16.05.1997

Die sieben Todsünden des liberalen Modells

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Die sieben Todsünden des liberalen Modells

Globalisierung bedeutet, daß überall auf der Welt dieselben Probleme und Schwierigkeiten zutage treten. Ob die Frauen wieder an den Herd zurückgeschickt werden oder der Staat immer mehr wie ein Privatunternehmen funktionieren soll, ob feste Arbeitsplätze durch ungesicherte ersetzt werden oder die Kultur zum Strandgut verkommt – die Vorgaben sind immer die gleichen.

Markt statt Staat

NACHDEM die öffentlichen Betriebe in den meisten westlichen Ländern bereits auf ein Minimum beschnitten worden sind, ist nun der öffentliche Dienst in die Schußlinie der unternehmerfreundlichen „Entscheidungsträger“ geraten. Die Idee ist zwar nicht ganz neu. Schon immer haben die Konservativen, wenn auch heimlich, die Interessen der Privilegierten unterstützt, wobei sie allerdings Argumente anführten, die wahltaktisch geeigneter waren, wie etwa der Ruf nach Steuersenkungen und poujadistische Angriffe auf das Beamtentum. Der extremen Rechten, die vorgeblich bekämpft wurde, war das eine Argument stets so lieb wie das andere.

In Frankreich will man mit Hilfe eines neoliberalen Diätplans das „überschüssige Fett“ abbauen und verspricht, die 60000 Beamten, die alljährlich in den Ruhestand gehen, nicht mehr oder nur teilweise zu ersetzen. So würde jedes Jahr automatisch der Umfang der staatlichen Aufgaben geschmälert und eine Ausdehnung des privaten Sektors garantiert.

Bei diesen Maßnahmen hat ein Land die Vorreiterrolle übernommen: Neuseeland.1 Die „Reformen“ im öffentlichen Dienst, die die Labour-Regierung von David Lange 1988 einleitete, haben dazu geführt, daß die öffentliche Verwaltung zerschlagen und der schwindenden Zahl von Beamten die Gesetze der Marktwirtschaft aufgezwungen wurden. Unter Berufung auf die ultraliberale Public-choice-Theorie von James Buchanan soll der Staat mit Hilfe dieses Verfahrens zu einem wirtschaftlichen Akteur wie jeder andere werden und denselben Verpflichtungen zur „Effizienz“ und Rentabilitätsvorschriften unterliegen. Die Folgen dieser „Reformen“ werden am deutlichsten bei der Einstellung hoher Beamter sichtbar. Deren Status wurde ersetzt durch leistungsabhängige, zeitlich befristete Verträge. Arbeitsplatzgarantie, Einstellungsmonopol und Gleichbehandlung der Beamten gehören der Vergangenheit an.

In jedem Ministerium sucht sich ein auf fünf Jahre ernannter Generaldirektor („chief executive“) das ihm unterstellte Personal nach seinen eigenen Vorstellungen aus; sie kommen auch aus der Privatwirtschaft und aus dem Ausland (vor allem den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien). Er kann entlassen, befördern oder herabstufen, soviel – oder sowenig – bezahlen, wie er will, entsprechend dem Lohnniveau der Konkurrenz. Dahinter steckt die Vorstellung, die jedem Studenten einer Business School eingetrichtert wird, daß ein wirklich „eigenverantwortlicher“ Chef, auch wenn er Generaldirektor einer Verwaltung ist, völlige Handlungsfreiheit besitzen muß – und auch das Risiko eingeht, entlassen zu werden.

Ihren Höhepunkt hat diese Kommerzialisierung des öffentlichen Dienstes in der Buchhaltung erreicht. Künftig werden Entscheidung und Durchführung voneinander getrennt. Der Minister (der „Kunde“) erreicht seine politischen Ziele, indem er mit dem Haushalt, den das Parlament ihm zugesteht, beim Generaldirektor seines Ministeriums (dem „Dienstleistenden“) „Produktionen“ einkauft (Wirtschaftsprognosen, steuer- oder bildungspolitische Beratung, diplomatische Studien etc.). So muß beispielsweise der neuseeländische Botschafter in Paris, wohl um die staatliche „Produktion“ in Form eines Unternehmensplans und einer buchhalterischen Bilanz schätzen zu lernen, seine Zeit auf vier wie folgt festgelegte Bereiche aufteilen: Beziehungen zu Frankreich (57 Prozent), Vertretung bei der OECD (40 Prozent), bei anderen multilateralen Organisationen mit Sitz in Paris (1 Prozent), Beziehungen zu Algerien (2 Prozent).

