13.06.1997

Von Gleichgesinnt zu Gleichgesinnt

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Von Gleichgesinnt zu Gleichgesinnt

ZUGANG zu einem Computer mit Drucker besitzt heute fast jeder, Kopien kosten nur wenige Pfennige – es steht also allen Interessierten offen, eine eigene Zeitung herzustellen und zu vertreiben. In den USA gibt es bereits Tausende solcher Freizeitjournalisten, die ihre eigene Zeitung produzieren und sich auf diese Weise vom Einheitsdenken der großen Blätter abgrenzen. Als publizistische Kleinstunternehmungen richten sie sich ausschließlich an einen engen Kreis von Gleichgesinnten und arbeiten nicht kommerziell. Diese bunten Ränder der Presselandschaft sind von den Werbeagenturen nicht unentdeckt geblieben. Ständig auf der Suche nach neuen Ideen und Trends, finden sie hier witzige Einfälle und eine oft unpolitische, spaßorientierte Originalität, die sich ausgezeichnet übernehmen läßt, um einem Produkt das Image des Unkonventionellen anzuheften. Eine individuelle Rebellion gegen den Mainstream wird so zur Inspirationsquelle für den kommerziellen Medienmarkt.

Von MATHIEU O`NEIL *

Irgendwo in New York: Jeff Koyen ist gerade dabei, der vierten Nummer von Crank den letzten Schliff zu geben. Er ist sehr zufrieden, denn es ist ihm gelungen, ein Interview von Jim Goad, dem Herausgeber von Answer Me! zu bekommen. Dabei ging es um die Polizeiaktionen gegen Buchhändler aus Bellingham im Staat Washington, bei denen die umstrittene Zeitschrift auslag, und um die für Answer Me! so typische Misanthropie. Jim Goad erklärt: „Das Problem sind nicht die verrückten Killer, sondern das ewige Pharisäertum.“ Crank und Answer Me! sind hatezines, eine besonders aggressive Variante von zines – Publikationen mit idiosynkratischem Charakter, die aus Lust am Objekt produziert werden und normalerweise keine Anzeigen enthalten. Am Anfang waren die fanzines (fanatic magazines), die in den dreißiger Jahren aus der Korrespondenz unter den Lesern populärer Science-fiction-Hefte entstanden waren. Auch wenn die zines von heute ganz andere Themen behandeln, haben sie doch eine Reihe von Merkmalen mit ihren Vorgängern gemein: Das In-group-Denken, die Sprache der Eingeweihten, die Beschränkung auf private und postalische Verbreitung.

Die fanzines gelten vielen nur als Nebenprodukt der trash culture. Aber sie sind interessant: Vielleicht, weil in dieser unsichtbaren Literatur die Splitter einer Wirklichkeit verarbeitet werden, die in den Massenmedien nicht erscheint; vielleicht sogar, weil in diesen Publikationen Themen und Spannungen deutlich werden, die eigentlich die gesamte US-amerikanische Gesellschaft betreffen. Bereits der Umfang dieses Phänomens verblüfft: Man schätzt, daß es in den Vereinigten Staaten zwischen 20000 und 40000 zines gibt, nicht gerechnet die sogenannten e- zines, die elektronischen fanzines im Internet (siehe Kasten). Gewöhnlich wird dieser enorme Zuwachs mit der technischen Entwicklung begründet: mit der zunehmenden Verbreitung von Computern und Druckern, mit dem problemlosen Zugang zu Kopiergeräten und den geringen Post- und Telefongebühren.

