13.06.1997

Gruppenbild mit Despoten

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Gruppenbild mit Despoten

SECHS Jahre nach dem Ende des Golfkriegs scheint die arabische Welt merkwürdig erstarrt. Während sich überall die liberalen und demokratischen Formen durchgesetzt haben, bleiben im Nahen Osten und im Maghreb die autoritären Regimes an der Macht, ohne daß ernsthafte Reformen versucht würden. Dieser „arabische Sonderfall“ hat weniger mit irgendwelchen „kulturellen Eigenheiten“ zu tun als vielmehr mit der Politik des Westens, der sich den Zugang zu billigen Erdölreserven sichern will und den wachsenden Einfluß der islamistischen Opposition fürchtet.

Von GILBERT ACHCAR *

In Zeiten, da Globalisierung und Demokratisierung Hand in Hand zu gehen scheinen, da der politische Liberalismus als die natürliche Ergänzung des Wirtschaftsliberalismus gilt, stellt die arabische Welt in zweifacher Hinsicht eine Ausnahme dar: Nicht nur weil es sich um das einzige geopolitische Gebilde handelt, in dem noch verschiedene Formen absolutistischer Herrschaft zu finden sind, sondern auch weil die westlichen Mächte sich mit diesem Zustand offensichtlich abgefunden haben.

Der arabische Raum ist unter den großen geopolitischen Regionen die einzige, in der eine relative „Entstaatlichung“ der Wirtschaft, wie sie in Ägypten Anfang der siebziger Jahre von Anwar al-Sadat initiiert wurde, nicht mit der Entstaatlichung der Politik einhergeht, die einzige Region auch, in der sich der politische Wille der Zivilgesellschaft nicht von der Kontrolle durch den despotischen oder bürokratischen Staat befreien konnte. Das Spektrum der Regierungsformen in den arabischen Staaten reicht von de jure absoluten Monarchien bis zu de facto absolutistischen Republiken. Die Wahlen in den sich demokratisch gebenden Ländern sind eine Farce, und im besten Fall werden bescheidene Freiheiten von oben herab gewährt und streng überwacht.

Schlimmer noch – es zeichnet sich kein Hoffnungsschimmer ab: Die Fortschritte, die im Zuge des weltweiten Demokratisierungsschubes gegen Ende der achtziger Jahre in Algerien, Jordanien und besonders im Jemen zu verzeichnen waren, wurden von den regionalen Auswirkungen des Golfkrieges zunichte gemacht.1 Selbst der Libanon, der sich, obwohl unter syrischer Vormundschaft stehend, noch vor kurzem durch eine relativ glaubwürdige Wahlpraxis, durch parlamentarische Kultur und Meinungsfreiheit auszeichnete, wird allmählich gleichgeschaltet.2

Wie erklärt sich dieser arabische Sonderweg? Und warum wird er von ebenjenen Mächten toleriert, die doch weltweit als Lehrmeister in Sachen Demokratie auftreten? Als 1991 in Algerien die Wahlen gewaltsam ausgesetzt wurden, hat der Westen die Augen verschlossen; der Emir von Kuwait, der schließlich seinen Thron der amerikanischen Militärmacht verdankt, konnte sich weiterhin als Potentat behaupten, und die abscheuliche Diktatur eines Saddam Hussein blieb im Namen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Irak unangetastet. Die palästinensische Autonomiebehörde, deren Leitung Jassir Arafat übertragen wurde, orientiert sich keineswegs am Modell des politischen Liberalismus im Staat Israel, dessen kolonialem Diktat sie untersteht, sondern ihre politische Praxis unterscheidet sich kaum von der ihrer arabischen Nachbarn.

Lassen sich diese Umstände aus dem besonderen Charakter einer „arabischen“ oder gar „muslimischen Kultur“ erklären? Amos Perlmutter, einer der Architekten der US-amerikanischen Außenpolitik, äußerte sich in der Washington Post ohne Umschweife: „Ist der Islam, ob fundamentalistisch oder nicht, mit der an den Menschenrechten orientierten liberalen Demokratie westlichen Typs vereinbar? Die Antwort ist ein klares Nein.“3

Dieser kulturalistische Ansatz nährt sich aus einem kaum verhüllten Rassismus. Einer genaueren Prüfung hält er nicht stand: Was ihre demokratische Entwicklung angeht, müssen viele muslimische Länder den Vergleich mit anderen Ländern der Dritten Welt durchaus nicht scheuen. Doch die eigentliche Funktion der kulturalistischen Sichtweise ist politischer Natur: Sie erlaubt es zum einen, die Komplizenschaft des Westens mit den schlimmsten muslimischen Tyranneien zu rechtfertigen: Unter dem Vorwand, ihre „kulturelle Eigenart“ zu respektieren, sieht man von der Forderung nach Demokratisierung ab. Zum anderen erlaubt sie die Zerschlagung militanter islamischer Strömungen im Namen demokratischer Werte mit dem Argument: Wenn schon Diktatur, dann wenigstens eine prowestliche! So rechtfertigte der Artikel von Amos Perlmutter die Aussetzung der Wahlen in Algerien, die immerhin die freiesten waren, die je in der arabischen Welt stattgefunden haben!

