16.05.1997

Wirtschaftlicher Aufschwung in Algerien

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Wirtschaftlicher Aufschwung in Algerien

WENIGE Wochen vor den Parlamentswahlen am 5. Juni hat die algerische Opposition, darunter auch die Islamische Heilsfront (FIS), auf einer Konferenz in Madrid am 12. und 13. April die Einleitung eines ernstgemeinten Friedensdialogs gefordert. Bezüglich der Teilnahme an den Wahlen vertreten sie zwar unterschiedliche Positionen, jedoch haben die Unterzeichner der Plattform von Rom (vom Januar 1995) ihre Überzeugung bekräftigt, daß nur eine politische Lösung ein Ende der Gewalt bewirken könne, die in den vergangenen Wochen wieder Hunderte Opfer gefordert hat. Doch die Regierung hat die Bedingungen für die Wahlen festgesetzt und ist zu keinen Zugeständnissen bereit. Sie setzt vor allem auf die verbesserte Wirtschaftslage, um ihre Politik einer Bevölkerung schmackhaft zu machen, die der Entbehrungen und der alltäglichen Schießereien überdrüssig ist.

Von AKRAM ELLYAS *

„Wir haben eine zehn Jahre dauernde schwere Wirtschaftskrise überwunden – inzwischen kann Algerien wieder solide Wachstumsraten vorweisen. Das ist eine bemerkenswerte Leistung für ein Land, das erst kürzlich einschneidende strukturelle Anpassungsmaßnahmen verkraften mußte. Und zuvor hatte es ein Jahrzehnt der Stagnation erlebt, das 1986 mit dem Sturz der Ölpreise begann, wodurch wir die Hälfte unserer Auslandseinkünfte einbüßten.“ Diese Äußerung des algerischen Finanzministers Abdelkrim Harchaoui über ein Land, aus dem die westlichen Medien nur Terroranschläge und Massaker melden, mag ziemlich deplaziert, ja absurd wirken.1 Aber zu Unrecht: Die Zufriedenheit, die die algerischen Regierungsvertreter seit einigen Monaten äußern, ist durchaus begründet, denn sie stützt sich auf hervorragende Daten der klassischen Indikatoren für eine Wirtschaftsentwicklung.

Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts dürfte 1997 bei 5 Prozent liegen, 1996 waren es 4 Prozent und 1995 nur 3,8 Prozent. Zugleich wird die Inflationsrate im laufenden Jahr vermutlich auf 9 Prozent sinken, gegenüber 18 Prozent 1996 und 30 Prozent 1995. Und überdies hat die Handelsbilanz 1996 zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Überschuß ausgewiesen: Einnahmen von 4,2 Milliarden Dollar – 1995 war noch ein Defizit von 0,9 Milliarden zu verzeichnen. Noch wichtiger sind die folgenden Daten: Während das Land 1994 kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand, konnte die algerische Nationalbank für 1996 Devisenreserven in Höhe von 4,2 Milliarden Dollar vorweisen. Selbst nach den vorsichtigsten Schätzungen kann man für 1997 mit 5 Milliarden rechnen – das entspricht dem Importvolumen von mehr als sechs Monaten.

Seit dem Beginn der achtziger Jahre ist ein solches Niveau wirtschaftlicher Stabilität kaum je erreicht worden, und viele Beobachter beeilen sich zu versichern, daß sich die entschlossene Haltung der Regierung nun endlich ausgezahlt habe. „Liamine Zéroual hatte recht, in den beiden letzten Jahren nicht nachzugeben und jeden politischen Kompromiß abzulehnen“, meint ein Experte des Internationalen Währungsfonds (IWF). „Der Wirtschaftsaufschwung wird die Islamisten vielleicht noch weiter in die gesellschaftliche Isolation treiben.“

