Simbabwe entläßt seine Kinder in die Ein-Drittel-Gesellschaft
Von unserer Korrespondentin VICTORIA BRITTAIN *
IN einem üppigen Tal grasen fette Kühe, auf weiten Feldern werden Tabak, Erbsen und Blumen für den Export angepflanzt. Oberhalb, auf den Hügeln, liegt einer der größten Agrarbetriebe von Simbabwe. Sein immenser Reichtum lenkt ab von den Stroh- und Plastikhütten von Porta Farm, einem armseligen Auffanglager für 2000 Menschen, die vor sechs Jahren nach einer von der Regierung durchgeführten „Säuberung“ der Hauptstadt in diese Gegend vertrieben wurden. Für alle diese Menschen wäre es das höchste Glück, für 16 Simbabwe-Dollar pro Tag (2,40 Mark) plus Unterkunft auf den Landgütern arbeiten zu dürfen, doch ist das noch keinem von ihnen gelungen. Von Zeit zu Zeit treffen im Lager Arbeiter ein, meist Illegale aus Mosambik und Malawi, die auf der Farm ihren Job verloren haben; sie nehmen den Platz derjenigen ein, die das Glück hatten, vom Landverteilungsprogramm der Regierung berücksichtigt zu werden.
Die übervölkerten und verelendeten ländlichen Regionen sind Brennpunkt der politischen, sozialen und ethnischen Krise. Mit der Herrschaft von Robert Mugabe neigt sich zugleich eine Ära ihrem Ende entgegen: Korruption und Inkompetenz haben die regierende Partei, die Zimbabwe African National Union/ Patriotic Front (ZANU/PF), diskreditiert. Die ausländischen Kreditgeber, insbesondere die Weltbank, sind über die Folgen der Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen zunehmend beunruhigt; die Mehrheit der Bevölkerung lebt heute unter schlechteren Bedingungen als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit. Die mit Hilfe ausländischer Investoren aus Südafrika und Asien initiierte wirtschaftliche Öffnung ist an ihre Grenzen gestoßen und hat eine regelrechte „Deindustrialisierung“ bewirkt.1
Am Ursprung des Krieges zwischen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit und dem von Ian Smith geführten Regime der weißen Siedler stand die Frage des Grundeigentums. In der Hoffnung auf ein eigenes Stück Land unterstützten Zehntausende Bauern die Guerilla oder beteiligten sich an ihrem Kampf, der 20000 Tote und unzählige Verletzte forderte. Auf der im Dezember 1979 abgeschlossenen Verfassungskonferenz im Londoner Lancaster House, die den Krieg beendete und den Weg in die Unabhängigkeit frei machte, setzte die britische Regierung eine Verfassung durch, die der weißen Minderheit für zehn Jahre das Eigentumsrecht an den Bodenschätzen sowie dem landwirtschaftlichen und industriellen Besitz sicherte.2
Wer hätte geglaubt, daß siebzehn Jahre nach der Unabhängigkeit die Wirtschaft des Landes noch immer von den weißen Landwirten beherrscht wird, die mit ihren 4000 Farmen über 60 Prozent der besten Böden verfügen? Wer hätte gedacht, daß ein einzelner von ihnen heute über eine Nutzfläche von 27000 Hektar gebietet? Auf diesen Farmen arbeiten 20 Prozent der Bevölkerung unter Bedingungen, die genauso hart sind wie jene, deretwegen die vorherige Generation den bewaffneten Kampf begonnen hatte.3 Die Konzentration der Reichtümer in den Händen der Großgrundbesitzer hat das Land auf ein Wachstumsmodell verpflichtet, das die Masse der Landbevölkerung ausschließt.
