Festung Israel
■ Nur knapp ist der israelische Ministerpräsident am 20. April an einer Anklage wegen "Betrugs und Vertrauensbruchs" vorbeigekommen - aus Mangel an Beweisen, wie Generalstaatsanwalt Eliakim Rub
Nur knapp ist der israelische Ministerpräsident am 20. April an einer Anklage wegen „Betrugs und Vertrauensbruchs“ vorbeigekommen – aus Mangel an Beweisen, wie Generalstaatsanwalt Eliakim Rubinstein betonte, der von „Verdachtsmomenten“ sprach. „Es stinkt zum Himmel“, hieß es in einer Schlagzeile der Tageszeitung Haaretz. Zum Sturz der Regierung kam es dennoch nicht. Netanjahu könnte nun die Zeit nützen, um die Verträge von Oslo noch nachhaltiger und stärker zu sabotieren. Für die israelische Bevölkerung wäre es eine Verschlimmerung der ohnehin katastrophalen Situation, in die sie von der Regierung der Rechten in knapp einem Jahr Amtszeit gebracht worden ist. Die regierende Koalition hat sich von der Idee des Friedens mit den Palästinensern und der arabischen Welt abgewandt und damit Israels Sicherheit, seinen Wirtschaftsaufschwung, die Verbesserung der internationalen Beziehungen, ja sogar die Normalisierung des Verhältnisses von Staat und Religion gefährdet.
Von AMNON KAPELIOUK *
KAUM ein Jahr benötigte Benjamin Netanjahu, um die Beziehungen zu den Palästinensern und einer Reihe arabischer Staaten zu gefährden, die Jitzhak Rabin und Schimon Peres aufgebaut hatten. Er zeigte sich zwar bereit, auf der „Oslo- Schiene“ zu fahren, aber offenbar nur, um den Zug zum Entgleisen zu bringen. Als Oppositionsführer hatte der Likud-Chef die Verträge als „nationales Unglück“ bezeichnet, und nachdem er Ministerpräsident geworden war, beraubte er sie nach und nach aller Inhalte, um sie schneller loszuwerden.
Daß sich Netanjahu drei Monate lang weigerte, mit dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde zusammenzutreffen, war eine bewußte Demütigung Jassir Arafats. Dann forderte er neue Verhandlungen über den Rückzug aus der palästinensischen Stadt Hebron, der für Juni 1996 vorgesehen war, um schließlich, am 15. Januar 1997, eine Vereinbarung zu schließen, die sich von dem ursprünglichen Abkommen nicht wesentlich unterschied. Außerdem hat er die Bautätigkeit in den 144 jüdischen Siedlungen wieder in Gang gebracht1 , und auch in Jerusalem kam es wiederholt zu Provokationen, wie der Eröffnung des Tunnels unter der Altstadt im September 1996, oder, sechs Monate später, die ersten Schritte zum Bau einer Siedlung namens Har Homa auf dem Dschebel Abu Ghuneim. Nicht zu vergessen die immer strengere Abriegelung der besetzten Gebiete, die der palästinensischen Wirtschaft ungeheuren Schaden zufügt: Ein UN-Report beziffert die Verluste im Zeitraum von 1992 bis 1996 auf 6 Milliarden Dollar.2 Das palästinensische Pro-Kopf-Einkommen ist innerhalb eines Jahres um fast die Hälfte gesunken.