Die neue wirtschaftliche Stärke basiert im wesentlichen auf zwei Gründen. Zum einen hat sich der Rohölpreis gegen alle Erwartungen auf hohem Niveau stabilisiert: Für ihren Haushalt 1996 mußte die algerische Regierung von einem Preis von 17 Dollar pro Barrel ausgehen, tatsächlich hat sich der Kurs aber bei 21,5 Dollar eingependelt – das bedeutete im vergangenen Jahr Mehreinnahmen von fast 2 Milliarden Dollar. Die günstige Entwicklung der Ölpreise hat die Regierung außerdem veranlaßt, regelmäßig die von der Opec festgelegten Förderquoten zu überschreiten. „Bei einem Preis von 21,5 Dollar pro Barrel durften wir uns diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen“, meint ein Leitungsmitglied der staatlichen Erdölgesellschaft Sonatrach. „Wir wußten, daß unsere erhöhten Fördermengen keinen Kurseinbruch bewirken konnten, und außerdem war klar, daß der Barrelpreis sinken würde, sobald der Irak wieder als Anbieter auf dem Weltmarkt auftritt.“

Der zweite Grund für die guten Wirtschaftsdaten liegt in der unmittelbaren Auswirkung von mehreren Umschuldungsabkommen.2 1995 wurde mit dem IWF ein Abkommen über Strukturanpassungsmaßnahmen über drei Jahre geschlossen, das der Regierung in Algier einen Zahlungsaufschub für Verbindlichkeiten in Höhe von 13 Milliarden Dollar einbrachte. Damit verringerte sich der Schuldendienst von 90 Prozent der Auslandseinkünfte (1993) auf derzeit 35 Prozent. „1993 war das achte Jahr, in dem wir ein Negativwachstum des Bruttoinlandsprodukts verzeichnen mußten“, erklärt Finanzminister Abdelkrim Harchaoui. „Die Wirtschaft stagnierte, und der erwirtschaftete Mehrwert war zu gering, um die ökonomischen Probleme des Landes und vor allem das der Schuldentilgung zu lösen. Durch das Konzept der strukturellen Anpassung konnten wir die wirtschaftlichen Aktivitäten insgesamt fördern. Wir haben das Haushaltsdefizit reduziert, die Geldmengen eingeschränkt und die Staatsfinanzen stabilisiert. Die regelmäßigen Überprüfungen unserer Wirtschaftsentwicklung durch IWF und Weltbank haben ergeben, daß Algerien nicht nur die vorgegebenen Kriterien erfüllt, sondern die Erwartungen übertroffen hat.“

Auch andere Faktoren spielten eine Rolle. Durch die Liberalisierung des Außenhandels verloren eine Reihe von staatlichen Unternehmen ihre Monopolstellung, auf die sich zuvor ein riesiges System von Korruption und Verschwendung gegründet hatte: Bis zu 40 Prozent betrugen die Aufschläge, die die ausländischen Lieferanten aufgrund der von den lokalen Entscheidungsträgern abgezweigten Provisionen auf ihre Rechnungen erhoben. Außerdem bewirkte der Strukturanpassungsplan auch eine gewisse Änderung der Denkweisen. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit wurde kein Mehl mehr importiert: Algerien sparte auf diese Weise 240 Millionen Dollar im Jahr. Seither wird das Mehl im eigenen Land erzeugt – in regionalen Müllereibetrieben, die Getreide aus eigenem Anbau oder Importware mahlen. In Kürze soll ein Joint- venture mit einem europäischen Partner anlaufen, einem Fabrikanten von Fertigungsanlagen für die Lebensmittelindustrie, speziell von Mehl- und Grießfabriken.

Die ehemals staatlichen Unternehmen sind nach ihrer Privatisierung in einer Holding zusammengefaßt worden, die im Bereich der Landwirtschaftsprodukte eine entscheidende Rolle spielt. Dort sieht man die Lage so: „Seit langem ist Algerien der weltweit größte Importeur von Hartweizen, und wir haben es nie geschafft, auch nur einen Teil dieser Importe im eigenen Land zu Mehl verarbeiten zu lassen. Da waren zu viele Interessen im Spiel. Heute müssen die Staatsbetriebe im Nahrungsmittelsektor gewinnbringend wirtschaften. In diesem Fall hat sich das Prinzip der Marktwirtschaft als ein Segen für unser Land erwiesen, weil kaum noch Möglichkeiten der Korruption bestehen.“