Um die Sonderrolle der arabischen Despotien zu verstehen, muß man zwei entscheidende Voraussetzungen einbeziehen: Zum einen den Fluch des Erdöls, zum anderen die islamistische Prägung des Widerstands gegen die herrschende Ordnung.

Der Fortbestand archaischer Stammesdynastien in den Erdölstaaten der arabischen Halbinsel beziehungsweise ihre Einsetzung durch den Westen stand immer schon in starkem Widerspruch zu der durch die Kolonialisierung bedingten Zerstörung traditioneller Strukturen, an deren Stelle politische Modelle traten, die die Moderne imitierten. Die „zivilisatorische Mission“ des Westens auf institutioneller Ebene hat vor den Erdölstaaten haltgemacht: Hier ging es im Gegenteil darum, die politische und soziale Rückständigkeit festzuschreiben, zum Zwecke der ungehinderten Ausbeutung der lokalen Erdölressourcen durch die Schutzmächte. Dies galt vor allem für Saudi-Arabien.

Dieser Staat mit den reichsten Erdölvorkommen der Welt ist für Washington von größter Bedeutung. Die USA, die lange Zeit die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik des Königreichs direkt lenkten, haben hier eine maximale soziale Kontrolle aufrechterhalten, um die Gefahr von Unruhen zu bannen. Ihre Politik – die auch in anderen Erdölförderstaaten zur Anwendung kam, aber in Saudi-Arabien wegen der geringen Einwohnerzahl besonders bizarre Wirkungen hatte – bestand darin, die Entwicklung einer privilegierten einheimischen Mittelschicht zu begünstigen und die Herausbildung einer autochthonen Arbeiterklasse zu verhindern. Für die industrielle Produktion und die groben Arbeiten bediente man sich ausländischer Arbeitskräfte, deren Zahl durch den überdurchschnittlich hohen Einsatz von Spitzentechnologie begrenzt werden konnte.

Islamismus amerikanischer Prägung

NACH der gleichen Logik ist auch die saudiarabische Armee aufgebaut: Zahlenmäßig relativ klein, verfügt sie, um die Gefahr eines republikanischen Staatsstreichs zu bannen (dem die Monarchien in Ägypten, im Irak und in Libyen zum Opfer gefallen sind), über ein beeindruckendes Waffenarsenal, das zu Preisen angeschafft wurde, die für Länder der Dritten Welt unerschwinglich wären und natürlich den westlichen Waffenhändlern gute Profite brachten. So hat Saudi-Arabien mit einer viermal größeren Bevölkerung als das benachbarte Jordanien ein Heer, das kaum doppelt so groß ist, allerdings beträgt das Verteidigungsbudget das Dreiunddreißigfache!4

Armee und Nationalgarde sind nicht nur Abbild der Stammesstrukturen des Landes, sie stellen im wesentlichen eine Leibgarde des Monarchen dar. Ihre Abschreckungswirkung gegenüber äußeren Bedrohungen ist eher zweifelhaft und steht in keinem Verhältnis zu den Kosten, die 2,5mal höher sind als jene der israelischen Armee. Riad verfügt über hochmoderne Waffensysteme, die zum Großteil als Arsenal für einen eventuellen amerikanischen Truppeneinsatz bereitstehen – eine Konsequenz aus den Erfahrungen des Pentagon in den ersten Monaten nach der irakischen Invasion in Kuwait, im August 1990, als gewaltige logistische Aufgaben in kürzester Zeit zu bewältigen waren. Jeder weiß, daß der riesige Flughafen von Dschidda nicht nur zum Empfang von Pilgern dient.