Eine solche mit fast manischer Akribie betriebene Definition und Einstufung jeder staatlichen Dienstleistung ermöglicht zugleich, auf eine boomende Branche von Beratern oder Management-Spezialisten zurückzugreifen und dabei auf zahlreiche Aufgaben des öffentlichen Dienstes ganz zu verzichten oder sie auf private Subunternehmer zu übertragen. Logische Folge dieses Vorgehens ist die Aufsplitterung einer öffentlichen Verwaltung, der keine spezifischen Aufgaben mehr zukommen. Unterdessen ist die Zahl der Beamten von 71000 im Jahre 1988 auf 32900 im letzten Jahr gesunken. Einem Experten zufolge „haben sie weniger Mittel und mehr Arbeit; ihre Verantwortlichkeit ist gestiegen und die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes gesunken“. Ein derart ausgedünnter und vom Privatsektor niedergewalzter, gleichsam in eine Aktiengesellschaft umgewandelter Staat wird sich der Herrschaft der Marktgesetze niemals mehr widersetzen.

S.H.

dt. Erika Mursa

Frauendiskriminierung

DER Export des westdeutschen Gesellschaftsmodells nach Ostdeutschland hat dort nicht alle erfreut. Vor allem für die Frauen bedeutete er einen regelrechten Rückschritt.

Im Jahre 1990 lag die Beschäftigungsquote der Frauen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik mit 91 Prozent weltweit an erster Stelle. Dies hatte seine Gründe: 57 Prozent der Kinder unter drei Jahren wurden in Krippen und 81 Prozent der Drei- bis Vierjährigen in Kindergärten betreut. Dagegen bildete die Bundesrepublik Deutschland mit einer weiblichen Beschäftigungsquote von 55 Prozent praktisch das Schlußlicht in Europa. Nur 3,7 Prozent der Kinder unter drei Jahren und 33 Prozent der Drei- bis Vierjährigen hatten einen Platz in öffentlichen Einrichtungen.

Die ostdeutschen Frauen, die es bis dahin gewohnt waren, Beruf und Familie miteinander zu verbinden, sehen sich heute vor eine schmerzliche Wahl gestellt. „Als ich meine beiden Kinder bekam, die heute acht und zehn Jahre alt sind, war es für mich selbstverständlich, nach dem Mutterschutz wieder in Vollzeit arbeiten zu gehen“, berichtet Erika Lamm. „Damals waren die Krippen fast umsonst. Inzwischen sind viele geschlossen, und die verbliebenen sind sehr teuer geworden.“

Unter dem Vorwand, die Kindererziehung gehöre in den Verantwortungsbereich der Familie, wurden die Strukturen für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen (Krippen, Kindergärten, Hausaufgabenbetreuung, Jugendgruppen, Ferienfreizeiten) nach und nach abgebaut. Die Krippen, die vor kurzem noch fast gratis waren, kosten heute bis zu 500 Mark im Monat, und da zahlreiche ganz geschlossen wurden, ist vor allem in Kleinstädten und auf dem Land eine hohe Mobilität gefordert.

Die Folge davon ist unübersehbar: In den neuen Ländern ist die Geburtenrate seither um mehr als 60 Prozent gesunken und hat damit den niedrigsten Stand der Welt erreicht. Dieser „Geburtenstreik“ hat solche Ausmaße angenommen, daß Krippenplätze frei bleiben, obwohl die Aufnahmekapazitäten um mehr als die Hälfte verringert wurden1 . Da Kommunen und Bundesländer in ernstzunehmenden finanziellen Schwierigkeiten stecken, werden sie nicht lange fackeln und die Subventionen weiter kürzen. Damit aber sind alle Voraussetzungen geschaffen, um die Situation der ostdeutschen Frauen an die ihrer „Schwestern“ im Westen anzugleichen, wo die Geburt eines Kindes häufig mit einem längeren Ausscheiden aus dem Berufsleben einhergeht.

