Moderne Stammesverbände
DAS Internet, als ein Netzwerk, das keine Medienexperten braucht, um die direkte Kommunikation zwischen Individuen zu ermöglichen, scheint den idealen Raum für die Entfaltung aller — auch der wunderlichsten — Bedürfnisse nach Öffentlichkeit zu bieten. Aber genau da liegt das Problem. Was unterscheidet die elektronischen fanzines (e-zines) von den zehn, zwanzig, hundert höchst spezialisierten „Webseiten“ oder „Sites“, in denen es etwa um die genetischen Manipulationen geht, die von der amerikanischen Regierung an den Leichen von Außerirdischen vorgenommen werden, oder um Guy Debord beziehungsweise um Kochrezepte aus Dänemark? Die naheliegende Antwort lautet: Sie sind von den Herausgebern von fanzines gestaltet worden, die mit anderen fanzine-Herausgebern in Kontakt stehen, und oft handelt es sich nur um die elektronische Ausgabe einer Publikation, die auch gedruckt erscheint. Das ist aber eigentlich nichts Besonderes.
Auf den ersten Blick wirken die e-zines wie neue Stammesverbände, die sich in der elektronischen Steppe angesiedelt haben und genau wie die anderen vom großen Wirbel der „cool links“ und „best sites of the month“ erfaßt worden sind. All die Seiten, die mit Hypertext Mark-up Language erstellt werden, sehen sich zum verwechseln ähnlich, und www.punk, eine Adresse, die Verbindungen zu einem ganzen Schwarm von Veröffentlichungen, Verteilern, Zeitschriften, Organisationen und sonstigen Vereinigungen bietet, erfordert die gleichen technischen Voraussetzungen und erfüllt mehr oder minder den gleichen Zweck wie www.sociology oder www.chocolate – auch diese sites finden ihre Liebhaber, die sich begeistert austauschen.
Aber das Internet führt die Idee der fanzines nicht nur konsequent zu Ende, sondern zeigt auch ihre Grenzen: Abgesehen davon, daß es schwierig, wenn nicht absurd erscheint, die Ablehnung der Massenkultur und des Warenkults ausgerechnet über den Bildschirm vermitteln zu wollen (auch wenn die graphischen Elemente auf den Webseiten noch so sehr künstlerisch verfremdet sind), taugt das Datennetz eher dazu, dem unbeteiligten Zuschauer Ablenkungen zu bieten, als die voluntaristische Moral zu stützen, die in den zines vertreten wird. Das Netz lädt zum ziellosen Schweifen ein, Inhalte sind dabei nicht so wichtig: Alles ist gleichermaßen interessant und verfügbar.
NUR durch ihren aggressiven, ironischen, lebendigen Ton gelingt es den e- zines gelegentlich, sich von der Monotonie der „offiziellen“ Websites abzuheben, und genau darin bestand auch der Reiz der fanzines – ernste und „bedeutende“ Fragen zu verhandeln, ohne schulmeisterlich zu wirken: „Wir sind stolz darauf, daß diese Site durch das Programm CyberSitter Software [„CyberBabysitter“] überwacht wird. Wir fordern alle Eltern auf, ihren Kindern keinen Zugang zu Informationen über die Freiheit der Meinungsäußerung und der Kommunikation zu gewähren, sofern es sich nicht um unternehmerische Freiheiten handelt.“ Das ist witzig und elegant – aber wie soll man es verstehen, daß Jerod Pore seit Monaten im e-zineFactsheet Five-Electric eidesstattliche Äußerungen früherer Führungsmitglieder der Scientology-Kirche und Texte zum Verständnis dieser Sekte plaziert? Vielleicht weil er diese Dokumente besonders interessant findet, weil sie sonst nicht zugänglich sind, und weil er seine Faszination anderen vermitteln möchte. Selbst im Internet treibt diese Journalisten, die nicht wie andere sein wollen, ihre persönliche Leidenschaft um: Es geht darum, zu enthüllen, zu schockieren oder sich im Underground einen Namen zu machen.