Das jüngste saudiarabische Vorhaben, das die Washington Post enthüllte, nämlich ein Auftrag an Lockheed Martin über 102 F-16-Kampfflugzeuge für die Kleinigkeit von 15 Milliarden Dollar (3 Milliarden für die Maschinen, 12 Milliarden für Ausrüstung, Wartung und Schulung der Piloten!), ist ein Indiz für die Verschwendungssucht des Königreichs. Abgesehen von den üblichen Protesten Israels, die zumeist zusätzliche militärische Großzügigkeiten aus Washington (in diesem Falle F-22) zur Folge haben, weiß die Washingtoner Tageszeitung über einen sehr aufschlußreichen Konflikt innerhalb der amerikanischen Regierung zu berichten: Während einige der Verantwortlichen im State Department diese Gelder lieber für soziale Reformen einsetzen würden, um die innere Stabilität des Königreichs zu sichern, wünschen sich andere Entscheidungsträger (im Pentagon), daß die Saudis diese Summe zur Modernisierung ihrer Infanterie einsetzen, statt die bereits übermäßig aufgerüstete Luftwaffe noch zu vergrößern.5 Dieses Land, das mit den Vereinigten Staaten so eng liiert ist, daß man sich in Washington sogar um das Budget des Golf-Anliegerstaates streitet, ist die absolute Antithese zu jeder Demokratie: Das unter der ideologischen Herrschaft der Wahhabiten stehende Königreich erkennt als einziges Grundgesetz den Koran und die Scharia an; kein anderer Staat auf der Welt ist so fundamentalistisch, so absolutistisch, ist politisch und kulturell so totalitär, in keinem anderen Land wird die Hälfte der Bevölkerung – die Frauen – so stark unterdrückt. Dagegen erscheint der Iran als eine relativ liberale, pluralistische Gesellschaft, seine Frauen muten geradezu emanzipiert an ...

Die gleichen Leute, die sonst nicht müde werden, den islamischen (antiwestlichen) Fundamentalismus anzuprangern und demokratische und laizistische Grundhaltungen einzufordern, sind offensichtlich zu einem guten Geschäft mit Saudi-Arabien immer gerne bereit. Kein Wunder, daß angesichts solcher Heuchelei die arabischen Völker während des Golfkrieges die Parolen der Anti-Irak- Allianz nur als verlogen und unannehmbar erachten konnten, zumal der Golfkrieg, der angeblich zur Verteidigung der demokratischen Werte ausgetragen wurde, ausgerechnet von saudischem Territorium und mit saudischer Beteiligung geführt wurde.

Damit tritt auch einer der Hauptgründe zutage, weshalb den arabischen Staaten die Sonderrolle überhaupt zukommt: Der Westen kann sich innerhalb der arabischen Welt nicht für die Verteidigung der demokratischen Werte stark machen, ohne dabei zu riskieren, seinen Schützlingen am Golf zu schaden.

Doch gibt es noch einen weiteren und wichtigeren Grund, nämlich den jähen Aufstieg des anderen, radikal antiwestlichen Fundamentalismus iranischer Prägung. Der Westen erntet heute, was er einst säen half: Fast dreißig Jahre lang hatte er sich im Kampf gegen den fortschrittlichen Nationalismus – dessen Vorbild der (von der UdSSR geförderte) Nasserismus war – mit der islamischen Propaganda des saudiarabischen Königreichs, des Erzfeindes der ägyptischen Regierung, zusammengetan. Mit Hilfe des CIA unterstützte Riad die Muslim-Bruderschaft gegen den ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el Nasser und finanzierte und beherbergte auf seinem Territorium den Großteil der diffusen Internationale des islamischen Fundamentalismus.

Als der Nasserismus zerfiel, hatten die Regime der „prowestlichen Restauration“ auf ihrem Territorium analoge Allianzen geschaffen, um die Linke und die Anhänger der alten Ordnung, nunmehr verkörpert durch den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, zu bekämpfen. Sadat erwies sich als eine Art Zauberlehrling: Zu Beginn seiner Präsidentschaft hatte er wesentlich dazu beigetragen, die Aktivitäten der muslimischen Fundamentalisten freizusetzen und zu verstärken, um schließlich von denselben Kräften im Namen des Islam ermordet zu werden. Inzwischen war mit der iranischen Revolution von 1979 zur großen Überraschung von Washington und Riad eine neue Form der militanten Opposition zur westlichen Vorherrschaft entstanden.

So haben nach all den Jahren des ideologischen antikommunistischen und antinationalistischen Kampfes, der eher unter dem Banner des Islam als unter jenem der liberalen Demokratie geführt wurde, der Bankrott des Nationalismus und die Ohnmacht der Linken den Weg frei gemacht für den islamischen Fundamentalismus. Ganz selbstverständlich bot sich die Religion als Träger des nationalistischen und sozialen Protestes von unten an, und dazu haben Riad und Washington das Ihre beigetragen.

