beispiel das Eisenbahnmonopol –, die die Begehrlichkeiten der großen Finanzkonzerne wecken.

Ebenso wichtig ist die Arbeitsgruppe, die „eine Untersuchung über die Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“ durchführen soll. Ein Papier der WTO erinnert mit einem gewissen Bedauern daran, daß „öffentliche Aufträge faktisch nicht den multilateralen Regeln unterliegen, die im Rahmen der WTO für den Waren- wie auch für den Dienstleistungsbereich ausgearbeitet worden sind. In der Praxis machen die Mitgliedsländer hierbei immer noch einen Unterschied zwischen Produkten, Dienstleistungen und Lieferanten aus dem In- und dem Ausland. Da die öffentlichen Aufträge für Güter und Dienstleistungen oft zwischen 10 und 15 Prozent des jeweiligen Bruttosozialprodukts ausmachen, handelt es sich dabei um eine beträchtliche Lücke im multilateralen Handelssystem.“3 Um diese „Lücke“ zu schließen, wendet man eine schon bekannte Methode an: In einem ersten Schritt nimmt man ein bereits existierendes Instrument – das multilaterale Abkommen über staatliche Märkte – und dehnt seinen Geltungsbereich auf möglichst viele WTO-Mitglieder aus, bevor man ihn auf alle Mitglieder der Organisation ausweitet.

Das multilaterale Abkommen über die staatlichen Märkte ist 1994 geschlossen worden und trat am 1. Januar 1996 in Kraft. Alle vierundzwanzig Unterzeichnerstaaten4 sind Industrieländer. Es soll auf jene Staaten ausgeweitet werden, die dem Abkommen noch ablehnend gegenüberstehen und weiterhin einheimischen Unternehmen den Vorzug geben. Das Abkommen läßt nur geringe Spielräume: Es erfaßt nicht nur Aufträge für Güter, die von einer Zentralregierung erteilt werden, sondern auch solche für Dienstleistungen, zu denen auch öffentliche Bauaufträge gezählt werden. Ebenfalls unter das Abkommen fallen Aufträge, die von lokalen Körperschaften (Provinzen, Stadtverwaltungen usw.) sowie von staatlichen Unternehmen vergeben werden. Die Schwelle, bei der diese Prozeduren zwingend zur Anwendung gelangen, ist sehr niedrig: Für einen von einer Zentralregierung erteilten Auftrag liegt sie bei 176000 Dollar. Hinzu kommt eine Klausel, die das System wasserdicht machen soll: Jeder Mitgliedsstaat soll einen Verfahrensweg schaffen, durch den ein Bewerber um öffentliche Aufträge die getroffenen Entscheidungen anfechten und eine Entschädigung verlangen kann, wenn er sich benachteiligt fühlt.

Hat eine Regierung erst einmal das multilaterale Abkommen unterzeichnet, dann kann sie, wenn sie einen Posten Kugelschreiber kaufen oder einen Staudamm bauen will, die Regeln für die Auftragsvergabe nicht mehr nach eigenem Gutdünken festlegen. Bei der Konferenz von Singapur hat man zu einem Trick gegriffen, um die vollständige Öffnung der staatlichen Märkte auf sanftem Wege durchzusetzen: Die Angelegenheit wurde unter dem Blickwinkel der Korruption diskutiert, die zum großen Problem unserer Zeit hochstilisiert wurde. Dabei ging es vor allem um die Korruption der Regierungen aus der Dritten Welt, gegen die man die Medien und die NGOs mobilisiert hat. Natürlich hat niemand daran erinnert, daß diese Regierungen, wie zum Beispiel in Zaire und Indonesien, oft von den Vereinigten Staaten oder den anderen großen Mächten, die sich zum Schulmeister aufgeschwungen haben, an die Macht gebracht und dort gehalten wurden.