Die wichtigste Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs: Algerien ist für westliche – vor allem für französische – Firmen wieder interessant geworden. In den Häfen des Landes herrscht großer Andrang, und jeder Algerier, der ein kleines Guthaben in Dinar besitzt, kann mit der Einfuhr von Konsumgütern Geld verdienen. Dennoch bleibt Algerien ein Markt für Eingeweihte: Nur die Unternehmen, die schon vor der Wirtschaftskrise über Verbindungen und gute Kontakte verfügten, sind auch weiterhin erfolgreich. Jedenfalls soweit es sich um französische Firmen handelt: Andere europäische Länder, wie Spanien oder Italien, haben andere Strategien verfolgt, die sich inzwischen auszahlen. In der Industrie- und Handelskammer der algerischen Stadt Constantine heißt es: „Man darf vor allem die Bedeutung der Visumpolitik nicht unterschätzen: Frankreich geht mit den Einreisegenehmigungen immer noch sehr sparsam um, während die Spanier und die Italiener das viel lockerer handhaben. Die algerischen Geschäftsleute sind pragmatisch, Sie gehen dahin, wo es die günstigsten Angebote gibt – es geht schließlich um ihr Geld...“

Alles hängt am Erdöl und Erdgas

TROTZ der günstigen Konjunktur sind die algerischen Privatunternehmer – die von den Experten der Weltbank etwas voreilig als „der perfekte Motor für den wirtschaftlichen Neustart“ bezeichnet werden – uneinig wie nie. Nicht weniger als drei Unternehmerverbände machen sich die Rolle als Hauptansprechpartner der Regierung und der internationalen Organisationen streitig. Schlimmer noch: Die wenigen Privatunternehmer von Rang, die in der Lage wären, auch außerhalb des Handelssektors in großem Stil zu investieren, zeigen die Tendenz, den Produktionsbereich aufzugeben, um statt dessen ins Import-Export-Geschäft einzusteigen – genaugenommen nur ins Importgeschäft. Natürlich bleibt diese Entwicklung nicht ohne Folgen für den Arbeitsmarkt und auch für die Glaubwürdigkeit der Privatwirtschaft. Die großen Staatsbetriebe dagegen suchen die Unterstützung namhafter westlicher Unternehmensberater, um ihre Managementstrukturen zu modernisieren.

Nachdem Algerien im Augenblick nicht mehr auf internationale (auch nicht auf französische) Finanzhilfen angewiesen ist, führt es den momentanen Aufschwung seiner Wirtschaft als Argument an für ein möglichst baldiges Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union. Fernziel ist die Einrichtung der Freihandelszone bis zum Jahr 2010. Erste Gespräche zwischen Algier und Brüssel wurden am 4. März aufgenommen und werden bis Ende Mai dauern. „In der Mittelmeerpolitik wird langfristig gedacht“, meint Manuel Marin, Vizepräsident der Europäischen Kommission, der als EU- Kommissar für die Beziehungen zu den Drittländern im Mittelmeerraum zuständig ist. „Mit Blick auf die Geschichte muß man ein gewisses Maß an Geduld aufbringen, aber wir hoffen, die Verhandlungen mit Algerien bis zum Herbst zu Ende zu bringen.“3 Algerien hat bereits die Funktion des Koordinators der arabischen Mittelmeerländer übernommen sowie die des Sprechers der mediterranen Drittländer im Rahmen der euromediterranen Partnerschaft, die im November 1995 auf der Mittelmeerkonferenz von Barcelona beschlossen wurde.

Die Frage ist, ob die Regierungsvertreter sich über die Tragweite eines derartigen Abkommens, und vor allem über seine Auswirkung auf die lokalen Produktionsstrukturen, im klaren sind. In Tunesien etwa, dem ersten Land, das, im Juli 1995, ein solches Abkommen geschlossen hat, gibt man offiziell zu, daß bis zum Inkrafttreten des Freihandelsabkommens im Jahr 2007 ein Drittel der kleinen und mittleren Unternehmen des Landes nicht mehr existieren werden. Zahlreiche Experten haben darum die Frage nach den tatsächlichen Beweggründen der Regierung gestellt und die Vermutung geäußert, es könne dieser allein um die politische Anerkennung gehen. Andere sind der Meinung, insgeheim werde zwischen der Europäischen Union und Algerien über die Zukunft der mächtigen Erdölgesellschaft Sonatrach verhandelt – die Verantwortlichen der EU-Kommission wünschten eine baldige Privatisierung der Gesellschaft, um die Energieversorgung Südeuropas besser abzusichern.

