13.06.1997

Gesucht: Die Töchter der Marie Curie

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Gesucht: Die Töchter der Marie Curie

Bei der Verleihung von 441 Nobelpreisen für Naturwissenschaften sahen sich 430 Männer geehrt. Marie Curie und Maria Goeppert-Mayer sind die einzigen Physikerinnen unter den elf Frauen, die überhaupt innerhalb der letzten hundert Jahre für naturwissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet wurden. Die Amerikanerin Barbara McClintock, die mit einer grundlegenden Entdeckung bewies, daß Chromosomen die Träger der Identität sind, mußte bis zum Alter von 82 Jahren auf den Nobelpreis warten. Und wer erinnert sich noch an die deutsche Mathematikerin Emmi Noether, die Erfinderin der modernen Algebra? Oder an Sonja Kowalewskaja, die erste Professorin für Mathematik an der Universität Stockholm?

Es bleibt ärgerlich genug, daß Frauen in Europa – bis auf die nordischen Länder – in der Politik immer noch schwer Fuß fassen, und daß sie auch in anderen Spitzenpositionen (in den Naturwissenschaften, im Ingenieurswesen oder in den neuen Technologien) so gut wie gar nicht vertreten sind, ist bestürzend. Die Funktionsweise der beiden Gehirnhälften war zur Erklärung solcher Umstände immer ein beliebtes Medienthema. Doch erlaubt die Forschung hier keine voreiligen Schlüsse. Woher rührt die weitverbreitete Abneigung von Mädchen den sogenannten harten Wissenschaften gegenüber? Warum verlieren so viele Mädchen am Ende der Schullaufbahn die Lust an naturwissenschaftlichen Fragestellungen? Warum wagen so wenige begabte Frauen den Sprung ins Studium und schaffen später den Aufstieg in einem solchen Beruf?

Von INGRID CARLANDER *

IST Wissenschaft geschlechtsspezifisch? Die Frage wird wichtig, wenn man die Bedeutung von Wissenschaft und Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft thematisiert“, behauptet Frau Dhavernas- Levy, Philosophin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS – Nationales Forschungszentrum) in Paris. In seinem Buch über die kulturellen Dimensionen der Naturwissenschaften stellt Pierre Thullier fest: „Die Rollenklischees, die Männern zuarbeiten, sind durch Universitätsbibliotheken, Lehrbücher und populärwissenschaftliche Darstellungen weit verbreitet.“1

In Frankreich sind von 100 Physikern 24 Frauen, bei den Mathematikern laut Statistik 20. Dabei ist noch zu präzisieren, daß von diesen Wissenschaftlerinnen nur sehr wenige verantwortliche Positionen bekleiden. In Italien findet man zwar mehr Physikerinnen, aber keine oder fast keine in führender Stellung. In Deutschland ist die Lage noch kritischer. Auch in den USA – einem Land, in dem Macht eher mit Medizin oder Jura verbunden ist als mit naturwissenschaftlicher Kompetenz – liegt der Anteil von Frauen in den Naturwissenschaften nur bei 5 Prozent.

Die Abwesenheit von Frauen in den Naturwissenschaften wirft ein gesellschaftliches Problem auf, das über geschlechtspolitische Betrachtungen weit hinausgeht. In einer Welt der extrem beschleunigten technologischen Veränderung hat der Ausschluß von Frauen erhebliche gesellschaftliche und ökonomische Folgen. Zu viele Menschen sind an den Entscheidungen über die Zielsetzungen und Weichenstellungen für die Zukunft nicht beteiligt. Vor allem die Frauen.