„Die Frauen im Westen sind es nicht gewohnt, arbeiten zu gehen“, meint die neunundzwanzigjährige Angelika Rinnert. „Wir im Osten sind aber nicht der Typ, der gerne den ganzen Tag zu Hause hockt. Wir sind es gewohnt, zu arbeiten und unabhängig zu sein. Die Arbeitslosigkeit und die Schließung der Krippen hat aber viele von uns zum Hausfrauendasein gezwungen.“

Der Wunsch nach Berufstätigkeit kollidiert auch mit der harten Realität des Arbeitsmarktes. Unter den ostdeutschen Frauen im Alter zwischen fünfzehn und sechzig Jahren ist die frühere Rekordberufstätigkeitsquote von 91 Prozent bereits auf 70 Prozent gesunken. Das westdeutsche Niveau von 55 Prozent dürfte schon bald erreicht werden, wenn man berücksichtigt, daß 20 Prozent der Frauen in den neuen Ländern eine Arbeit suchen. „Die CDU will, daß die Frauen den Männern das Feld überlassen und wieder brav an den Herd zurückkehren“, erklärt Angelika Rinnert. Im übrigen ist die gesamte herrschende Politik frauenfeindlich: Die Abtreibung ist zum Spießrutenlauf geworden, die Krippen verschwinden oder sind zu teuer, und arbeitenden Müttern versucht man ein schlechtes Gewissen einzureden.“

„Kinder, Küche, Kirche“ – viele westdeutsche Frauen haben diese traditionellen „drei K“ verinnerlicht und verzichten nach der Geburt eines Kindes ganz auf die Arbeit oder nehmen höchstens eine Teilzeitbeschäftigung auf. Doch die überwiegende Mehrheit der ostdeutschen Frauen, die auf andere Erfahrungen zurückblicken kann, lehnt dies ab. So unterstreicht Daniela Munkner: „Früher gab es immer kostenlose Freizeitangebote für die Kinder. Auch als ich arbeitslos war, konnte ich meine Kinder immer zu solchen gemeinsamen Gruppenaktivitäten schicken. Heute muß man für alles bezahlen, und auch ich muß auf vieles verzichten. Dabei brauchen doch die Kinder die Gemeinschaft und die Betreuung. Sie nur vor den Fernseher zu setzen oder auf der Straße herumlungern zu lassen, wäre doch schade. (...) Deutschland ist immerhin ein reiches Land. Es werden Milliarden bereitgestellt, um Ministerien in Berlin zu bauen, aber wenn es um die Kinder, um unsere Zukunft geht, dann heißt es, die Kassen sind leer.“

Jay Rowell,

Sozialwissenschaftler, Leipzig

dt. Erika Mursa

Getrenntes Lernen

DIE Schüler der vierten Klasse der größten Vormacht auf der Welt stehen in Mathematik auf Platz 28 der Weltliste und in Naturwissenschaften auf Platz 17. Dabei spricht William Clinton unaufhörlich von dem hervorragenden Bildungsniveau, und in der Tat zählen einige Universitäten in den Vereinigten Staaten zu den besten der Welt.

Dieses Paradox läßt sich leicht erklären. Man spricht von gleichen Rechten, vergißt jedoch die faktische Ungleichheit. Und die ideologischen Grundfesten Amerikas (Individualismus, Privateigentum, Marktorientiertheit und Wettbewerb) wirken sich auf den gesamten Bereich der Ausbildung, insbesondere aber auf die Hochschulen, verheerend aus.

Zum einen gibt es weder einen nationalen Lehrplan noch ein einheitliches System für Prüfungen, Examen oder Titel; es gibt keine staatliche Finanzierung der öffentlichen Schulen und keine einheitlichen Lehrergehälter. Zwar steckt das Land einen bedeutenden Teil des Bruttosozialprodukts in das Bildungswesen (7,6 Prozent im Vergleich zu 3,9 Prozent in Frankreich), doch der Staat trägt nur ungefähr 6 Prozent der Gesamtausgaben der Schulen und Gymnasien. Den Rest stellen die Bundesstaaten (52 Prozent) und die Bezirke (41 Prozent). Jedem Bundesstaat und jeder Gemeinde steht es frei, Lehrpläne nach ihrem eigenen Geschmack zu gestalten und Diplome nach ihren eigenen Kriterien auszustellen. Die Schulen werden zum größten Teil aus der Grundsteuer finanziert, und entsprechend haben die reichen Bezirke oft gute, die Ghettos hingegen schlechte Schulen. Der Wettbewerb, der den Amerikanern so sehr am Herzen liegt, zeitigt sonderbare Ergebnisse: Ausgaben werden da gutgeheißen, wo die bestmögliche Erziehung gewährleistet ist, doch verweigert, wo es um die Überprüfung von Wissensstand und -inhalt geht.