Heimliche Weltregierung

EINIGE Vertreter von Entwicklungsländern haben sich dagegen gewehrt und darauf hingewiesen, daß der amerikanische Kongreß noch korrupter sei als ihre eigenen Regierungen. Daraufhin wurde der Begriff „Korruption“ durch den der „Transparenz“ ersetzt. Ihn findet man nun in der von den Ministern abgegebenen Erklärung, mit der die Arbeitsgruppe eingerichtet wurde, die „eine Untersuchung über die Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durchführen soll, unter Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten der einzelnen Länder. Auf der Grundlage dieser Untersuchung sollen Punkte erarbeitet werden, die später in ein entsprechendes Abkommen einfließen könnten.“ In dem Maße, in dem eine bedeutende Zahl von neuen Ländern durch verschiedenste Druckmittel „ermutigt“ wird – dieser Begriff stammt aus dem WTO-Papier –, das multilaterale Abkommen zu unterzeichnen, muß die Arbeitsgruppe nur noch empfehlen, es auf alle Mitglieder der Organisation auszudehnen.

Eine identische Ausweichstrategie hat man entwickelt, um die vollständige Liberalisierung bei den Investitionen durchzusetzen. Als Instrument diente diesmal der Entwurf eines Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI), das gegenwärtig innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) diskutiert wird. Das MAI nimmt sämtliche Investitionen ins Visier: die direkten in Industrie, Dienstleistungen und Rohstoffe und die indirekten in Wertpapiere. Es sieht Schutzmaßnahmen vor allem für die vollständige Rückführung erzielter Gewinne und ein System zur Schlichtung von Streitfällen vor, mit dessen Hilfe ein Staat oder ein Investor sich gegen einen anderen Staat wenden kann. Dies wird, wie bei der WTO, mittels eines Schiedsgerichts geschehen, dessen Entscheidungen für die beteiligten Parteien bindend sind.

Nach der Unterschrift unter das MAI- Abkommen hat ein Staat also keine Kontrollmöglichkeit mehr über die auf seinem Territorium getätigten Investitionen. Ein ausländischer Konzern könnte dort Unternehmen gründen, Grundstücke kaufen und auf ihnen anbauen, was er will, Eigentum und jede Immobilie, die ihn interessiert, erwerben, Rohstoffe abbauen usw. Frühere Kolonien haben zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit Regeln aufgestellt, mit denen sie ausländische Investitionen von bestimmten Kriterien abhängig machten, einigen Banken und Versicherungen den Zugang zu ihrem Land verwehrten, Partnerschaften und den Transfer von Technologie erzwangen oder die Rückführung von Gewinnen eingeschränkt haben. Diese Regeln würden nun als Investitionshindernisse gelten und von Ad-hoc- Schiedsgerichten sanktioniert werden.

Da man wegen des entschiedenen Widerstands eines harten Kerns von fünfzehn Ländern des Südens5 bei der Ministerkonferenz in Singapur keine Einigung über die großen Linien des MAI erzielen konnte, haben der Außenhandelsminister von Singapur, Yeo Cheow Tong, der am Nachmittag des Eröffnungstages die Sitzung leitete, und Renato Ruggiero, der Generaldirektor der WTO, eine „informelle“ Versammlung einberufen. Bei der WTO ist es wie früher beim GATT: Wenn man von einer informellen Versammlung spricht, dann handelt es sich in Wahrheit um ein Gipfeltreffen von höchster Wichtigkeit.

Die Minister aus dreißig Ländern, die sorgfältig ausgewählt und mehrfach zusammengerufen wurden, legten dann die Tagesordnung und den gesamten Zeitplan für die neuen Themen und für ihre Umsetzung fest. Einige von ihnen wurden in Einzelgesprächen bearbeitet und ohne Mühe dazu überredet, ihre Meinung zu ändern. So wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die „die Verbindung zwischen Handel und Investitionen untersuchen“ sollte. Die wachsamsten Länder des Südens konnten nur noch dafür sorgen, daß Schutzklauseln in die Texte aufgenommen wurden. Dazu zählt vor allem jene Klausel, die vorsieht, daß „Verhandlungen über multilaterale Vorschriften in diesen Bereichen erst dann stattfinden, wenn die Mitglieder der WTO dies übereinstimmend und ausdrücklich entschieden haben“.