In dieser verzweifelten Situation ist nun auch noch die Hoffnung geschwunden, bis zum Ende des Jahrhunderts einen souveränen Palästinenserstaat gründen zu können. Nach dem Gaza-Streifen und der Zone A im Westjordanland (sieben Städte, die 5 Prozent des Territoriums ausmachen) hätte die Administration auch in den ländlichen Gebieten an die Palästinensische Autorität übergeben werden sollen – in der Zone B (25 Prozent des Territoriums), in der Israel weiterhin für die Sicherheit verantwortlich ist, und der Zone C (70 Prozent), die die Israelis weiter kontrollieren wollen. Die Ernüchterung kam am 7. März 1997: Nach der ersten der drei vorgesehenen Rückzugsbewegungen waren nur 2 Prozent der Zone C und 7 Prozent der Zone B geräumt. Auf die Proteste der überraschten palästinensischen Behörden gab die israelische Regierung die Antwort: „Unsere Entscheidung ist definitiv!“ Während die Palästinenser den Truppenabzug aus den Rechten herleiten, die ihnen aus den Verträgen erwachsen, sieht Netanjahu darin ein einseitiges Zugeständnis. Am 4. April erklärt er: „Israel ist lange genug mit gutem Beispiel vorangegangen. Jetzt sind die Palästinenser an der Reihe.“
Durch den politischen Kurs, der seit dem 29. Mai 1996 verfolgt wird, ist auch die Normalisierung der Beziehungen zu Israel in Frage gestellt, auf die man in der arabischen Welt seit den Osloer Verträgen gesetzt hatte. Was soll aus dem „neuen Nahen Osten“ werden, wenn der israelische Ministerpräsident sich an den besetzten Gebieten festkrallt und offenbar dem Palästinenserstaat allenfalls „eine Souveränität in der Art von Andorra oder Puerto Rico“ zugesteht?3 Die Golfstaaten, Tunesien und sogar Marokko haben ihre Beziehungen zu Israel eingefroren, und König Hussein von Jordanien, der einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland unterzeichnet hat, schrieb Anfang März in einem Brief an Netanjahu, dieser werde „die Verantwortung tragen im Falle eines erneuten Blutvergießens in der Region, durch das der Friedensprozeß für immer zunichte gemacht würde“. Aus Kairo kommt der Vorschlag, dem israelischen Premier den Saladin-Orden zu verleihen – schließlich sei es ihm gelungen, die Araber zu einen und auf die palästinensische Sache einzuschwören. Zumal Netanjahu auch die Hoffnungen auf einen Frieden zwischen Israel und Syrien zunichte gemacht hat. Jitzhak Rabin und Hafis al-Assad hatten ein Übereinkommen über einen Rückzug aus dem Golan gegen eine Normalisierung der Beziehungen getroffen. Durch die Forderung „Frieden und den Golan“ hat der israelische Premierminister das Blatt gewendet.
„Die ganze Welt ist gegen uns“ – die altbewährte Formel ist in Israel jetzt wieder überall zu hören. Und nicht zu Unrecht: Die Rechte hat das Land erneut in eine einsame Festung innerhalb der internationalen Gemeinschaft verwandelt. Eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in der die Bauarbeiten in Har Homa als „illegal“ bezeichnet wurden, blieb Israel nur erspart, weil Washington sein Veto eingelegt hatte, aber in der Vollversammlung ist die Erklärung am 13. März angenommen worden – lediglich die USA und Israel stimmten dagegen. Das Gespenst eines Krieges mit den arabischen Staaten geht wieder um.
Und das Fernsehen zeigt wieder die typischen Szenen der Intifada: Auf der einen Seite junge Palästinenser, die Steine werfen, auf der anderen junge israelische Soldaten, die Tränengasgranaten und Hartgummigeschosse abfeuern. Seit dem 18. März 1997, als die Arbeiten in Har Homa begannen, haben die Auseinandersetzungen auf palästinensischer Seite acht Tote und neunhundert Verletzte gefordert, auf israelischer Seite drei Tote und siebenundsechzig Verletzte. Am 21. März starben drei Menschen, als eine Bombe in einem Café in Tel Aviv explodierte. Ist dies der „Frieden in Sicherheit“, den Netanjahu im Wahlkampf versprochen hatte? Inzwischen weiß alle Welt, was unmittelbar nach den Wahlen nur einige Kommentatoren behaupteten: Die Regierung Netanjahu will den Frieden nicht.4
„Jerusalem ist in Gefahr – Peres will Jerusalem teilen.“ Auch das war eine von Netanjahus Wahlkampfparolen. Und eine Lüge: Die Einheit Jerusalems unter ausschließlich israelischer Souveränität ist der Arbeitspartei genauso heilig wie dem Likud. Nachdem sie als Wahlkampfargument ausgedient hatte, taugte die Behauptung aber immer noch, um die Friedensabkommen zu torpedieren – in diesem Zusammenhang sind die Auseinandersetzungen um den Altstadttunnel und die Siedlung Har Homa zu sehen.