Abweichende Meinungen und Randgruppenpositionen in gedruckter Form zu verbreiten hat in den Vereinigten Staaten allerdings Tradition. So entstand schon im 19. Jahrhundert eine Black Press sowie eine Feminist Press, und um die Jahrhundertwende die Socialist Press sowie die Anarchist Press. Aus jüngerer Zeit wären hier auch die Beat-Zeitschriften der fünfziger Jahre und die Underground-Presse der sechziger zu erwähnen. Ende der siebziger schließlich formuliert der Punk- Rock eine provokative Ablehnung des Mainstream, sprich: der Massenkultur. Die derzeitigen zines sind direkte Nachfahren der ersten Musik-fanzines aus der Punk-Szene (von denen einige immer noch existieren, etwa Maximumrocknroll und ihre Parole „Do it yourself“ (DIY).

Genauso wie am Ende des Vietnamkriegs die Front der Kriegsgegner – bestehend aus politischen Aktivisten, Hippies, Feministinnen und ethnischen Minderheiten – auseinanderfiel (weshalb viele in der Folgezeit allen Ideologien abschwörten und nur noch ein von den eigenen Interessen geleitetes Engagement als Politik akzeptierten), so war auch die Punk-Bewegung in den achtziger Jahren Schauplatz innerer Auseinandersetzungen, insbesondere ausgehend von den homosexuellen Punks. Sie befanden sich in zwiefacher Opposition und waren daher zwiefach isoliert – innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der noch überwiegend homophoben „Protestbewegung“. Die queers unter den Punks forderten das Recht auf ihre Eigenart und brachten als Folge der langen Unterdrückung ihre Differenz mit besonderer Heftigkeit zum Ausdruck. Die queerzines sind überhaupt ein typisches Beispiel für die in zines so häufig anzutreffenden Kombinationen ultraminoritärer Identitäten: In San Francisco, der Welthauptstadt der zines, wenn man so will, konnte man zwischen 1993 und 1996 Publikationen wie Raw Vulva (für radsportbegeisterte Lesben), Girljock (für „sportliche Lesben“), Fat Girl („für dicke Lesben und ihre Verehrerinnen“), Diseased Pariah News (für aidskranke Homosexuelle) und natürlich Outpunk beziehen.1

Man kann nach dem Sinn eines „Randgruppendenkens“ fragen, das in seinem obsessiven Abgrenzungsbestreben im Grunde nur das Denken der herrschenden liberalen (fortschrittlichen) Kreise der USA widerspiegelt: Denn diese Kreise versuchen kaum, die Mehrheit der Bevölkerung für die eigenen Vorstellungen zu gewinnen, sondern befassen sich in erster Linie damit, sich „alternative“ Nischen auszubauen, in denen man nicht mehr zur Auseinandersetzung mit den anderen gezwungen ist – diesen Idioten, die einfach zu dumm sind, den richtigen Weg zu erkennen.2 Die zutiefst narzißtische Energie hinter diesen Zeitschriften ist nicht zu übersehen. Mit der Produktion eines zine schlägt man eine Brücke ins Ungewisse und erhält möglicherweise – das höchste der Gefühle – die Bestätigung, daß ein anderer, der die gleichen Interessen und Eigenheiten besitzt, die Botschaft empfangen und dekodiert hat. Dabei fungieren Leserbriefe als Spiegel, der das eigene Bild zurückwirft: Briefe neuer Leser beginnen unweigerlich mit dem Satz: „Endlich eine Zeitschrift, die mich persönlich anspricht!“ Ein weiteres Produkt dieser extremen Selbstbezogenheit sind die oftmals handgeschriebenen personal zines, deren Verfasser detaillierte Berichte aus ihrem Alltag (Freunde, Reisen, Neigungen) mit philosophischen Erwägungen verknüpfen – ein frühes Vorbild dieses Genres ist die Zeitschrift Cometbus.

