Ist das Gedächtnis der Franzosen wirklich so kurz?
MIT der Auflösung der Nationalversammlung setzt Präsident Jacques Chirac auf das kurze Gedächtnis der Franzosen. Wer glaubt, eine Parlamentswahl sei der geeignete Anlaß für eine Debatte, und eine solche Debatte solle über die Vergangenheit nicht einfach hinweggehen, für den kommen zwei Publikationen gerade zur rechten Zeit.
Die eine stammt vom Canard enchainé1 und listet alle Wahlversprechen auf, die der Präsidentschaftskandidat Chirac 1995 abgab und nicht gehalten hat: Das berühmte Enthüllungs- und Satireblatt benötigt dafür immerhin 98 Seiten.
Die andere, ebenso lehrreiche Publikation2 wiederholt die Erklärungen einiger Befürworter des „Ja“ anläßlich der Volksabstimmung über die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags 1992. Rückblickend ist dieser Katalog von Stilblüten für die Demokratie mindestens ebenso besorgniserregend wie die zahlreichen nicht gehaltenen Versprechen des Staatspräsidenten.
Die Äußerung des ehemaligen sozialistischen Ministers Bernard Kouchner („Mit Maastricht werden wir weit mehr zu lachen haben“) können wir ebenso übergehen wie die des Grünen Brice Lalonde („Das ist schön! Das ist verrückt!“) Viel schlimmer sind die von den Tatsachen längst widerlegten Analysen, die die Politiker den Wählern verkauft haben. Valéry Giscard d'Estaing versprach „eine bessere Beschäftigungslage“, und die Vizebürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, „mehr Arbeitsplätze, mehr soziale Sicherheit und weniger Ausgrenzung“. Doch ob es um undifferenzierte Lobeshymnen auf das Abkommen oder um abfällige Bemerkungen über dessen Gegner ging – die „großen Namen“ aus den Medien stellten die Politiker noch in den Schatten.
Jean-Pierre Chevènement, der Herausgeber dieser genüßlich präsentierten Stilblütensammlung, hat auch die begeisterten Reden derer aufgenommen, die inzwischen zu den Enttäuschten und Skeptikern gehören. In seinem Vorwort erläutert er, daß das Ja zu Maastricht die „Zustimmung zu einem diffusen, allerdings von der herrschenden Ideologie getragenen Projekt“ bedeutete, während das Nein ein „Votum des Widerstands“ war. Was dessen – vorläufiges – Scheitern erklärt: „Um über die trügerische Mythologie des Establishments zu triumphieren, hätte es eines noch mächtigeren Mythos bedurft. Die Vision, wie ein künftiges Europa der Bürger, das aus solidarischen Nationen besteht, aussehen könnte, ist noch nicht ausgereift.“
Vier Wochen eines schludrig geführten Wahlkampfs sind leider nicht dazu angetan, die ausstehende Grundsatzdebatte in der Öffentlichkeit anders zu führen als in Form eines Abtauschs von Schlagworten; auf der Strecke bleibt wieder einmal die Auseinandersetzung über die Gestalt, die Modalitäten und den Fahrplan der notwendigen Konstruktion Europas.
B.C.
dt. Eveline Passet