Die Kosten, die ein solches System verursacht, sind ebenso exorbitant wie ungleich verteilt. Die großen Privatuniversitäten erheben Gebühren von mehr als 25000 Dollar jährlich, öffentliche Universitäten kosten nicht selten zwischen 6000 und 12000 Dollar pro Jahr. Natürlich gibt es Stipendien. Doch der Eifer der Zentralregierung bei der Finanzierung von Stipendien ist abgekühlt, und statt dessen werden nun die Studenten zunehmend an ihre Banken verwiesen...

In den sechziger Jahren waren die öffentlichen Universitäten gebührenfrei, wie heute noch die öffentlichen Gymnasien. Die Aufnahmebedingungen waren streng und die Ergebnisse hervorragend. Die Abschaffung der leistungsabhängigen Zulassung – jeder Schüler mit einem Abschlußzeugnis einer Oberschule kann sich nun einschreiben, wobei dessen Wert von der geographischen Lage der Schule abhängt –, der Anstieg der Immatrikulationsgebühren an den öffentlichen Universitäten und der Anspruch der privaten Universitäten, ebenfalls Zugang zu Mitteln des Bundes zu haben (in Gestalt staatlicher Darlehen für bedürftige Studenten), haben zu der aktuellen Situation der Ungleichheit geführt.

Auch an den Oberschulen herrscht eklatante Ungleichheit. In Mississippi, einem armen, ländlichen Bundesstaat, kostet die Ausbildung eines Schülers jährlich 4000 Dollar, Schulen in der South Bronx in New York stehen 7000 Dollar pro Schüler zur Verfügung, doch die Schulen der wohlhabenden Vororte können 18000 Dollar pro Jahr und Schüler ausgeben. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß ein Viertel der Schüler – in der Regel sind es die aus Mississippi und nicht die aus den wohlhabenden Vororten – und fast 50 Prozent der Schwarzen bei Abschluß der Schule praktisch Analphabeten sind (functionally illiterate). Im ersten Studienjahr bietet die öffentliche Universität von Washington übrigens achtzehn Kurse an, in denen die Studenten Lesen lernen können.

Françoise Burgess,

Dozentin an der Universität Paris-VIII

dt. Esther Kinsky

Kultur als Strandgut

WIE eine Flüssigkeit dringt der Markt in jeden Hohl- und Zwischenraum des menschlichen Lebens ein und überschwemmt ihn, entschlossen, alles seinen Gesetzen zu unterwerfen. Kein Damm scheint ihm zu widerstehen. Nach und nach hat er auch das überflutet, was man im Trockenen wähnte, insbesondere Sport und Religion. Und die Kultur. Letztere ist nun vollends dem Zugriff der Kommunikation ausgesetzt, die allein den Regeln des Marktes folgt. Marktstudien und Umfragen zu Geschmack und Erwartungen der Konsumenten bestimmen zunächst „Profil“ und „Aufmachung“, die ein Autor zu respektieren hat. Im zweiten Schritt versuchen Anzeigenkampagnen und aggressive Werbung – mit Unterstützung der Massenmedien, die zuweilen der gleichen Unternehmensgruppe angehören –, so viele Käufer wie möglich zu gewinnen.

Die derzeitige Dynamik der Globalisierung der Wirtschaft begünstigt die Ausbreitung einer „World Culture“ auf universaler Ebene, manche träumen sogar schon von einer künftigen „Einheitszivilisation“.

Im Bereich von Musik, Fernsehen und Kino insbesondere entstehen heute Werke, die auf der ganzen Welt verbreitet werden sollen. Im zahlungskräftigen Teil der Welt selbstredend, die „verwestlicht“ genug ist, um widerspruchslos hinzunehmen, daß die Vereinigten Staaten der Inbegriff des Modernen sind.

Um die Kultur weltweit zu beherrschen, bringt die Freizeitindustrie titanische Summen auf. In die Produktion des Films „Titanic“, der im kommenden Juli in die Kinos kommt, haben 20th Century Fox (im Besitz von Rupert Murdoch) und Paramount 180 Millionen Dollar gesteckt (ca. 270 Millionen Mark), also das Dreifache einer durchschnittlichen Hollywood- Superproduktion (und das Fünfunddreißigfache einer durchschnittlichen französischen Produktion).

