Die geplante Transparenz bleibt undurchsichtig
Von INGRID CARLBERG *
EIN Wind des Aufruhrs fegte über das Land. Die Staatskassen waren seit Jahren leer, das durch Kopfsteuer und Fronarbeit ausgebeutete Volk hatte jedes Vertrauen in seine Führung verloren, desgleichen in die willkürliche Bürokratie. Die Privilegien der Elite und ihre Geheimnistuerei brachten die Volksmassen auf. Die Lage spitzte sich zu, als sich herausstellte, daß die Führung des Landes hinterrücks mit ausländischen Mächten weitgehende außenpolitische Abmachungen getroffen hatte. Eine in einer Festung des Schweigens verschanzte Entente ...
So könnte die Kurzbeschreibung einer typischen Legitimitätskrise lauten, wie sie die europäischen Institutionen seit dem Maastricht-Vertrag von Ende 1991 durchlaufen. Doch die beschriebene Vertrauenskrise ereignete sich vor gut 200 Jahren, und zwar in Schweden. Sie endete 1764 im Riksdag (dem Parlament) mit einem Sieg der „Mützen“ (der Verfechter der Transparenz), über die Partei der „Hüte“. Nachdem die „Mützen“ die Macht übernommen hatten, ging Schweden als erstes Land der Welt von einer geheimen zu einer offenen Verwaltung über. Die entscheidende Errungenschaft war ein Auskunftsrecht der Bürger. 1766 machten die „Mützen“ die Pressefreiheit zum allgemeinen Verfassungsgrundsatz, akzeptierten das Prinzip der Transparenz und gewährten allen das Recht, öffentliche Dokumente einzusehen. Die jederzeit mögliche Beobachtung sollte dem Machtmißbrauch durch Staatsdiener und Politiker vorbeugen. Auch wollte man die Entscheidung darüber, welche Angelegenheiten dem Licht der Öffentlichkeit auszusetzen wären, keinesfalls allein den Behörden überlassen.
Zweihundert Jahre nach dieser Revolution der Transparenz sucht die EU heute nach Lösungen für ihre interne Vertrauenskrise. Auf der Regierungskonferenz von Dublin im Dezember 1996 ging es um den Vorschlag, in den künftigen Vertrag einen Artikel aufzunehmen, der jedem Unionsbürger ein Auskunftsrecht über Dokumente des Europäischen Parlaments, des Europarates und der Europäischen Kommission geben soll.
Der Vorschlag hatte mit dem Widerstand gegen Maastricht zu tun. Das erste Nein zur Ratifizierung des Einigungsvertrags, das mit dem dänischen Referendum vom Juni 1992 ausgesprochen wurde, und das nur knappe Ja der Franzosen im September desselben Jahres öffneten den Eurokraten die Augen. In den EU- Ländern gab es zahlreiche Bürger, die angesichts strikter Sparprogramme den Sinn mancher Unionsentscheidungen anzweifelten und deutlich machten, daß sie ihren Politikern keineswegs blindlings auf dem Weg zur engeren europäischen Integration folgen wollten.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, aus der 1993 die Europäische Union wurde, war vor allem eine Kooperation auf Regierungsebene, die auch in den Ländern, in denen das Prinzip der Transparenz vorherrscht, von großer diplomatischer Diskretion und Heimlichtuerei umgeben war. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 und dem Vertrag von Maastricht werden immer mehr Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene getroffen. In vielen Bereichen kann der Rat gesetzliche Bestimmungen mit qualifizierter Mehrheit beschließen, im Zweifel also auch gegen die Meinung eines Staates oder mehrerer Staaten. Fragen, die früher von den nationalen Parlamenten entschieden wurden, sind heute auf europäischer Ebene angesiedelt.