Die Weltbank hat zugegeben, daß zwei Drittel der Bevölkerung nicht in den Genuß der Möglichkeiten kommen, die mit dem Strukturanpassungsplan eröffnet wurden.4 Wenn die Regierung mit ihrer Bodenreform gescheitert ist, so unter anderem deshalb, weil ihr das nötige Geld fehlt, um Land aufzukaufen. Ursprünglich hatte sie zugesagt, Grund und Boden an eine Million Bauern zu verteilen, doch dann konnte sie nur 60000 mit eher minderwertigen Grundstücken versorgen.
Angesichts der Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat Präsident Robert Mugabe damit gedroht, die Großfarmer entschädigungslos zu enteignen. Der Ministerrat wiederum erwägt nach dem Vorbild Jamaikas eine starke Anhebung der Grundsteuer, damit die Bodenpreise sinken. Doch die Landwirtschaft ist mit einem vierzehnprozentigen Anteil am Außenhandel ein lebenswichtiger Wirtschaftsfaktor. Ein Dilemma, auf das im vergangenen April der seit 1980 amtierende weiße Landwirtschaftsminister Denis Norman mit seinem Rücktritt reagierte. Er sah sich gleichzeitig dem wachsenden Zorn der schwarzen Mehrheit und dem Druck seiner weißen Wählerschaft gegenüber, deren wirtschaftliche Macht – obschon sie sich auf nur 1 Prozent der Bevölkerung konzentriert – für 11 Millionen Bürger zum Alptraum geworden ist.
Im exklusiven Club von Harare im Zentrum der Hauptstadt kommen auf einen Schwarzen acht bis zehn Weiße. Hier scheint die Kolonialzeit, die in den weißen Rhodesiern zweifellos ihre verbohrtesten Repräsentanten hatte, noch nahezu intakt.
Doch über die Bodenreform hinaus gibt es ein viel gravierenderes Problem, vor dem die Regierung gerne die Augen verschließt: die Armut. In den ersten zehn Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialversorgung als modellhaft für ganz Afrika. Die Lebenserwartung stieg von 55 auf 60 Jahre; im Grundschulbereich wurde die Zahl der Schüler verdoppelt, im Gymnasialbereich verzehnfacht; die Impfrate bei Kindern stieg von 25 auf 80 Prozent; die Sterblichkeitsrate bei Säuglingen und entbindenden Müttern sank beträchtlich. Alle diese Fortschritte wurden erreicht, während weiterhin 25 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten.
Mittlerweile leben 62 Prozent der Bevölkerung unterhalb dieser Grenze. In den verfallenden Dörfern und in den Slums der Städte bieten die verwahrlosten Straßenkinder einen Anblick des Elends, den man nicht vergessen kann. Zwischen 1988 und 1994 stieg die Zahl unterernährter Kinder um ein Drittel auf 17 Prozent. Im gleichen Zeitraum verdoppelten sich die Fälle von Mangelernährung, von der heute 3 Prozent der Kinder betroffen sind.
Das Strukturanpassungsprogramm der Weltbank hatte verheerende Auswirkungen auf den Sozialhaushalt: Die Ausgaben im Gesundheitswesen wurden um 32 Prozent gekürzt; die Pro-Kopf-Ausgaben im Bildungswesen gingen für die Grundschulen um 32, für die Gymnasien um 34 Prozent zurück; die Einsparungen bei den landwirtschaftlichen Fördermitteln beliefen sich auf 26, bei den Sozialleistungen auf 32 Prozent.5 Nach Schätzung des Ministeriums für öffentliche Dienste und soziale Angelegenheiten besuchen von den sechs- bis siebzehnjährigen Kindern 19 Prozent auf dem Land (wo 32 Prozent der Lehrer unzureichend ausgebildet sind) und 11 Prozent in den Städten keine Schule, weil viele Familien die für die Einrichtung von Gebäuden und Bibliotheken erforderlichen Gebühren nicht aufbringen können.