In Frankreich wurde das politische Jahr 1997 mit einem eindringlichen Appell eröffnet. Zwei Vereinigungen, Demain la parité (Morgen die Gleichheit) und Les femmes diplômées des universités (Frauen mit Universitätsabschlüssen), haben in Form eines Reports2 eine Warnung formuliert: Mit dem Ausschluß der Frauen aus einem so wichtigen Berufsfeld wie dem naturwissenschaftlichen Sektor droht die Ausübung von Staatsbürgerschaft und Macht in Frankreich aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Das sattsam bekannte Argument der „angeborenen Unterschiede“ findet in der Öffentlichkeit und in gewissen populärwissenschaftlichen Zeitschriften nach wie vor viel Zustimmung (wobei sich selbst einige Frauen dahinter verstecken). „Dabei gibt es keinen Beweis für einen angeborenen Unterschied zwischen den Gehirnen von Frauen und Männern“, erklärt Catherine Vidal, Neurobiologin und Laborleiterin am Institut Pasteur. „Einige Tests zeigen Unterschiede wie eine bessere Fähigkeit zur räumlichen Orientierung bei Jungen, doch man kann sich denken, daß diese Unterschiede erworben sind. Vielleicht durch das Spielen im Freien? Man kann auch die Rolle der Hormone anführen: Doch noch nie hat man beweisen können, daß sie Mädchen gesittet und Jungen ungezogen machen!“ Im übrigen widerspricht der relativ ehrenwerte Prozentsatz von Naturwissenschaftlerinnen am CNRS (32 Prozent) dem Argument, daß es einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Eignung zu naturwissenschaftlicher Forschung geben müsse.

Wie läßt sich erklären, daß man „von Leistungsbeurteilungen am Ende des 10. Schuljahrs, die, wenn nicht für Gleichheit, so doch für sehr geringe Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Mathematik sprechen, zu derart großen Divergenzen in der weiteren Schullaufbahn kommt?“ fragen sich Christian Baudelot und Roger Establet in einer spannenden Untersuchung3 , die sie unter Schülern durchgeführt haben. Es gibt keine einfache Antwort; zu viele verschiedene Faktoren greifen ineinander, und zu subtil sind die kleinen Unterschiede in der Erziehung, die von Anfang an ihre Wirkung entfalten.

Bis zum Beginn des Kurswahlsystems sind in Frankreich die Schulerfolge von Mädchen und Jungen in Mathematik gleich, und Mädchen, die sich für einen naturwissenschaftlichen Ausbildungsweg entschieden haben, schließen auch erfolgreich ab. Allerdings scheinen Mädchen eine weniger zielgerichtete Auffassung vom Lernen zu haben: Anders als die meisten Jungen orientieren sich Mädchen bei der Wahl ihrer Fächer an ihren Neigungen und nicht an irgendeiner beruflichen Zukunft. Sie geben sich allerdings auch wenig selbstsicher, vor allem wenn es um Mathematik geht. Nach einer Studie im Auftrag der Vereinigung Femmes et mathématiques (Frauen und Mathematik) halten sich 72 Prozent der Jungen, aber nur 62 Prozent der Mädchen für mathematisch begabt.

Passen sich Mädchen, wenn sie bei der Planung ihrer Schullaufbahn und ihrer beruflichen Zukunft weniger willensbetont und weniger ehrgeizig sind, womöglich den Wünschen potentieller Arbeitgeber an, oder richten sie sich unbewußt nach den Erwartungen ihrer Eltern? Fragt man Eltern nach den Wünschen für ihre schulpflichtigen Kinder, bekennen sie bei den Söhnen in 70 Prozent der Fälle, daß sie von ihnen einen höheren Abschluß erwarten, was bei den Töchtern nur bei 45 Prozent der Fall ist.

Der gleichen Untersuchung zufolge antworten die Eltern auf die Frage nach den wichtigsten Faktoren für das künftige Glück ihres Kindes bei Söhnen: materieller Erfolg (Beruf, Geld) ebenso wie häusliches Glück; bei Mädchen dagegen schätzen sie das häusliche Glück dreimal so hoch ein wie den beruflichen Erfolg.