Weniger medienwirksam, aber ebenso folgenreich war eine andere Maßnahme: Die israelischen Behörden erklärten die Ausweise Tausender palästinensischer Bewohner Jerusalems für ungültig und verfügten ihre Ausbürgerung aus der Heiligen Stadt. Bis Juni 1996 gab es die Regelung, daß Palästinenser aus Jerusalem, die sich vorübergehend außerhalb Israels aufgehalten hatten, weiterhin als Einwohner der Stadt gelten konnten, sofern sie ihren Personalausweis erneuern ließen. Die neue Regierung betrachtet dagegen jede Ausreise, und sei sie von kurzer Dauer, als Wohnsitzwechsel. Voller Empörung erzählt ein Opfer dieser Praxis: „Und wissen Sie, wer mir das mitgeteilt hat? Ein Neueinwanderer aus Rußland, der bei seiner Ankunft in Israel die Staatsbürgerschaft erhalten hat! Der könnte sein Leben im Ausland verbringen, ohne den Wohnsitz in Jerusalem zu verlieren.“
Aus einer Stärkeposition heraus verhandeln
HAR Homa ist nicht das einzige Bauvorhaben im Rahmen der aktuellen Siedlungstätigkeit. Obwohl in den Siedlungen im Westjordanland dreitausend Wohnungen leer stehen, hat die Regierung beschlossen, weitere zweitausend Einheiten zu bauen, und seit Anfang April hat das Ministerium für Wohnungsbau sensationelle Angebote für alle Kaufwilligen, will heißen für alle jüdischen Interessenten: ein Eigenheim mit Garten für nur 20000 Dollar (etwa 30000 Mark)! Außerdem sind die Siedlungen von der neuen Regierung als bevorzugte Entwicklungsgebiete eingestuft worden, was den Bewohnern unter anderem eine Senkung der Einkommensteuer von 7 Prozent beschert...
In der Tageszeitung Haaretz schreibt Gideon Levy, der sich wie kaum ein anderer israelischer Journalist mit den Problemen der besetzten Gebiete befaßt hat: „Wenn man auf den Straßen im Westjordanland unterwegs ist, bekommt man alle paar Minuten eine neue Häusergruppe zu Gesicht, die das Landschaftsbild verschandelt und, was noch schlimmer ist, die Palästinenser vergrämt, denn zum Teil sind sie bereits von ihrem Besitz vertrieben worden und müssen nun zusehen, wie auf ihrem einstigen Grund und Boden die neuen Wohnsiedlungen hochgezogen werden.“5
Tatsächlich verstoßen diese Siedlungsaktivitäten gegen die Grundidee der UNO-Resolutionen wie der israelisch- palästinensischen Abkommen – das Prinzip Land gegen Frieden. Die Vertreter der Arbeitspartei, die die Verträge von Oslo ratifizierten, hatten die Vorstellung, daß Israel 10 bis 15 Prozent des Westjordanlands annektieren sollte, darunter einen Teil der Siedlungen. Die Rechte dagegen möchte wenigstens die Hälfte des Gebiets behalten, einschließlich sämtlicher Siedlungen. Die Regionen unter palästinensischer Verwaltung würden kein zusammenhängendes Gebiet ergeben: Es blieben nur ein paar vereinzelte, von israelischen Siedlungen umringte Städte. Eine eigenständige und lebensfähige politische Einheit könnte auf keinen Fall entstehen. So stellt sich Netanjahu die Lösung des Palästinenserproblems vor.