Auch wenn der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung Algerien den Rücken stärkt, erscheint die Zufriedenheit, die von Staatsvertretern und den internationalen Finanzorganisationen zur Schau getragen wird, als etwas übertrieben. Sie beruht auf einer allzu kurzgefaßten Perspektive: Ab 1998 wird der Schuldendienst wieder mehr als 50 Prozent der Auslandseinnahmen betragen, im Jahr 2000 werden es fast 75 Prozent sein. Spätestens dann stellt sich die Frage der Tilgung und der Finanzierung der Wirtschaft mit derselben Härte wie 1993 – und allzu viele Lösungen stehen nicht zur Auswahl. Das Vernünftigste wäre, wenn es Algier gelänge, wie offiziell geplant bis zum Jahr 2000 ein Ausfuhrvolumen von 2 Milliarden Dollar – nach Abzug der Erdöl- und Erdgasexporte – zu erreichen. Dafür müßten die Unternehmen allerdings leistungsfähiger werden. Doch die jetzige Regierung scheint diese Perspektive bereits aufgegeben zu haben und setzt zur Stabilisierung des Wachstums ausschließlich auf Erdöl und Erdgas.

Bis zum Beginn des dritten Jahrtausends will die Sonatrach, deren Ausbau in den nächsten zehn Jahren etwa 18 Milliarden Dollar kosten soll, ihre Produktion auf täglich eine Million Barrel Erdöl (statt derzeit 700000) und auf 134 Milliarden Kubikmeter Erdgas (statt 113 Milliarden) steigern. Man setzt also voll und ganz auf die Öl- und Gasressourcen, will aber zugleich die Neuverschuldung drastisch einschränken, um die Währungsreserven bei 2 Milliarden Dollar zu halten. Ein riskantes Vorhaben, das zum einen von der Entwicklung der Energiepreise auf dem Weltmarkt abhängt und zum anderen davon, wie gut es künftigen Regierungen gelingen wird, sowohl die Verschuldung der Staatsunternehmen wie das Haushaltsdefizit im Griff zu behalten.

Es gäbe noch einen dritten Weg: Man könnte versuchen, einen erneuten Zahlungsaufschub für die Staatsschulden zu erwirken, in der Erwartung, daß die privaten wie die staatlichen Unternehmen in den erdölunabhängigen Branchen ihren Exportanteil steigern. „Wir werden keine dritte Umschuldung der staatlichen Verbindlichkeiten anstreben“, hat Ministerpräsident Ahmed Ouyahia dazu unmißverständlich erklärt und zugleich den westlichen Medien, die eine solche Maßnahme als unverzichtbar dargestellt haben, den Vorwurf gemacht, sie wollten „die Regierung destabilisieren“.

Die Entscheidungen werden in der Zeit nach den Wahlen fallen. Je nach der Wirtschaftsgesetzgebung, die das neue Parlament beschließen wird – vor allem in bezug auf die Privatisierung der Staatsbetriebe, die in der gegenwärtigen Form nicht praktikabel ist –, und unter der Voraussetzung, daß das Land zu einem Mindestmaß an sozialem Frieden zurückfindet, wird sich dann zeigen, ob die Wirtschaft tatsächlich einen dauerhaften Wachstumskurs einschlagen kann oder ob fehlende Weitsicht und der Mangel an politischem Mut den Prozeß wieder ins Stocken bringen und die ohnehin schlechten Aussichten weiter verdüstern werden.

dt. Edgar Peinelt

* Algerischer Journalist.

Fußnoten: 1 Meldung der Agentur Reuter vom 26. März 1997. 2 Algerien hat 1994 und 1995 eine Umschuldung seiner öffentlichen Verbindlichkeiten vorgenommen (vom Pariser Club der Gläubigerländer gewährt), die sich auf insgesamt 10 Milliarden Dollar beliefen, sowie eine Umschuldung der privaten Kredite (die der Londoner Club gewährte) in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar. 3 AFP-Meldung vom 3. April 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von AKRAM ELLYAS