Wie gesagt, bei der WTO ist es wie beim GATT: Eine Arbeitsgruppe wird niemals ohne Hintergedanken eingerichtet. Sie ist starkem Druck aus der WTO- Bürokratie ausgesetzt und bringt einen Prozeß in Gang, dem sich die beteiligten Regierungen schon nach kurzer Zeit kaum mehr entziehen können. Schon sehr bald geht es nicht mehr darum, ob man für oder gegen die Ziele ist, die die Arbeitsgruppe behandeln soll, sondern darum, wie diese Ziele erreicht werden können.

In der Zwischenzeit verhandeln die neunundzwanzig Mitglieder der OECD weiter über das MAI-Abkommen. Eigentlich sollte es zur jährlichen Ministerkonferenz am 27. und 28. Mai vorliegen. Zahlreiche Schwierigkeiten haben die Einhaltung dieses Termins schon jetzt unmöglich gemacht. Hier ist vor allem das Helms-Burton-Gesetz zu nennen: Die Europäische Union hat deswegen die WTO angerufen. Da die EU aber im vergangenen April ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten geschlossen hat, ist ihre Klage vorerst vertagt worden. Das MAI- Abkommen wird voraussichtlich erst Ende 1997 fertig sein. Keinen Zweifel gibt es hingegen darüber, daß man dann die Staaten, die nicht zur OECD gehören, mit Nachdruck auffordern wird, dieses Abkommen ebenfalls zu unterzeichnen. Und dies um so mehr, als in einem WTO-Papier6 gerade zum richtigen Zeitpunkt daran erinnert wird, daß „voraussichtlich 85 Prozent der Direktinvestitionen im Ausland aus den OECD-Ländern stammen“ und daß „die Staaten, die das MAI- Abkommen unterzeichnen, mit einem stärkeren Investitionsfluß rechnen dürfen“. Nach den zwei Jahren, die sich die WTO zugebilligt hat, um die Verbindungen zwischen Handel und Investitionen zu erforschen, dürften die Würfel gefallen sein.

Geht es unvermindert in diesem Tempo voran und wird dem internationalen Handel weiterhin absoluter Vorrang eingeräumt, dann gibt es für die einzelnen Staaten bald nichts mehr zu kontrollieren oder zu schützen: weder Rohstoffe noch das Bildungswesen, noch die Artenvielfalt. Im Auftrag der multinationalen Industrie- und Finanzkonzerne ist die WTO im Gefolge der OECD dabei, den einzelnen Staaten und ihren Bürgern die geringsten Attribute ihrer Souveränität zu rauben. Wäre es nicht an der Zeit, die Schaffung einer faktischen, im verborgenen agierenden Weltregierung zu stoppen?

dt. Christian Voigt

* Wirtschaftswissenschaftler, Direktor des Third World Network in Penang (Malaysia).

Fußnoten: 1 Siehe: Janette Habel, „Mit dem Heiligen Vater die kubanische Revolution retten“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 2 Siehe: Bernard Cassen, „Le commerce contre la société“, und Francisco Vergara, „Plaidoyer pour le volontarisme“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996. 3 Aus einer Pressenotiz, die bei der Ministerkonferenz der WTO in Singapur (9.–13. Dezember 1996) verteilt wurde. 4 Es handelt sich um die fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, um Süd-Korea, die Vereinigten Staaten, Israel, Japan, Norwegen, Aruba (zu den Niederlanden gehörig), die Schweiz und Hongkong (aufgenommen im September 1996). Darüber hinaus wurden die Beitrittsverhandlungen mit Liechtenstein und Singapur inzwischen abgeschlossen. 5 Darunter Indien, Sri Lanka, Indonesien, Malaysia, Ghana, Tansania, Uganda und Haiti. 6 OECD, „The Multilateral Agreement on Investment. Questions and Answers“, 6. März 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von MARTIN KHOR