Unter diesem Aspekt muß man seinen Vorschlag sehen, sofort in Verhandlungen über den endgültigen Status einzutreten und „in sechs bis neun Monaten“ zu einem Abschluß zu kommen: Auf diese Weise läßt sich verhindern, daß die Übergangsbestimmungen wirksam werden. Auf den ersten Blick scheint das Angebot ganz vernünftig. Warum nicht gleich abschließende Vereinbarungen treffen, statt sich mit Übergangsregelungen aufzuhalten? Aber für Israel würde dieses Vorgehen einen dreifachen Vorteil bieten: Erstens wäre man nicht mehr an die bestehenden Zusagen gebunden, vor allem nicht an die Verpflichtung, in drei Etappen die Streitkräfte abzuziehen; zweitens hätte es damit immer noch 95 Prozent des Westjordanlands unter Kontrolle und könnte aus einer Position der Stärke heraus verhandeln, und außerdem wäre es einfacher, neue Fakten zu schaffen, wenn man keine weiteren Verhandlungen zu führen hätte. Im übrigen stellt sich die Frage, warum der Ministerpräsident, wenn ihm denn so daran liegt, zum Kern der Angelegenheit zu kommen, der Eröffnung der israelisch- palästinensischen Verhandlungen über den Endstatus nicht zugestimmt hat, die am 5. Mai 1997 hätten beginnen sollen.
Wenn man bedenkt, daß es sieben Monate gedauert hat, den bereits ausgehandelten Hebron-Kompromiß umzusetzen, ist es allerdings kaum vorstellbar, daß wenige Monate genügen sollen, um ein Abkommen zu treffen, das alle Probleme zugleich regeln soll: den palästinensischen Staat, die Grenzen, Jerusalem, die Siedlungen usw. Netanjahu hat auf solche Einwände eine Antwort: „Wenn wir nicht weiterkommen, werden wir eben zu den Verhandlungen über die Übergangsvereinbarungen zurückkehren.“ Dem halten die Palästinenser entgegen: „Warum kann man nicht die Gespräche über den Übergangsvertrag beschleunigen und gleichzeitig Verhandlungen über den endgültigen Status führen?“
Der Ministerpräsident, der ernsthafte Verhandlungen nicht wünscht, hält sich an seine bewährte Taktik, die palästinensische Seite zu provozieren und zu Handlungen zu verleiten, die er als Verletzung der Oslo-Verträge oder als gänzliche Abkehr von den Vereinbarungen kritisieren kann. Zu diesem Zweck sind die Planierraupen auf dem Hügel Abu Ghuneim aufgefahren. Bei der Öffnung des Tunnels in Jerusalem konnten manche Beobachter noch davon ausgehen, die Sache sei „falsch eingeschätzt“ worden, aber in bezug auf Har Homa gibt es keinen Zweifel: Der Bau dieser Siedlung war das Ergebnis einer kaltblütigen Entscheidung. „Das wird die Stunde der Wahrheit für den Friedensprozeß“, hat Netanjahu im vertrauten Kreis erklärt. „Diese Entscheidung wird Arafat endlich klarmachen, daß Israel eine neue Regierung hat und daß es darum geht, ob er sich auf die neue Situation einstellt oder die ganze Sache platzen läßt.“6
Man weiß, wie es weiterging: Die gewaltsamen Demonstrationen junger Palästinenser wurden von der Fatah organisiert, aber hinter den neuen Terrorakten stand Hamas, während die Palästinensische Autonomiebehörde die Anschläge verurteilte und zu unterbinden versuchte. Izhar Smilanski, einer der bedeutendsten israelischen Schriftsteller und Träger des Israelischen Literaturpreises, meint dazu: „Auch Har Homa ist ein Akt des Terrors, wenn auch gesetzlich getarnt. Wie sonst soll man es bezeichnen, wenn einem der Grund und Boden gestohlen wird, auf dem man lebt?“7