Das Prinzip einer kostendeckenden Gesundheitsversorgung durch finanzielle Beteiligung der Leistungsempfänger, das von der Weltbank eingeführt und von den westlichen Geberländern begrüßt wurde, hatte nicht die erhoffte Wirkung. Gemäß „einer Logik, die katastrophale Folgen haben könnte“, vermeiden die Armen, wenn irgend möglich, die Inanspruchnahme medizinischer Hilfe.6 Die Auswirkungen sind schon jetzt so verheerend, daß die Unicef eine Rücknahme dieser „ungerechten und unsinnigen“ Maßnahme gefordert hat.
Gleichzeitig erlebt Simbabwe die momentan schwerste Aids-Epidemie des gesamten afrikanischen Kontinents. Militärs, Polizisten und Schulkinder über dreizehn Jahren sind bereits von der Blutspende ausgeschlossen. Man schätzt, daß eine Million Menschen, also ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung, HIV-positiv ist. Die an Aids Erkrankten belegen 70 Prozent der Krankenhausbetten. Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird die Ausbreitung der Epidemie dazu führen, daß das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 10 Prozent sinkt, die Rücklagen und die Investitionsmittel beschnitten werden, die familiären Belastungen für alle Erwachsenen steigen und die sozialen Errungenschaften der Frauen wieder zunichte werden, weil sie es sind, die sich um die Kranken kümmern.7
Der wachsende Druck, der auf der begrenzten Zahl von Beschäftigten im formellen Wirtschaftssektor lastet, hat in mehreren Bereichen zu massiven Streiks geführt, unter anderem im öffentlichen Dienst und bei Ärzten und medizinischem Personal. Die Drohung der Regierung, sie durch ausländische Arbeitskräfte zu ersetzen, führte dazu, daß Teile des Pflegepersonals ins Ausland und die Ärzte in den privaten Sektor abwanderten. Zugleich sind in den Städten zwischen 1980 und 1987 die Einkommen der Arbeiter um 75 Prozent gesunken. Nach Aussage von Morgan Tsvangirai, dem Generalseketär des Zimbabwe Congress of Trade Unions (dem Dachverband der Gewerkschaften), sind außerdem seit Beginn des Strukturanpassungsprogramms 1990 durch die Ausgabenkürzungen im öffentlichen und privaten Bereich 50000 Stellen weggefallen.
Weil den finanziellen Mitteln, die ins Bildungswesen fließen (22 Prozent des Staatsbudgets), keine entsprechenden Mittel in den Bereichen Landwirtschaft und Industrie entsprechen, drängen jährlich 300000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt, von denen die wenigsten eine Anstellung bekommen. Viele von ihnen landen auf den Straßen von Chitinguizhou, dem „Soweto“ von Harare: verbittert und enttäuscht, weil sie nicht die erhoffte Arbeit gefunden haben.
In der Exportwirtschaft – nach den Plänen der Weltbank die Grundlage für künftiges Wirtschaftswachstum – sind für Universitätsabgänger keine Arbeitsplätze entstanden. Die für Europa bestimmte Blumen- und Gemüseproduktion wird von billigen Arbeitskräften versorgt und geerntet, bei denen es sich meist um Emigranten aus Mosambik und Malawi handelt. Der Industriesektor hat unter dem langjährigen Embargo stark gelitten und ist auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig. So ist etwa die Textilindustrie der südafrikanischen Konkurrenz zum Opfer gefallen; ihre Produktion sank in den letzten zwei Jahren um 60 Prozent. Das Verhältnis zur ANC-Regierung ist gespannt. Pretoria weigert sich, ein Meistbegünstigungsabkommen mit Simbabwe zu unterzeichnen, obwohl das Land der größte Zulieferer für Südafrika ist (38 Prozent aller südafrikanischen Importe).8
Vor allem aber hat eine lange Reihe von Skandalen, durch die Freunde und die Familie des Präsidenten kompromittiert wurden, die Wirtschaft in Mißkredit gebracht. In jüngster Zeit wurden Projekte wie die Errichtung von Telefonzellen, der Ausbau des Flughafens von Harare oder der Bau eines Wärmekraftwerks auf völlig illegale Weise beschlossen; Beamte, die gegen diese Verfahrensweise Einspruch erhoben, wurden kurzerhand entlassen. Vor allem durch diese Korruption – und durch die Rhetorik der „Afrikanisierung“ – werden ausländische Investoren verschreckt.