Darin spiegelt sich eine allgemeine Entwicklung. „Vor zehn Jahren riet man den jungen Mädchen, zum Segen ihrer eigenen Entfaltung zu arbeiten. Das ist heute keineswegs mehr so“, erklärt Suzanne Tréreffe, Psychologin und Ausbildungsberaterin am Centre d'orientation et d'examens psychologiques (Corep – Schulpsychologisches Beratungszentrum). „Seit einigen Jahren scheint vielen Eltern bewußt zu sein, daß ein Arbeitslohn für ein Ehepaar nicht mehr ausreicht und daß die Erwerbstätigkeit der Frau immer unentbehrlicher wird. Aus diesem Grund kommt es für viele Eltern nicht länger in Frage, daß ihre Tochter keine Ausbildung macht und sich darin einrichtet, nicht zu arbeiten. Allerdings gelten die ,harten‘ Wissenschaften wie Mathematik und Physik nach wie vor als trockene Disziplinen, die hart und gefühllos machen. Vor allem Mütter haben starke Vorbehalte, der eigenen Tochter bei der Berufswahl ausgerechnet zu einer Naturwissenschaft zu raten. Viele Väter wären eher dazu bereit, besonders wenn sie selbst eine naturwissenschaftliche Ausbildung absolviert haben.“

Weichenstellung in der Schule

DIE gleiche Konditionierung auch in der Schule, obwohl dort die Mehrheit des Lehrkörpers überzeugt ist, daß der Unterricht seinem Wesen nach neutral und streng egalitär ist. Den meisten Lehrern ist nicht bewußt, daß die Schule gerade im Fall der Mathematik ein stark geschlechtsspezifisch geprägtes Bild vermittelt. Nach Ansicht der Lehrerin Gwenola Madec „unterschätzen Lehrer und Lehrerinnen die sexuelle Identität der Schüler und messen bestimmten Verhaltensweisen keine Bedeutung bei. Die klassischen pädagogischen Methoden sind für die Mädchen sehr nachteilig. Bis zur 10. Klasse melden sich Mädchen gleich oft zu Wort, danach sind sie weniger präsent und stehen weniger zu ihren Gedanken. Sie entwickeln ihre Persönlichkeit sehr viel besser in praktischer Gruppenarbeit – wo sie sich auch mal ein ,aggressives‘ Verhalten erlauben – als im gesamten Klassenverband.“

Seit einigen Jahren bemühen sich zahlreiche Forscher in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich an den Universitäten in Rennes und Dijon, die Wirkung dieser meist unbewußten Einflüsse auszumachen und zu analysieren. Deshalb arbeiten sie zum Beispiel mit versteckten Kameras. Videoaufnahmen zeigen, daß Lehrer und Lehrerinnen bei der Führung einer Klasse häufig geschlechtsspezifisches Verhalten erwarten und begünstigen. So schenkt ein naturwissenschaftlicher Lehrer in einer Unterrichtsstunde den Jungen etwa zehn Minuten länger Zeit als den Mädchen. Lehrbücher und Aufgaben beziehen sich häufig auf männliche Interessenschwerpunkte. Mädchen werden seltener gefragt, und wenn, dann werden sie häufiger unterbrochen. Lehrer neigen dazu, Mädchen für ihr gutes Betragen oder für die Ordentlichkeit ihrer Hefte zu loben, Jungen dagegen für die Richtigkeit ihrer Überlegungen. Marie Duru-Bellat nennt das „verdeckte Laufbahnplanung“4 .

Die harte Materie als natürliche Auslese

IM Physikunterricht werden schwächere Arbeiten, wenn sie von Mädchen stammen, oft nachsichtiger bewertet. Bei Mädchen wird ganz selbstverständlich entschuldigt, wenn sie nicht erfolgreich sind. Auffällig ist auch, daß sich Mädchen seltener an allgemeinen Diskussionen beteiligen. Alles in allem sind sie leichter bereit, in den Hintergrund zu treten. Zu der gleichen Feststellung kommt Boel Berner, Professorin an der Universität von Linköping in Schweden: „Die Mädchen werden unterschätzt, man erwartet von ihnen weniger Leistung, was sie so verinnerlichen, daß sie sich selber aus dem Wettbewerb ausschließen. Mathematik und Technik? Das sind keine Fächer für sie. Weil man der Ansicht ist, daß Mädchen nie die Erbauer der Nation sein werden!“5

Die Unterrichtsmethoden in den „harten“ Wissenschaften werden übrigens von der Mehrheit der französischen und ausländischen Forscher kritisiert. Die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung dieser Disziplinen werde zu selten erwähnt, beklagen sie und bedauern, daß Fähigkeiten wie Konkurrenzverhalten, Strenge und logisches Denken als vermeintliche Voraussetzungen für die Naturwissenschaften so stark betont werden.