Diese Änderungen stellen die Länder, die der Transparenz verpflichtet sind, vor grundlegende Fragen: Das gesetzlich garantierte Informationsrecht der Bürger ist beträchtlich eingeschränkt, und die Möglichkeit demokratischer Kontrolle der sie betreffenden Entscheidungen ist ihnen genommen. Auf der Regierungskonferenz standen sich damit zwei sehr unterschiedliche Kulturen der öffentlichen Verwaltung gegenüber. João de Pinheiro, vormals europäischer Kommissar, hat sie so beschrieben: „In Europa gibt es zwei Tendenzen. Eine, nennen wir sie die napoleonische, hält möglichst viel geheim, bis auf das, was öffentlich wird. Die zweite macht alles öffentlich, bis auf einen ganz eng begrenzten Teil, der aus diversen Gründen geheim bleiben muß.“
Dänemark, die Niederlande, Finnland und Schweden pflegen in der Tat eine offene Verwaltungspraxis, während Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg eine Kerngruppe mit eher abgeschotteter Verwaltungstradition bilden. Diese Spaltung macht sich auch in der Vorbereitungsphase zu der Regierungskonferenz bemerkbar, die Ende dieses Monats in Den Haag stattfinden wird. Lediglich die gesetzgeberische Tätigkeit des Europäischen Parlaments unterliegt einer öffentlichen Kontrolle. Diese Transparenz ist allerdings von begrenzter Bedeutung, da das Parlament nur eine geringe Rolle spielt, abgesehen von wenigen Bereichen, in denen es ein Mitentscheidungsrecht ausübt. In der Kommission und im Rat sind hingegen Geheimhaltung, Vertraulichkeit und Diskretion die Regel.
Kein Rechtsanspruch auf Akteneinsicht
WENN immer Bürger der Europäischen Union versuchen, Unterlagen oder Vorarbeiten zu Entscheidungen der Kommission und des Rates einzusehen, sind sie vom guten Willen und der Laune der Beamten abhängig. Diese Undurchsichtigkeit wird verstärkt durch die Tatsache, daß zahlreiche bedeutende Entscheidungen von obskuren Beamtengremien getroffen werden, wobei die Institutionen nicht einmal in der Lage sind, deren Mitglieder bei Namen zu nennen.
Bislang wurde die Geheimhaltungspraxis innerhalb der EU noch nie ernsthaft in Frage gestellt. Es galt als ganz normal, daß die EU-Verwaltung die kontinentale Kultur einer reservierten Informationspolitik pflegte, die insbesondere der Verwaltungstradition Frankreichs entspringt, wo Beamte, die „nicht dichthalten“, sogar strafrechtlich belangt werden können – eine für Nordeuropäer völlig unmögliche Tatsache! Doch nach Maastricht sehen sich die EU-Regierungen unversehens in der Lage der schwedischen „Hüte“- Partei des 18. Jahrhunderts, denn nun hat sich das Zauberwort von der Transparenz in den Sprachschatz eingeschlichen. Im Zeichen dieses Begriffes könnte die Union sich das Vertrauen der EU-Bürger zurückholen und zugleich die Demokratie stärken.
Der Europäische Rat und die Kommission haben im Dezember 1993 bzw. Februar 1994 neue Transparenzregeln sowie „Verhaltensregeln“ erlassen, die einen möglichst breiten Zugang zu internen Unterlagen erlauben sollen. Außerdem plant der Rat, künftig die genauen Abstimmungsergebnisse bei Entscheidungen mit legislativer Wirkung publik zu machen. Außerdem stellte man häufigere Pressekonferenzen und mehr fachspezifische Grünbücher in Aussicht, um eine intensivere öffentliche Diskussion über vorgeschlagene Direktiven zu ermöglichen.