Um supersensationelle Effekte zu erzielen, war ein Studio mit den modernsten Technologien der Welt erforderlich, das Fox in Rosarito Beach in Mexiko, 40 Kilometer von der amerikanischen Grenze entfernt, bauen ließ (weil es da 30 Prozent billiger war als in Kalifornien). Regisseur James Cameron („Terminator“, „Abyss“, „True Lies“) verlangte den Nachbau des Schiffes in 90 Prozent der Originalgröße, also in 260 Meter Länge. Das Schiff, dessen Vorbild in der Nacht des 14. April 1912 tragisch untergegangen ist, wurde dann in ein gewaltiges Wasserbecken mit über 50 Millionen Liter Wasser gesetzt.1

Im Herbst dieses Jahres kommt der Film auf allen fünf Kontinenten auf die Leinwand, begleitet von einer massiven Werbekampagne, deren Kosten 60 Millionen Dollar übersteigen. Keine größere Stadt der Welt wird davon verschont bleiben. Darauf folgt der Vertrieb über Pay-TV, Videokassetten und gewöhnliche Fernsehanstalten.

Zum 85. Jahrestag der Tragödie wird darüber hinaus eine Flut von Veröffentlichungen und Veranstaltungen den Erfolg des Filmes fördern: Artikel und Reportagen in Zeitungen, Bücher und Dokumentarfilme, Augenzeugenberichte, Versteigerung von Wracküberresten... Und am Broadway steht ein grandioses „Titanic“-Musical unter der Regie des angesehenen Wagnerianers Richard Jones mit Dutzenden Sängern auf dem Programm. Mit einem atemberaubenden Budget von 12 Millionen Dollar kostet allein diese Show mehr als damals der ganze Ozeanriese.

Alle Welt wird also ein Drama sehen – und besingen – das damals, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, fraglos das Ende einer Ära von Luxus, Macht und Arroganz bedeutete. Vielleicht wird die Titanic von Fox und Broadway auf ihre Weise zu diesem Jahrtausendende vom Schiffbruch der Kultur künden.

I.R.

dt. Esther Kinsky

Arbeitslosigkeit

ALS Margaret Thatcher 1979 ihren ersten Wahlsieg davontrug, hatte Großbritannien offiziell 1,3 Millionen Arbeitslose. Wenn die Berechnungsmethoden sich nicht geändert hätten, müßten es derzeit 3 Millionen sein. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Midland Bank schätzt ihre Zahl sogar auf 4 Millionen, also 14 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Das ist mehr als in Frankreich oder in Deutschland. Doch wenn man den offiziellen Statistiken glaubt, liegt die „wahre“ Zahl bei 1,7 Millionen, also nur 6,1 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung.

Doch diese Ergebnisse lassen sich nicht mit denen anderer Länder vergleichen, denn die britische Regierung erfaßt nicht mehr alle diejenigen, die ohne Beschäftigung sind, sondern nur noch die Empfänger einer immer enger gefaßten Arbeitslosenunterstützung. Nachdem die Verfahren für Arbeitslose 32mal geändert worden waren, hat die Regierung beschlossen, Hunderttausende aus ihrer Statistik zu tilgen – dies mit Hilfe einer neuen Regelung, wonach erst nach zwölf Monaten Arbeit ein Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung besteht statt nach sechs wie zuvor.

Das unabhängige Zentrum für Arbeitslosigkeit (Independent Unemployment Unit) schätzt, daß fast die Hälfte der 360000 Arbeitsuchenden, die in den letzten sechs Monaten registriert worden sind, davon betroffen sein könnten. Den Zahlen der Regierung zufolge hat man in den Statistiken bereits 80000 von ihnen „vergessen“.

Zwar ist die tatsächliche Arbeitslosigkeit seit dem Aufschwung von 1992 zurückgegangen. Unmittelbar vor der Wiederwahl von John Major im Frühjahr 1992 hatten 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung eine Beschäftigung. Derzeit sind es 73 Prozent. Aber die offiziellen Zahlen sagen nur wenig aus über das, was sich tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt tut. Die Zahl der Beschäftigten ist zwar gestiegen, doch liegt das im wesentlichen an der Zunahme von Teilzeitbeschäftigungen und schlechtbezahlten Gelegenheitsarbeiten. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und Schwarzen (mit 18,5 Prozent zweieinhalbmal so hoch wie bei den Weißen) nimmt unaufhörlich zu. Der Anteil der Frauen an der arbeitenden Bevölkerung liegt höher als auf dem Kontinent, aber 25 Prozent der Männer sind „ökonomisch inaktiv“. Fast zwei Millionen Personen, von denen die Hälfte früher zu den Arbeitslosen gezählt wurde, beziehen ihre Leistungen aus Krankenversicherungen (für chronische Krankheiten), eine Anzahl, die viel höher liegt als in Frankreich oder Deutschland.