Der märchenhafte Lebensstil der Elite hat zwar durchaus heftige Proteste gegen die ZANU/PF ausgelöst, doch das Einparteiensystem hat seine Autorität bislang unangefochten behauptet. Margaret Dongo, eine mutige junge Frau und ehemalige Guerillakämpferin, hat es dennoch gewagt, bei den letzten Parlamentswahlen als unabhängige Kandidatin anzutreten; es gelang ihr sogar, trotz Behinderung seitens der Behörden für ihren Wahlkreis, den Arbeiterbezirk der Hauptstadt, ins Parlament einzuziehen. Als Abgeordnete hat sie eine Reihe von Berichten über die allgemein verbreitete Korruption vorgelegt; kürzlich erst deckte sie die Zahlung von Kriegsversehrtenrenten an zahlreiche Politiker – unter ihnen auch amtierende Minister – auf, die für sich eine neunzigprozentige Schwerbeschädigung beansprucht hatten. Es kam zu einer Untersuchung, und die Zahlungen wurden eingestellt. Mehrere Gemeinderäte sind ihrem Beispiel gefolgt, haben dem örtlichen Parteiapparat der ZANU/PF auf bewundernswerte Weise die Stirn geboten und sich als unabhängige Kandidaten aufstellen lassen. Aber das politische Klima ist brisant, und viele fürchten um die Sicherheit von Margaret Dongo.
In den landwirtschaftlichen Gebieten, wo 70 Prozent der Bevölkerung zu Hause sind, gibt es ein reges politisches Leben. Rund 200 Theatergruppen präsentieren kleine Stücke in englischer oder Schona- Sprache – bevorzugt beißende Satiren über die staatlichen Verhältnisse. Vornehmlich in diesen Regionen sind Menschenrechtsorganisationen wie Zimrights und die sehr angesehene Katholische Kommission für Frieden und Gerechtigkeit (CCJP) aktiv. Sie organisieren Aufklärungsveranstaltungen für die Bevölkerung, zu denen sich an jedem Wochenende Hunderte begeisterter Menschen versammeln. Vereine und Kooperativen aller Art (Frauen, Ausländer, Eltern sowie religiöse Gruppen) sind ein fester Bestandteil im Leben der Menschen in der Stadt wie auf dem Land.
Organisationen, die in den fünfziger Jahren entstanden und dann von den Weißen unterdrückt wurden, erleben als Reaktion auf die Armut eine Renaissance. In den abgelegenen Regionen bieten sie Anlaufpunkte für die aus Harare abwandernden Menschenmassen. Führende Vertreter von Zimrights und CCJP – wie Margaret Dongo –, die sich insgeheim jahrelang mit so heiklen Angelegenheiten wie den Massakern der Armee im Matabeleland oder der Zwangsumsiedlung von Illegalen in Lager wie Porto Farm befaßt haben, werden mit Geldern internationaler Organisationen (wie der Soros-Stiftung) umworben. Noch kann man nicht sagen, ob die neuen Bündnispartner dieser wahrhaft demokratiebildenden Volksbewegung zum Schaden oder Nutzen gereichen werden.
Simbabwe ist ein Land voller Widersprüche. Vielleicht haben die letzten zehn Jahre die Zivilgesellschaft im Keim erstickt, doch die alten Werte, die schon den Befreiungskampf getragen haben, leben weiter. Die kommende Generation wird sie nicht vergessen.
dt. Christian Hansen
* Journalistin beim Londoner Guardian.