Eurokraten und führende Politiker aller EU-Länder haben uns also eine „Revolution der Transparenz“ angekündigt. Umsonst! Die Vertreter Schwedens und Finnlands sehen keine Fortschritte. Für sie kann von Transparenz keine Rede sein, solange die Institutionen selbst bestimmen dürfen, wo diese Transparenz anfängt und wo sie aufhört. In der Begründung ihrer Klage, mit der die schwedische Zeitung Journalisten den Rat wegen verweigerter Akteneinsicht vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gebracht hat, werden die Transparenzregeln als reine Fassade bezeichnet. Bestätigt wird diese These bereits durch die Erwiderung des Rates, der allen Ernstes argumentiert: „Weder die Entscheidungen und Verhaltensregeln noch die Erklärungen der Politiker bilden eine gesetzliche Grundlage, mittels derer eine Person den Rechtsanspruch auf Akteneinsicht geltend machen kann.“ Der britischen Tageszeitung The Guardian, die 1996 vor dem Gerichtshof abgewiesen wurde1 , war 1994 das gleiche Mißgeschick widerfahren.
Aus diesem Grunde sind Dänemark, die Niederlande, Schweden und Finnland bermüht, in dem Vertrag, der auf der Regierungskonferenz verabschiedet werden soll, eine Klausel einzufügen, die das Recht des Bürgers auf Zugang zu den Akten der europäischen Institutionen regelt. Es scheint, daß diese Länder die Klausel durchbringen können, doch sie bestehen darauf, daß es ebenso wichtig sei, die Modalitäten und Grenzen der Transparenz in einer regulären Verordnung festzuschreiben statt nur in neuen Verhaltensmaßregeln ohne zwingende Wirksamkeit.
Am Verhandlungstisch gibt es immer noch enorme Verständigungsprobleme zwischen den beiden Lagern; zumal dann, wenn Dänemark fordert, daß Ratssitzungen öffentlich zu sein haben, und wenn Schweden anregt, die EU möge seinem Beispiel folgen und ein Register anlegen, das sämtliche Dokumente – selbst die geheimen – enthält und allgemein zugänglich ist.2 Gespannt wird die Atmosphäre vor allem, wenn Stockholm vorschlägt, den in Schweden üblichen Grundsatz der Kommunikationsfreiheit auf die gesamte EU auszuweiten: Jeder schwedische Staatsbedienstete hat das Recht, Informationen weiterzugeben (auch geheime, sofern er sie für veröffentlichenswert hält), ohne daß eine Vorgesetzter auch nur versuchen dürfte, die interne Quelle zu ermitteln.
Die Gegner totaler Transparenz behaupten, diese würde die Effizienz beeinträchtigen: Vertraulichkeit verhindere blockierte Verhandlungssituationen, wie sie unweigerlich eintreten würden, wenn Minister und Beamte bei ihren Entscheidungen die Reaktion der Medien einkalkulieren müßten; Transparenz widerspreche außerdem den diplomatischen Regeln und Methoden. Diese Kritik übersieht freilich, daß der Rat weniger als internationaler Verhandlungsführer denn als supranationaler Gesetzgeber fungieren soll.
Die Vertreter des anderen Lagers fordern gerade mehr Transparenz, um den Entscheidungen mehr Wirksamkeit und Legitimierung zu verschaffen. Das Auskunftsrecht der Bürger gilt als hervorragendes Mittel, um mangelnde Effizienz, sachfremde Erwägungen, Irrtümer, Machtmißbrauch und Korruption zu bekämpfen. Daher wollen diese Länder sich nicht damit zufriedengeben, daß die EU-Institutionen mehr Broschüren unters Volk bringen und ein paar zusätzliche Pressekonferenzen organisieren. Magnus Isberg, der Vorsitzende des Rechtsausschusses des schwedischen Parlament, hat es so ausgedrückt: „Es bedarf keiner besonderen Kenntnis der menschlichen Natur, um zu begreifen, daß in Sachen demokratischer Kontrolle die interessantesten Informationen gerade die sind, die von den öffentlichen Dienststellen als letzte publik gemacht werden.“
dt. Margrethe Schmeer
* Journalistin bei Dagens Nyheter, Stockholm.