Zu Unrecht, denn Mathematik erfordere auch Intuition und Phantasie, also etwas, daß man als ästhetische Begabung bezeichnen könnte. „Die Schule erklärt den Kindern nicht, was die Naturwissenschaften sind, wohin sie führen. Man stellt sie als hart, abstrakt, ja sogar abstoßend dar“, meint Christine Bénard, Forschungs- und Studienleiterin an der Ecole normale supérieure. „Die Bilder, die damit verbunden sind, von Flugzeugen und Raketen zum Beispiel, sind männliche Bilder in ihrem ganzen Schrecken. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, Mädchen zum Träumen zu bringen. Dabei gehört es zu den Naturwissenschaften, zu erklären, warum der Himmel blau und die Bäume grün sind! Man vergißt nur, das zu sagen.“

Der gleichen Ansicht ist Claudine Hermann, Leiterin des physikalischen Labors für kondensierte Materie an der Pariser Ecole polytechnique und die erste Frau, die an dieser berühmten Institution als Lehrerin zugelassen wurde. Die Naturwissenschaften bleiben in ihren Augen gesichtslos: „Niemals wird erklärt, worin der Ingenieursberuf besteht. Nirgends wird erwähnt, daß es in diesem Beruf auch soziale Beziehungen gibt und daß er sehr große Befriedigung verschafft. Physik und Mathematik? Die Leute wissen nicht, wie das im Berufsleben aussieht. Im Alltag bezeichnet sich außerdem niemand als Physiker oder als Mathematiker. Das wird nicht als Beruf betrachtet, es sei denn, es handelt sich um eine Forschungstätigkeit.“ Die Folge: ein alarmierender Mangel an Mädchen an den technischen Fachschulen und insbesondere an der Ecole des arts et métiers (Technische Hochschule), wo sie je nach Fachrichtung lediglich zwischen 2 und 8 Prozent der Studierenden ausmachen.

Mangel an Selbstvertrauen und Ansporn, unangemessene Unterrichtsmethoden und ein wenig anziehendes Bild der Naturwissenschaften führen also zu folgendem Ergebnis: 1995 zum Beispiel betrug am Ende der Sekundarstufe der Anteil der Mädchen – obwohl sie fast 54 Prozent der Gesamtschülerzahl darstellten – in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften nur 41 Prozent, während sie in den Klassen für Fremdsprachen und Literatur über 81 Prozent der Schülerschaft ausmachten und in den wirtschaftlichen Fächern immerhin mit 62 Prozent vertreten waren. Die Vorbereitungsklassen für die Grandes Ecoles rekrutieren aber ihre Studenten aus den Schülern des mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichs.

Die Entscheidung für eine Vorbereitungsklasse ist bei einem Jungen, sofern er nur ein Minimum an mathematischer Begabung zeigt, durchaus naheliegend, bei einem Mädchen dagegen immer noch eine eher theoretische Möglichkeit. Ein junger Mann wird fast automatisch in die naturwissenschaftlichen Ausbildungsgänge gedrängt und zum Durchhalten angespornt, selbst um den Preis, eine Klasse zu wiederholen, wenn er dadurch seinen Abschluß erreichen kann. Ein junges Mädchen hingegen genießt keine derartige Unterstützung und wird, wenn es um die Wahl einer Fachrichtung geht, ihre naturwissenschaftlichen Fähigkeiten eher unterschätzen. Es sei denn, ihr kommt der Einfluß des „mütterlichen Vorbilds“ zugute. Ein entscheidender Einfluß, wie alle Studien belegen.