Terrorismus – der Likud-Führer redet von nichts anderem: Wenn man ihm glauben will, dann sind die Demonstrationen steinewerfender junger Palästinenser bereits terroristische Anschläge, und jeder diplomatische Versuch, Israel international zu isolieren, bedeutet einen Akt des politischen Terrorismus. Netanjahu wußte, wie man diese Gefahr beschwört, um an die Macht zu kommen, aber er dürfte nicht allzuviel darüber nachgedacht haben. Wodurch ist dieser Terrorismus entstanden? Und wer hält ihn am Leben? Wie ist es möglich, daß die Leiden eines Volkes einzelne Extremisten dazu bringen, sich an unschuldigen Menschen zu rächen? Doch der israelische Premier macht lieber Propaganda, wie kürzlich in einer Rede vor der Führung seiner Partei: „Stellen Sie sich vor, einer von uns würde erklären: ,Wenn ihr [die Palästinenser] nicht diese oder jene politische Forderung erfüllt, dann werden wir dafür sorgen, daß immer neue Goldsteins8 kommen, um euch abzuschlachten.‘ Sie [die Palästinenser] tun genau das.“ Am nächsten Tag erschien der Leitartikel der äußerst seriösen Tageszeitung Haaretz unter dem Titel: „Ein verwerflicher Vergleich“.9
Netanjahus arrogante Haltung ist um so erschreckender, als er von seinen Wählern kein Mandat für diese Art von Politik erhalten hat. Seinen knappen Wahlsieg verdankte er unter anderem dem Versprechen, die Zusagen an die Palästinenser einzuhalten. Selbst nach dem Attentat vom 21. März, im Café „A propos“, zeigte eine Umfrage, daß 55 Prozent der Befragten die Verträge von Oslo unverändert befürworteten; 6 Prozent sprachen sich für mehr Nachdruck bei der Umsetzung aus – 37 Prozent lehnten die Verträge ab, und 2 Prozent machten keine Angaben. Aus einer anderen Umfrage ergab sich, daß erstmals die Mehrheit der jüdischen Israelis (51,3 Prozent) der Entstehung eines Palästinenserstaats zustimmte, vorausgesetzt, daß dies zu einem gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina führe – 44,2 Prozent waren dagegen, und 4,5 Prozent äußerten sich nicht.10
Die Israelis wollen nach wie vor Frieden, denn sie wissen auch, welchen sozialen und wirtschaftlichen Preis sie für eine Rückkehr in die Vergangenheit zu zahlen hätten. Bereits den Statistiken von 1996 kann man ablesen, welchen Schaden Netanjahu angerichtet hat: Die Wachstumsquote ist von 7,1 Prozent (1995) auf 4,4 Prozent gesunken, und Hapoalim, die größte Bank des Landes, erwartet für 1997 höchstens 3,2 Prozent. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist um nur 2 Prozent auf 16900 Dollar gestiegen. 1995 betrug der Zuwachs noch 4,4 Prozent, für 1997 rechnet man nur mit 0,9 Prozent. Dagegen stieg die Inflationsrate von 8,1 Prozent (1995) auf 10,5 Prozent; die Einnahmen aus der Tourismusbranche sind um 20 Prozent zurückgegangen. Innerhalb eines Jahres wuchs die Arbeitslosigkeit um 8,4 Prozent – Ende 1996 lag die Quote bei 7,3 Prozent der Erwerbsbevölkerung.
Eine Rekordhöhe erreichte auch das Handelsdefizit: 10,7 Milliarden Dollar, gegenüber 9,8 Milliarden im Jahr 1995. Die Auslandsschulden stiegen auf 20 Milliarden Dollar. Schlimmer noch sind die Auswirkungen auf das Investitionsklima: Vor allem die Wiederaufnahme des Boykotts der arabischen Länder gegen Israel führt dazu, daß sich das ausländische Kapital, dem der Wirtschaftsaufschwung der letzten fünf Jahre zu verdanken war, nun zurückhält. Das Haushaltsdefizit ist doppelt so hoch ausgefallen wie erwartet: 14,4 Milliarden Schekel (7 Milliarden Mark), das entspricht 4,7 Prozent des Bruttosozialprodukts. Damit sind neue Vorwände gegeben, die öffentlichen Leistungen und den sozialen Besitzstand abzubauen. Kurz: Die Zeichen deuten auf eine Rezession.
Viele Beobachter hoffen auf eine Regierung der nationalen Einheit, von der auch Netanjahu gelegentlich spricht, wenn ihn seine Koalitionspartner zu sehr unter Druck setzen. Eine Beteiligung der Arbeitspartei an der Regierung könnte die Gefahr eines neuen Krieges bannen, den 59 Prozent der Israelis fürchten.11 Doch diese Lösung ist unwahrscheinlich, schon weil der Likud-Chef sein Scheitern eingestehen würde, wenn er Labour-Minister in sein Kabinett aufnähme. Und würde er seine Politik überhaupt ändern? Vielleicht wären die Posten für die Arbeitspartei ja nur eine Rückversicherung für Netanjahu.
