Zur Affäre Dutroux
DER Fall Dutroux ist publikumsträchtig und füllt jetzt auch die Auslagen der Buchhandlungen: Im Laufe weniger Wochen sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit den näheren Umständen der Kindesentführungen beschäftigen, weitere sind angekündigt.
Sechs Monate nach dem berühmten „weißen Marsch“ ist nichts vergessen und nichts geklärt. Zu den Bildern von Julie und Melissa, den kleinen Mädchen aus Lüttich, und An und Eefje aus Limburg ist jetzt noch das Foto von Loubna hinzugekommen, einem kleinen Mädchen marokkanischer Herkunft aus Brüssel, das 1992 verschwand und getötet, dessen Leiche aber erst 1997 gefunden wurde. Die Bilder mit den fünf verschmitzt lächelnden Kindergesichtern kleben überall und erinnern die Passanten an das Geschehene. In den Radio- und Fernsehnachrichten, die der Justiz unaufhörlich neue Nahrung bieten, ist nur noch von groben Nachlässigkeiten der Polizei die Rede, von mangelnder Kommunikation zwischen Polizei und Gerichten, politischer Verantwortungslosigkeit, Korruption auf allen Ebenen und zahllosen Skandalen...
Doch wo bleibt die Demokratie? Und der Rechtsstaat? Und wie sollen das so großartig angekündigte neue Staatsbürgerbewußtsein und die neue politische Kultur umgesetzt werden? Das sind die Kernfragen, auf die einige der Neuerscheinungen Antwort geben wollen. Insbesondere gilt das für „La Crise blanche“ von Alain Tondeur1 , „Scandales et péchés (des) capitaux“ von Claude Herne2 , „L'Affaire Dutroux: La Belgique malade de son système“, ein Sammelband von mehreren Verfassern3 , sowie „Marc Dutroux: Le Dossier“ von René-Philippe Dawant4 .
Mit Ausnahme des Werks von Dawan setzen sich die meisten Bücher nur am Rande mit dem Fall des Mörders Marc Dutroux auseinander und versuchen vor allem, die Ursachen für die Krise in Belgien zu ergründen. Eine Krise, die durch den Mord an den fünf kleinen Mädchen unübersehbar geworden ist und sich aus vielen Quellen speist: aus ungenügend verdauten institutionellen Reformen, hohen Arbeitslosenzahlen, den einschneidenden Kürzungen der Sozialausgaben sowie der Arroganz der Sozialistischen Partei in Wallonien und der Christlich- Sozialen Partei in Flandern.
Alain Tondeur bekennt Farbe, seine Sicht der Krise ist „rot“. Er macht das kapitalistische System dafür verantwortlich und ruft zum Widerstand auf. Auch Claude Herne setzt den Kapitalismus auf die Anklagebank und stellt eine Liste der Skandale in der Politik- und Finanzwelt der letzten 25 Jahre auf.
Die vierzehn Autoren von „L'Affaire Dutroux“ analysieren das Räderwerk des belgischen demokratischen Apparats, von der Justiz über die politischen Parteien und Medien bis hin zu den staatlichen Einrichtungen, und nehmen dabei auf Geschichte, Recht, Soziologie, Philosophie und Ethik Bezug. Jean Vogel stellt die Frage, ob der Gesellschaftsvertrag aufgekündigt worden ist, Pascal Delwit setzt sich mit den Möglichkeiten und der Bereitschaft der Parteien auseinander, die öffentliche Debatte wiederzubeleben und die Gesellschaft erneut zu politisieren. Yves Cartuyvels und Philippe Mary stellen fest, daß das soziale Leben zunehmend „verrechtlicht“ wird, während gleichzeitig die Justiz nach einem neuen Modell sucht.
Was die Medien anbetrifft, so haben einige Journalisten zwar fraglos mit ihren Nachforschungen dazu beigetragen, daß einige verstaubte Akten zutage gefördert wurden, doch rechtfertigen diese Verdienste nicht die Praxis des Fernsehens, die undifferenzierten Äußerungen der „Stimme des Volkes“ zu mißbrauchen, um Informationen durch Emotionen zu ersetzen. Immerhin brachte das öffentliche Fernsehen den Mut auf, die Anhörungen der parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Kindesentführungen direkt zu übertragen, was sich nicht nur hinsichtlich der Zuschauerzahlen, sondern auch auf pädagogischer Ebene ausgezahlt hat.
In Belgien gibt es nicht mehr „Pädophile“ als andernorts. Die Eltern der ermordeten Kinder haben außerordentlich viel Klugheit und Mut an den Tag gelegt: „Sie waren fähig, auf die Rolle des beklagenswerten Opfers zu verzichten und haben Rückgrat bewahrt“, stellt Isabella Stengers fest. Die öffentliche Zurschaustellung der Schwächen und Verfehlungen des Regimes scheint diesmal für die extreme Rechte nicht von Nutzen gewesen zu sein.
Ein Wort noch zu einer Neuerscheinung. „Au nom de ma s÷ur“ von Nabela Benaissa5 ist keine Studie, sondern der Bericht eines jungen muslimischen Mädchens aus Brüssel. Sie war vierzehn Jahre alt, als ihre kleine Schwester Loubna verschwand, heute ist sie achtzehn. Ihre Darstellung ist ein Dokument von großem Wert. Durch ihren Mut und ihr Verantwortungsbewußtsein hat dieses junge Mädchen mit dem weißen Kopftuch die Verständigung zwischen den Kulturen einen großen Schritt weitergebracht.
Rosine Lewin
dt. Esther Kinsky