„Über die Hälfte der Mütter von Studentinnen an der Ecole normale oder Ecole polytechnique sind Naturwissenschaftlerinnen. Das gilt auch für die Jungen, die die Ecole normale oder Ecole polytechnique schaffen, aber bei den Mädchen hat dieser Faktor eine größere Beschleunigungsfunktion“, erklärt Catherine Marry, Forschungsbeauftragte am CNRS und Soziologin.6 „Eine Naturwissenschaftlerin in der Familie (Mutter, Tante oder ältere Schwester zum Beispiel) ist ein lebendiger Gegenbeweis für die angebliche Unvereinbarkeit von Frauen und Naturwissenschaften. Es verblüfft mich übrigens immer wieder, wenn ich Mädchen aus solchen Familien befrage. Für sie ist es keine Herausforderung, Mathematik oder Physik zu studieren – im Gegenteil, es ist selbstverständlich.“

Allerdings muß eine Frau, um für andere Frauen als Vorbild zu dienen, ihren Beruf immer auch ausüben. Hat die „vorbildliche“ Frau dann doch aufgehört zu arbeiten, ist das Image der Naturwissenschaften um so negativer. Denn ein Mädchen wird daraus den Schluß ziehen, daß ein Leben als Mathematikerin oder Physikerin mit einem harmonischen Familienleben unvereinbar ist (was im übrigen auf die naturwissenschaftlichen Karrieren weniger zutrifft als auf die sogenannten weiblichen ...).

Als Aufnahmebedingung für die renommierten französischen Grandes Ecoles stellen die Vorbereitungsklassen für Mathematik für das weibliche Geschlecht ein einziges Hindernisrennen dar. Die Mädchen, die es schaffen, haben bisweilen den Eindruck, Überlebende zu sein! Marie-Noälle Dessinges, Studentin an der Ecole supérieure de physique et chimie (ESPCI – Hochschule für Physik und Chemie), gibt zu, daß „die Vorbereitungskurse kein gutes Klima für Mädchen erzeugen. Immer noch müssen sich die Erstsemester auf derbe Witze gefaßt machen. Der rauhe Ton ist gewöhnungsbedürftig.“

Haben sie den ersten Teil dieses „Kampfparcours“ erfolgreich hinter sich gebracht, steht den Siegerinnen immer noch die Durchsetzung im Berufsleben bevor. Die Zahlen sprechen für sich, selbst beim CNRS (das immerhin Frauen gegenüber offener ist als der Durchschnitt der französischen Unternehmen). Sie zeigen, daß Frauen nicht nur sehr viel seltener als Männer naturwissenschaftliche Karrieren einschlagen, sondern auch weniger hoch aufsteigen und weniger schnell Führungspositionen erreichen als Männer.

Weibliche Wissenschaft als innovativer Schub

OBWOHL die Gesamtzahl von Ingenieurinnen aller Disziplinen in Frankreich seit Anfang der siebziger Jahre (als die Grandes Ecoles auch für Mädchen geöffnet wurden) von 3 auf 15 Prozent gestiegen ist, bleibt der Anteil derjenigen, die in höchste Positionen gelangen, verschwindend gering. „Ich bin überzeugt, daß dieses 20. Jahrhundert zum Ende hin in technischer Hinsicht keine entscheidenden Fortschritte gebracht haben wird, weil die Männer es den Frauen nicht ermöglicht haben, sich an der Entwicklung zu beteiligen“, meint deshalb die Vizepräsidentin des Ingenieurinnen-Verbands, Brigitte Labatut- Chabaud.

Wie läßt sich der als Selbstverzicht getarnte Machtverzicht der Frauen von ihrer Diskriminierung unterscheiden? Eine Diskriminierung, die in den naturwissenschaftlichen Karrieren genauso stattfindet wie in der Mehrzahl aller anderen Berufsbereiche?

„Frauen streben selten nach Positionen mit großer Verantwortung, wie es scheint setzen sie sich selbst zu früh Grenzen“, meint Colette Lewiner, Geschäftsführerin der Firma Réseau Eurisys, einer Filiale der Atomgesellschaft Cogema – eine außergewöhnlich erfolgreiche Frau, die gerade eine beachtliche Aufgabe bewältigt hat: die Dekontaminierung und Demontage des Militärstandorts Hanford im Staate Washington, eines der größten Atommüllager der Welt. „Frauen müssen zu viele familiäre und gesellschaftliche Barrieren überwinden, und außerdem haben sie noch immer insgeheim Angst vor dem Scheitern: Jedes kleine, noch so unbedeutende Beispiel eines Mißerfolgs hat auf Frauen eine viel verheerendere Wirkung als auf Männer. Was zählt, ist allein der Erfolg!“