Daraus resultierte eine lange Periode des Zögerns, in der die saudiarabische Führung und ihre amerikanischen Berater glaubten, die Ansteckungsgefahr eindämmen zu können, indem sie den Iran mit seinen „schiitischen Extremisten“ gegen die „gemäßigten Sunniten“ ausspielte. Riad unterstützte weiterhin die fundamentalistischen Sunnitenbewegungen, vor allem die Aktivitäten der Muslim-Brüderschaft. Doch sollte sich auch diese Strategie als Desaster erweisen: Als 1990 die Golfkrise Irak und Saudi-Arabien zu Gegnern werden ließ, entschieden sich große Teile der von Riad unterstützten fundamentalistischen sunnitischen Bewegung für Bagdad, um sich nicht von ihrer sozialen Basis zu isolieren. Die saudiarabische Monarchie erlitt eine schmähliche Niederlage.

Der Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 machte den Kommunismus zu einem unbedeutenden Faktor, und Washington erklärte nun den radikalen Islamismus iranischer Prägung zum neuen Feind. So löste innerhalb kurzer Zeit der „Kampf der Kulturen“ das „Ende der Geschichte“ ab. Natürlich hat man die unglaubliche Heuchelei nicht aufgegeben, die es erlaubt, die saudiarabische Monarchie zur Verbündeten der westlichen Zivilisation zu erklären. Erst kürzlich führte diese Haltung zu einem weiteren „Erfolg“: In Afghanistan haben Washington und Riad bekanntlich mit den Taliban gemeinsame Sache gemacht.6

Die Tatsache, daß sich seit 1990 in der arabischen Welt das soziale Aufbegehren vorwiegend in einem antiwestlichen Islamismus äußert und die saudische Monarchie nach wie vor antidemokratisch ausgerichtet ist, hat bewirkt, daß im Gegensatz zur allgemeinen Entwicklung die arabische Variante der neuen Weltordnung auf dem Despotismus basiert. Nicht nur um die Gefahr einer proiranischen Machtübernahme in Bagdad zu bannen, sondern auch im Interesse der Stabilität Saudi- Arabiens haben die Truppen von General Schwarzkopf einige Kilometer vor der irakischen Hauptstadt haltgemacht und so Sadam Hussein ermöglicht, das durch Unruhen in Kurdistan und im schiitischen Süden zerrissene Land unter seiner Kontrolle zu halten. Aus den gleichen Gründen hat der Westen die gewaltsame Blockierung der demokratischen Entwicklung in Algerien gebilligt, nachdem die algerische FIS sich im Golfkrieg auf die Seite des Irak geschlagen hatte.

Man muß also keineswegs ins 7. Jahrhundert zurückgehen, um den arabischen Sonderfall zu begreifen; die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts bietet genug Erklärungen.7 Aber wenn es schon eine Ausnahme ist, von welcher Regel dann eigentlich? Gibt es sie wirklich, die enge Verbindung zwischen den liberaldemokratischen Werten und der neoliberalen Globalisierung unter westlicher Hegemonie?

dt. Andrea Marenzeller

* Lehrt an der Universität Paris-VII.

Fußnoten: 1 Vgl. Alain Gresh, „Frieden statt Demokratie“, Le Monde diplomatique, November 1996. 2 Im letzten Jahr hat der Libanon das Ende des politischen Pluralismus in den audiovisuellen Medien und eine Welle von politischen Verhaftungen erlebt, wie es sie in diesem Land lange nicht mehr gegeben hatte. 3 Der Text wurde wiederabgedruckt in International Herald Tribune vom 21. Januar 1992. Amos Perlmutter ist Professor für Politische Wissenschaft an der American University in Washington. Er hat sich in den USA zum Thema der Minderheiten in einer Einwanderungsgesellschaft verschiedentlich geäußert. 4 Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 1993. Saudi-Arabien liegt bei den Militärausgaben an neunter Stelle, hinter den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats der UNO sowie Deutschland, Italien und Japan! 5 International Herald Tribune, 1./2. Februar 1997. 6 Vgl. Olivier Roy, „Afghanistan: Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline, Le Monde diplomatique, November 1996. 7 Natürlich behandeln die hier angeführten Erklärungen die Frage nicht erschöpfend. Man muß sie im Zusammenhang mit zahlreichen anderen mehr oder weniger endogenen Faktoren sehen, die sehr gut dargestellt sind in „Démocraties sans démocrates: Politiques d'ouverture dans le monde arabe et islamique“, herausgegeben von Ghassan Salamé, Paris (Fayard) 1994. An dieser Arbeit, die sich gegen den kulturalistischen Ansatz wendet, muß man allerdings kritisieren, daß sie die erhebliche Mitverantwortung des Westens ausklammert.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von GILBERT ACHCAR