Vom skurrilen Charme des Klein, aber Mein

IN den zines spiegelt sich also ein grundlegender Wandel: Sie zeigen an, daß die übergeordneten Bezugssysteme (Nation, Partei, Konfession) gegenüber jenen Orientierungen an Boden verlieren, die Michel Maffesoli „untergründige Bedeutungszentren“ nennt.3 Diese geschlossenen und geheimen Welten treten hier als eigenständiger, paralleler Kommunikationszusammenhang auf, der mit anderen, ähnlichen Netzwerken (wie der mail art) Verbindung sucht. Man könnte auch von einem vertraulichen Markt sprechen, auf dem ein äußerst exklusiver symbolischer Wert gehandelt wird – der der Randexistenz oder coolness. Da gemeinsame Initiativen nur noch akzeptiert werden, wenn sie einen antiautoritären Zuschnitt mit anarchistischer Tendenz unter Einschluß feministischer und ökologischer Aspekte aufweisen, gewinnen Bestandsverzeichnisse und Referenzkataloge große Bedeutung. Das Paradebeispiel ist Factsheet 5 („the zine of zines“) – diese Zeitschrift bietet pro Ausgabe knapp 1200 Rezensionen anderer zines, geordnet nach Inhalten (Sex, Punk, Queer, Science-fiction, B-movies ...).

Lassen sich jenseits dieser Vielfalt ideologische Grundzüge der Debatten in den zines ausmachen? In den bewegten sechziger Jahren verband sich eine hedonistische Haltung mit gesellschaftlichen Idealen und der Bereitschaft, auch im Alltag „Experimente“ zu wagen, zu jenem Phänomen, für das Theodore Roszak den Begriff der „Gegenkultur“ geprägt hat. In dieser Vorstellung vom Verhältnis zwischen dem Zentrum und den Rändern der Gesellschaft käme der Avantgarde und dem Underground die Rolle eines „Ideenlabors“ zu – wobei ständig die Gefahr besteht, daß die Resultate der experimentellen und schöpferischen Anstrengung von den herrschenden Kräften des Mainstream vereinnahmt und kommerziell ausgeschlachtet werden. Gegen die starre und repressive Haltung des Establishments entwickelten diese randständigen Denkweisen die Ideale vom selbstbestimmten Leben und unbegrenzter persönlicher Freiheit.

Die typische Identifikationsfigur des heutigen Neo-Underground trägt die gleichen Züge wie die der Gegenkultur der sechziger Jahre: Ein Held von existentialistischem Zuschnitt, der, in der Tradition der Beatniks, das Land auf der Suche nach starken Erfahrungen – kicks – durchstreift. Diese Figur, die man in der Welt der zines etwa in Aaron Cometbus oder Dishwasher Pete antrifft4 , ist längst hoffähig geworden, sie ist öffentlich akzeptiert und paßt ins Bild einer Werbung, die nur noch auf rasche Befriedigung, Tabuverletzung, Leben nach eigenem Gutdünken und permanente Sucht nach Neuem fixiert ist (und somit jede Tradition als Last über Bord werfen muß). Das Ideal der Gegenkultur wird konsumierbar gemacht, Waren werden mit Rebellion identifiziert. Daß der strenge puritanische Ton von einst in den Massenmedien nicht mehr angeschlagen wird, könnte allerdings zum Teil auch damit zu tun haben, daß jene Generation, die in den sechziger Jahren das Ideal der Gegenkultur geschaffen hat, inzwischen führende Positionen in der Industrie und den Medien einnimmt.