Ohnehin zeigt die israelische Geschichte, daß große Koalitionen durchaus keine Rettung aus der Krise gebracht, sondern häufig die Unnachgiebigkeit der Rechten verstärkt haben. Und so sieht die Mehrheit der Labour-Abgeordneten nicht ein, weshalb sie eine Regierung retten sollte, die von General Ehud Barak, dem aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Vorsitzenden ihrer Partei, als eine „Regierung des Scheiterns, der Schande und der Anrüchigkeit“ bezeichnet worden ist12 . In der Arbeitspartei setzt sich lediglich Schimon Peres für eine Koalition der nationalen Einheit ein – er möchte am Ende seiner politischen Laufbahn noch als „Retter des Friedens“ auftreten. Dabei übersieht er, daß er diese Rolle nicht spielen kann, solange Netanjahu nicht von seinen gegenwärtigen Positionen abrückt.
Es ist ein offenes Geheimnis, daß allein die Vereinigten Staaten in der Lage wären, den israelischen Ministerpräsidenten entweder wieder auf Oslo-Kurs zu bringen oder für seinen Sturz zu sorgen. George Bush hatte 1992 erheblichen Anteil an der Wahlniederlage von Jitzhak Schamir. Der jetzige amerikanische Präsident erscheint dagegen sehr unentschlossen: Clinton vertritt eine deutlich proisraelische Position, und in seinem Beraterkreis finden sich zahlreiche Gönner des jüdischen Staates. Außerdem muß er auf die republikanischen Kongreßabgeordneten Rücksicht nehmen, die Clinton in ihrer proisraelischen Haltung noch übertreffen. Zwar spielen für ihn wahltaktische Überlegungen keine Rolle mehr, doch bemüht er sich, seinem Vizepräsidenten Al Gore nicht zu schaden, der im Jahr 2000 als Präsidentschaftskandidat antreten will und sich bereits jetzt um die Finanzierung seiner Wahlkampagne kümmern muß. Können die Interessen der Vereinigten Staaten im Nahen Osten solchen Rücksichtnahmen geopfert werden? Von bestimmten Seiten wird Clinton deshalb heftig kritisiert.
So hat der ehemalige Außenminister James Baker erklärt, er sei „enttäuscht, daß die Regierung sich bereit fand, von ihrem Vetorecht gegen Resolutionen des Sicherheitsrats Gebrauch zu machen, obwohl sie zuvor erklärt hat, daß sie die Aktivitäten [der Siedlungspolitik] nicht billigt“. Und weiter: „Die Bombenanschläge sind nicht zu rechtfertigen, aber die Planierraupen ebensowenig.“13 Und die New York Times kommt zu dem Schluß: „Wenn der Friedensprozeß abgewürgt wird, muß auf der Sterbeurkunde auch der Name Bill Clinton verzeichnet sein.“14 Und erstmals zeigen die Meinungsumfragen, daß auch die amerikanische Öffentlichkeit die Verantwortung für die Krise nicht mehr einseitig sieht: 31 Prozent der Amerikaner geben den Palästinensern die Schuld, 28 Prozent den Israelis, während 22 Prozent glauben, daß beide Parteien gleichermaßen beteiligt sind. Für Washington wird es Zeit zu handeln.
Das Problem mit den Verträgen von Oslo besteht seit langem darin, daß nur eine Großmacht ihnen zur Durchsetzung verhelfen kann – die Vereinigten Staaten, denn Rußland spielt keine Rolle mehr. Die USA sind aber leider sowohl Richter als auch Partei... Wenn sich die Haltung der Vereinigten Staaten nicht deutlich ändert, ist Europa aufgerufen, Stellung zu nehmen: Jetzt braucht der Nahe Osten die Erfahrung und die Klugheit der Alten Welt.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist, Jerusalem. Von ihm erschien zuletzt “Rabin, un assassinat politique“, Paris (Le Monde Editions) 1996.