„Überempfindlichkeit“ oder tatsächliche Diskriminierung? Die angesehensten Spezialisten weisen schlicht darauf hin, daß man zu oft nur eine Seite dieses Sachverhalts betont, während doch beide berücksichtigt werden müssen. Man darf auch nicht übersehen, daß junge Frauen, wenn sie sich Macht und Verantwortung entziehen, möglicherweise nicht Opfer sind, sondern überlegte und vernünftige „Strateginnen“: Sie antizipieren ihr späteres Leben (angefangen bei den Problemen der Mutterschaft), und die Entscheidungen, die sie treffen, sind ihnen durchaus nicht immer aufgezwungen und auch nicht von außen zu kritisieren.

Wie dem auch sei, in Europa wie in den USA werden die Organisationen von Wissenschaftlerinnen immer aktiver, in der Hoffnung, die Öffentlichkeit und die zuständigen Stellen zu der Einsicht zu zwingen, daß der Mangel an Frauen in den naturwissenschaftlichen Berufen ein Problem darstellt.

In diesem Sinne subventioniert der Ingenieursrat in Großbritannien seit einigen Jahren das Wise-Projekt: Mit technischem Material vollgepackte Busse fahren kreuz und quer durch Stadt und Land, mit Animateuren, deren Auftrag es ist, junge Mädchen für den Beruf der Ingenieurin zu begeistern. Mit von der Partie sind die großen Firmen, die sich über den Mangel an qualifiziertem Personal Sorgen machen. Die Resultate lassen zu wünschen übrig: Der frühere Wissenschaftsminister von Großbritannien hat im März 1997 unter dem Titel „The Mystery of the Vanishing Girls“ (Das Geheimnis der verschwindenden Mädchen) eine Kampagne gestartet mit dem Slogan: „Die Zukunft der britischen Industrie hängt von den Frauen ab, unser aller Lebensqualität ebenso.“ In den USA hat unterdessen das berühmte Massachussetts Institute of Technology (MIT) sein mea culpa abgelegt und versucht nun mit allen Mitteln, Studentinnen zu rekrutieren.

Auch in Frankreich suchen Regierung und Forschungs-Institutionen mehr oder weniger begeistert und effektiv nach einem Lösungsweg. Die Ecole normale supérieure und die Ecole polytechnique stehen in diesem Kampf an der Spitze. Zentren wie das Institut universitaire de formation des maitres (IUFM – Institut für Lehrerausbildung) an der Akademie in Reims und das Institut de recherche sur l'économie de l'éducation (IREDU – Forschungsinstitut für Bildungsökonomie), das dem CNRS und der Universität von Burgund in Dijon angeschlossen ist, beginnen mit der Einführung neuer Formen der Lehrerausbildung – in der Hoffnung, den Lehrenden dabei zu helfen, den naturwissenschaftlichen Unterricht zu modernisieren und die subtilen Ungleichbehandlungen von Jungen und Mädchen zu vermeiden.

Die positive Entwicklung in anderen, zu Anfang dieses Jahrhunderts für das „schwache“ Geschlecht noch strikt verbotenen Disziplinen erlaubt heute die Annahme, daß sich die Frauen schließlich im Bereich der Naturwissenschaften eines Tages ebenso durchsetzen werden, wie sie es anderswo auch getan haben. Bildungswesen, Medizin, Biologie (und in jüngster Zeit auch der Handel) sind Sektoren, in denen Frauen glänzend und sogar zahlreicher vertreten sind als Männer.

Die Falle der Tradition

DAS französische Bildungswesen brauchte zwei Jahrhunderte (seit Condorcet), bis es den Frauen so etwas wie Chancengleichheit garantierte. „Zuerst bezog sich die Diskussion darauf, ob die Frauen die Fähigkeit hätten, Wissen ,aufzunehmen‘, anders gesagt, zur Schule zu gehen. Dann ging es um ihre Fähigkeit, es zu ,vermitteln‘, das heißt zu unterrichten“, ruft Christine Bénard von der Ecole normale supérieure in Erinnerung. „Jetzt sind wir in einer dritten Phase: Ist der weibliche Geist fähig, Wissen ,hervorzubringen‘? Dies zuzugeben, ist der entscheidende Punkt.“