Die Ablehnung herrschender Wertvorstellungen vollzieht sich vor diesem Hintergrund. Typisches Beispiel für die Techniken des parasitären Verhaltens oder der Wiederverwertung, die von den zines propagiert und zur Kunst des „authentischen“ Lebens erhoben werden, ist das Einkaufen in den thrift stores – riesige Lager, wie sie früher oft von der Heilsarmee eingerichtet wurden. Die thrift stores spiegeln seitenverkehrt den Überfluß der Warenwelt: Tausend versunkene Schätze sind dort zu heben, durchweg neue, aber schon wieder aus der Mode gekommene Produkte aus den Einkaufszentren. Thrift Score, eine Zeitschrift, in der es nur um die Kunst des thrifting geht, hat großen Erfolg. Man kann diese leicht parodistische Abart des Shopping sicher als Ausdruck einer Lust daran verstehen, alles was man braucht oder haben will im Abfall finden zu können. Aber diese Form der Abgrenzung, die auch von der Fähigkeit abhängt, bestimmte „angesagte“ Methoden und Objekte zu (er)kennen, ist zugleich ein ernsthafter Versuch, das ganze System von Mehrwert und Profit zu umgehen – ob man nun versucht, möglichst wenig Eintritt bei einer Konzertveranstaltung zu zahlen oder sich auf das Tauschen von zines verlegt. Letztlich will man der Standardisierung kultureller Erzeugnisse menschliche Individualität entgegensetzen und mit den handgetippten und fotokopierten zines gegen die Hochglanz- Magazine antreten.

Das Aufkommen elektronischer zines hat für einigen Wirbel in dieser Szene gesorgt. Zwar bestehen durchaus strukturelle Ähnlichkeiten zur Welt des Internet – das schließlich auch die Kommunikation zwischen einzelnen Menschen unter Ausschluß professioneller Medienmacher erlaubt – aber die Meinungen über die Vorteile der „Datenautobahn“ gehen deutlich auseinander: Bei den Herausgebern von zines, die sich dem medienfeindlichen „Authentizitäts“-Ideal des Neo-Underground verpflichtet fühlen, überwiegt die Ablehnung.

Gerade die Uneindeutigkeit macht jedoch den seltsamen Reiz dieser Publikationen aus. Die zines treten als entschiedene Gegner der herrschenden Kultur auf, aber zugleich verfechten sie so uramerikanische Prinzipen wie den Rückzug auf die eigene Persönlichkeit, die Abkehr vom Staat und die Selbstgenügsamkeit. Bietet das Randgruppenbewußtsein, das nach Todd Gitlin durch diese Antihaltung par excellence gestiftet wird und für das die zines nur eine Art halluzinatorischer Flucht in die Avantgarde bedeuten, nicht ein enormes politisches Terrain für rechte republikanische Identitätsbilder, wie sie Pat Buchanan vertritt? Mit anderen Worten: Es könnte sich um einen „Widerstand“ handeln, der letztlich den Herrschenden in die Hände spielt. Die inneren Widersprüche dieser Publikationsform machen exemplarisch deutlich, wie schwierig es innerhalb der US-amerikanischen Kultur ist, sich „dissidentisch“ vom kulturellen Hegemoniemodell zu verabschieden und ein politisches Denken zu entwickeln, das die Mikrokosmen der Gesinnungsgemeinschaften hinter sich läßt.

dt. Edgar Peinelt

* Forscher

Fußnoten: 1 Der Versuch, sich in ganz persönlichen Formen auszudrücken, ist nicht nur ein Zeichen von Protest und Militanz, er hat auch etwas Spielerisches. Die Herausgeber von zines wie Murder Can Be Fun, Temp Slave oder Pills-A-Go-Go fordern nichts weiter als das Recht, ihr Interesse für bizarre Zeitungsmeldungen, die Zeitarbeit oder Medikamente öffentlich kundzutun. 2 Siehe dazu Christopher Lasch, „Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung“, Hamburg (Hoffmann & Campe) 1995. Siehe auch die Beiträge von Todd Gitlin und Eric Alterman in „Le nouveau modèle américain“, Manière de voir, Nr. 31, August 1996. 3 Siehe Michel Maffesoli, „La fin de l'idéal démocratique“, Le Monde, 28. Januar 1995. Von Michel Maffesoli ist auf deutsch erschienen: „Der Schatten des Dionysos“, Hamburg (Syndikat) 1986. 4 Dishwasher Pete reist ständig in den USA umher, mit dem Ziel, in jedem der Bundesstaaten einmal als Tellerwäscher gearbeitet zu haben.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von MATHIEU O`NEIL