Die Mehrzahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze sind Teilzeitstellen und damit für viele nicht die Arbeit ihrer Wahl. Dem Arbeitsamt zufolge waren 43 Prozent der Arbeitsplätze, die zwischen Winter 1992/93 und Herbst 1996 geschaffen wurden, Teilzeitstellen. Fast ein Viertel der 28 Millionen Arbeitnehmer ist auf diese Weise beschäftigt. In Frankreich und Deutschland beträgt dieses Verhältnis eins zu sechs. Während nur 10 Prozent der Frauen in Halbzeitbeschäftigungen lieber eine Vollzeitbeschäftigung hätten, liegt der Prozentsatz bei Männern bei 25 Prozent. Das ist nur ein Aspekt der Kluft, der Männer und Frauen in der Arbeitswelt trennt. Ein Bericht des Instituts für Beschäftigungspolitik (Employment Policy Institute) betont, daß Frauen 90 Prozent des Zuwachses der arbeitenden Bevölkerung ausmachen, während die Männer wiederum zum Zuwachs der inaktiven Arbeitnehmer beitragen.

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen bezüglich der Männer fielen von 11,6 Prozent im Frühling 1992 auf 9,1 Prozent im Herbst 1996, doch ein Drittel dieser Differenz ist darauf zurückzuführen, daß Männer den Arbeitsmarkt verlassen haben. Die Beschäftigungszahlen bei den Frauen haben zwar wieder den Stand erreicht, den sie vor der Rezession der neunziger Jahre hatten, doch die Männer haben noch einen langen Weg vor sich. Von 82,4 Prozent im Jahre 1990 war der Prozentsatz der Beschäftigten im Herbst 1996 auf 77,5 Prozent gesunken.

Die offiziellen Zahlen verschleiern auch die tatsächliche Situation der Jugendlichen. Die Zahl der Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren, die in einer Ober- oder Hochschulausbildung sind, hat sich verdoppelt, und die Arbeitslosenzahlen der Jugendlichen sind infolgedessen in den neunziger Jahren zurückgegangen. Doch weist das Institut für Arbeitspolitik darauf hin, daß die übliche Art der Arbeitslosenstatistik die Beschäftigungslosigkeit der Jugendlichen, die sich in keinerlei Ausbildung befinden, nicht mit einbeziehen. Männer unter 25 Jahren, die sich nicht in der Ausbildung befinden, haben zehnmal so hohe Aussichten auf Beschäftigungslosigkeit wie Mitte der siebziger Jahre.

Seumas Milne,

Journalist beim „Guardian“, London

dt. Esther Kinsky

Geraubte Kindheiten

ANGEBLICH ist sie positiv, die Bilanz des politischen Wandels in Mittel- und Osteuropa. Nicht aber für die Kinder, wenn man einem Bericht der Unicef Glauben schenkt, der im vergangenen April herausgekommen ist. Mit dem Ende des Kommunismus, heißt es, „hatte man darauf gehofft, daß die Bedürfnisse der Kinder in kurzer Zeit erfüllt sein würden. Diese Hoffnung ist weitgehend enttäuscht worden.“1 Hier einige Zahlen, die das belegen.

Entwurzelung: Die Konflikte im Kaukasus und in Zentralasien haben mehr als 600000 Kinder aus ihrem Zuhause vertrieben, im ehemaligen Jugoslawien sind es 4 Millionen Kinder, in beiden Fällen mit schwerwiegenden psychischen und physischen Folgeschäden.

Not: In Mittelosteuropa hat sich die Zahl der Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben, in den neunziger Jahren verdoppelt; es sind jetzt zweieinhalb Millionen. In Rumänien und Bulgarien betrifft es sogar jedes zweite Kind, in den baltischen Ländern mehr als eine Million, in Rußland über 75 Prozent.

Unterernährung: Sie greift überall um sich, an manchen Orten ist sie sogar die Regel. In Polen leiden 60 Prozent der Kinder an unterschiedlichen Formen der Unterernährung, 10 Prozent davon permanent. In Familien mit geringem Einkommen geht der Fleisch-, Gemüse- und Milchkonsum häufig zurück.