In der Medizin und in der Biologie hat der Kampf der Frauen um die Durchsetzung ihrer Rechte zwar nicht so lange gedauert, war aber nicht weniger hart. Wer weiß heute noch, daß um die Jahrhundertwende Medizinstudenten das Bild der ersten französischen Medizinerin öffentlich verbrannt haben? Oft fragt man sich, warum es den Frauen im Zeitraum von zwei Generationen gelungen ist, sich gerade in diesen beiden Männerbastionen durchzusetzen (mit Ausnahme einiger noch streng gehüteter Machtbereiche wie der Chirurgie). Für Claudine Hermann von der Ecole polytechnique ist die Antwort einfach: „In der Vorstellungswelt der Frauen haben Medizin und Biologie einen engen Bezug zum Leben. Das vor allem zieht sie an. Entscheidend ist also das Problem der Präsentation. Solange es uns nicht gelingt, ein menschlicheres Bild von den ,harten‘ Wissenschaften zu vermitteln, laufen wir Gefahr, daß die Frauen sie weiterhin meiden.“

Auch wenn man einräumt, daß die Kampagnen zur Imageverbesserung eine Wirkung zeitigen, so ist dennoch nicht sicher, ob Frauen in absehbarer Zeit den ihnen zustehenden Platz im Wissenschaftsbetrieb finden werden. Die Konjunktur ist nicht gerade dazu angetan, und wenn man nicht aufpaßt, droht sich die gegenwärtige Situation sogar noch zu verschlimmern.

„Angesichts der Krise setzen Eltern und Töchter wieder auf Sicherheit. Viele haben begriffen, daß wissenschaftliche Karrieren Zukunfts- und Berufsperspektiven bieten“, sagt Suzanne Tréreffe, die Psychologin und Ausbildungsberaterin am Corep (Schulpsychologisches Beratungszentrum). „Allerdings stelle ich in meinen Beratungen mit Erstaunen fest, daß man die Abiturientinnen zwar ermutigt, auf Ingenieursschulen zu gehen, ihnen aber zweitrangige Schulen empfiehlt. Die Jungen dagegen werden mehr denn je ermutigt, den Einstieg in die Grandes Ecoles zu versuchen. Die Eltern sagen sich in einer spontanen Reaktion: Wozu soll man Mädchen einem so harten Wettbewerb aussetzen, wenn sie am Ziel doch nur die Arbeitslosigkeit erwartet und sie dann außerdem womöglich noch die Gelegenheit verpaßt haben, einen Mann zu finden? Wie Sie sehen, stellt sich erneut das Problem, Familienleben und Beruf miteinander in Einklang zu bringen, was schwieriger ist denn je, und es stellt sich doppelt scharf.“

dt. Sigrid Vagt

* Journalistin

Fußnoten: 1 Pierre Thuillier, „Les Passions du savoir“, Paris (Fayard) 1988. 2 „Vers la parité dans les instances de décision? La place des filles dans une filière de formation des cadres“. Dokumentation des Colloquiums am 10. Januar 1997, Demain la Parité, 36 rue de la Pompe, 75016 Paris. 3 Christian Baudelot, Roger Establet, „Allez les filles!“, Paris (Le Seuil) 1991. 4 Vgl. Marie Duru-Bellat, „Filles et garçons à l'école“, Revue française de pédagogie, Nr. 110, Januar 1995. 5 Eine Studie der Universität Göteborg, veröffentlicht in Nature, (London), 22. Mai 1997, kommt zu dem Ergebnis, daß eine Wissenschaftlerin zweieinhalbmal soviel arbeiten muß wie ein entsprechend qualifizierter männlicher Kollege, um eine Arbeitsstelle zu finden oder Forschungsgelder zu erhalten. 6 Catherine Marry hat zahlreiche Artikel über Ingenieurinnen veröffentlicht, insbesondere „Femme et ingénieur, la fin d'une incompatibilité?“, La Recherche, Nr. 241, 1992, und zusammen mit Michèle Ferrand und Françoise Imbert „Femmes et sciences, une équation improbable?“, Formation et Emploi, Nr. 55, 1996.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von INGRID CARLANDER