Auflösung der Familienstrukturen: In immer mehr Familien gibt es nur noch einen Elternteil. Aufgrund zunehmender gesundheitlicher Belastungen und des Rückgangs der Lebenserwartung (in 15 der 18 betroffenen Länder) haben zwischen 1990 und 1995 in der gesamten Region 700000 Kinder einen Elternteil durch vorzeitigen Tod verloren. Hinzu kommen 150000 Scheidungen von Ehen mit Kindern; in Estland liegt die Zahl der Scheidungen höher als die der Eheschließungen. In Rußland haben nur 4 Prozent der Väter nach einer Trennung regelmäßigen Kontakt mit ihren Kindern. Angesichts dieser Daten ist es nicht verwunderlich, daß die Anzahl der Kinder, die in der gesamten Region dem Staat überantwortet wurden, die Millionengrenze überschritten hat. Bei Säuglingen ist die Zahl in Rumänien, Rußland und Litauen um 35 bis 45 Prozent angestiegen, in Estland sogar um 75 Prozent. Dabei befinden sich die Waisenhäuser und andere Heimeinrichtungen durch den Mangel an finanziellen Mitteln und an Personal häufig in einem ruinösen Zustand.

Rückgang der Schulbildung: Vom Kindergarten bis zum Gymnasium ist der Prozentsatz der eingeschulten Kinder – mit Ausnahme von Ungarn und Slowenien – überall zurückgegangen. 5 Prozent der russischen Kinder besuchen keine Grundschule. In Rumänien ist der Besuch der Oberschulen zwischen 1989 und 1995 um 14 Prozent zurückgegangen.

Kriminalität: Die Anzahl der Jugendlichen, die in Konflikt mit dem Gesetz geraten, hat sich verdoppelt, wobei besonders der Anstieg der Tötungsdelikte in Osteuropa auffällt. Die Straftaten, die unter Einfluß von Alkohol begangen werden, sind zwischen 1989 und 1995 um 121 Prozent in die Höhe geschnellt. In Rußland wurden 1994 dreimal so viele Personen wegen Anstiftung Jugendlicher zu kriminellen Handlungen belangt wie 1989. Sozialarbeitern zufolge sind 50 Prozent der Prostituierten an der deutsch-polnischen Grenze unter 18 Jahren.

Sterblichkeitsrate: Der Anstieg der Sterblichkeitsrate von Kindern und Jugendlichen in der gesamten Region erklärt sich durch die Verdoppelung bis Verdreifachung der Selbstmordrate in der Altersgruppe der 15- bis 19jährigen in den letzten sechs Jahren sowie durch die Verbreitung harter Drogen. 1994 waren in Slowenien 15 Prozent der Konsumenten intravenöser Drogen jünger als 14. 72 Prozent gehörten zu der Altersgruppe der 15- bis 19jährigen. Nicht zu vergessen ist auch das Wiederauftauchen von Krankheiten wie Tuberkulose und Diphterie in der ehemaligen Sowjetunion. Immer mehr Kinder leiden an Behinderungen – in Rußland sind es mehr als eine Million.

Der Mitautor des Unicef-Berichts, Gaspar Fajth, kommt zum Schluß: „In vielfacher Hinsicht ist die Situation der Kinder schlimmer als zur Zeit des Kommunismus. Das ist ein Skandal.“

D.V.

dt. Esther Kinsky

Unsicherheit

ROBERT Reich, der vom Januar 1993 bis Januar 1997 Arbeitsminister der USA war, zeigt sich vom Modell seines Landes deutlich weniger begeistert als die meisten Entscheidungsträger in Europa.

So warnte er kürzlich all jene Briten, die wie Anthony Blair davon träumen, Präsident Clinton nachzueifern1 : „Die Statistiken über den amerikanischen Arbeitsmarkt machen einen guten Eindruck, und die Konjunktur läuft. Aber wem nützt das? Wenn die Hälfte der Beschäftigten einen dürftigen Lohn erhält und weder im öffentlichen noch im privaten Sektor investiert wird, laufen wir Gefahr, in den nächsten fünf Jahren in einen Konservatismus abzugleiten, der sich für die Zukunft als äußerst gefährlich erweisen könnte. Die Ungleichheiten verschärfen sich, überall herrscht Unsicherheit, und unsere Ersparnisse werden in der ganzen Welt angelegt, nur nicht zu Hause. Die großen Bosse haben ihre Einkünfte im letzten Jahr um 50 Prozent gesteigert und leben unter dem Schutz von Wachpersonal in abgeschotteten Gemeinden – es ist eine zersplitterte Gesellschaft...“

„Alle Stufen des wirtschaftlichen Aufstiegs sind weiter voneinander entfernt als noch vor einer Generation, und der Abstand erweitert sich unaufhörlich. Bezüglich Einkommen, Wohlstand und der Chancengleichheit hat sich die Kluft bereits vor mehr als fünfzehn Jahren zu vertiefen begonnen. Zwischen 1979 und 1995 ist das reale Einkommen des reichsten Fünftels der Amerikaner um 26 Prozent gestiegen, während das ärmste Fünftel Einbußen von 9 Prozent erlitt. Im Vergleich dazu hatte sich noch zwischen 1950 und 1978 das Einkommen beider Gruppen etwa verdoppelt...

„Der Arbeitgeberanteil an der Krankenkasse wird für Bezieher niedriger Einkommen immer geringer, so daß sie entweder eine höhere Eigenbeteiligung leisten oder ganz auf den Versicherungsschutz verzichten müssen. Nur noch 35 Prozent der Arbeitslosen beziehen Arbeitslosengeld. Fast jeder Dollar für den Primar- und Sekundarschulbereich stammt aus Wohnraum- und Immobiliensteuern, und die soziale Spaltung führt dazu, daß sich die Amerikaner in getrennten Städten und Wohnvierteln niederlassen. Dies hat zur Folge, daß sich die ärmeren Städte mit ihren geringeren Steuereinnahmen nicht dasselbe Bildungsniveau leisten können wie die reicheren Gemeinden. Die Jugendlichen, deren Eltern zu den wohlhabendsten 25 Prozent gehören, haben dreimal so große Chancen, an eine Universität zu gelangen, wie jene, deren Eltern zum ärmsten Viertel zählen. Und auch hier öffnet sich die Schere immer weiter...“

In einem Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten und Europa fügt Robert Reich hinzu: „Staaten definieren sich durch einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag. All dies auf dem Altar der Zentralbanken zu opfern käme einem schwerwiegenden Scheitern gleich. Mit seiner strengen Sparpolitik läuft Europa Gefahr, daß die bereits von struktureller Arbeitslosigkeit geprägte Situation sich in eine noch tiefere Krise wandelt. Genau das Gegenteil wäre geboten. Wenn sich Europa tatsächlich eine Sparkur verschreibt und die Vereinigten Staaten anschließend aus Furcht vor der Inflation nachziehen, so würde es mich nicht wundern, wenn wir in eine echte Depression schlitterten. (...) Sollte Blair sich tatsächlich an Bill Clinton und dem amerikanischen Modell ausrichten wollen, so müßte er große Vorsicht walten lassen. Zugeständnisse an die politische Mitte mögen sich wahlarithmetisch kurzfristig auszahlen, sind aber auf lange Sicht unverantwortlich, denn sie untergraben die Regierungsfähigkeit.“

Abschließend erklärt der ehemalige amerikanische Minister: „Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren die Einschätzungen einer einzigen Straße – der Wall Street – so einflußreich. Früher sorgten sich die Menschen um die Stimmungen der Götter, der Berge, der Meere und Wälder. Heute trachten wir danach, eine Straße friedlich zu stimmen.“

dt. Erika Mursa

Fußnote: 1 Siehe „Neuseeland: Der leuchtende Pfad der Wettbewerbsgesellschaft“, Le Monde diplomatique, April 1997. Vgl. auch Jane Kelsey, „The New Zealand Experiment“, Auckland University Press, 1995 (Auckland), und Brian Easton, „The Commercialization of New Zealand“, Auckland University Press, 1997.

Fußnote: 1 Bezeichnenderweise veröffentlicht das Statistische Bundesamt seit 1993 keine Vergleichsdaten zur Anzahl der Krippenplätze in den alten und neuen Bundesländern mehr.

Fußnote: 1 La Repubblica, 6. April 1997

Fußnote: 1 „Children at risk in Central and Eastern Europe“, Unicef, Florenz 1997.

Fußnote: 1 Robert Reich, „The menace to prosperity“, Financial Times, 3. 3. 1997, sowie „A warning to Blair: It's foolish to drift to the right“, The Guardian, 22. 4. 1997. Siehe auch das Dossier „Und ewig währt das amerikanische Wunder“, Le Monde diplomatique, Januar 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von S.H.Jay Rowell,Françoise Burgess,I.R.Seumas Milne,D.V.