13.06.1997

„Leid, Schweiß und Tränen“

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„Leid, Schweiß und Tränen“

Von EDITH LHOMEL *

WELCHEN ökonomischen Handlungsspielraum hat die neue rumänische Regierung? Und wie kann sie der Volkswirtschaft des Landes eine finanzielle und monetäre Gesundheit verschaffen, die für die Zukunft ein stabiles Wachstum garantiert?

Die Wachstumsraten der beiden vergangenen Jahre – 6,9 bzw. 4,1 Prozent – wurden durch die Importe künstlich erhöht und mit einem wachsenden Defizit der Handelsbilanz erkauft (1,7 Milliarden Dollar in 1995 und 1,3 Milliarden in 1996). Überdies versackte die makroökonomische Stabilisierung – die von der Vorgängerregierung mühsam genug zustande gebracht worden war – in den Turbulenzen des Wahlkampfs. Das hatte zur Folge, daß bis 1996 die Inflationsrate auf fast 60 Prozent kletterte. Und was das Haushaltsdefizit betrifft, das eigentlich auf rund 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschränkt bleiben sollte, so belaufen sich die jüngsten Schätzungen der Weltbank wieder auf 13 Prozent. Dieses Defizit rührt vor allem von den Finanzspritzen für jene industriellen Saurier, deren Umstrukturierung ständig hinausgeschoben wurde.

Premierminister Victor Ciorbea, ein alter Gewerkschafter, schätzt den Zeitraum der Bewährungsprobe für seine Regierung auf zweihundert Tage. Am 17. Februar dieses Jahres stellte er in seiner unverblümten und ernstgestimmten Erklärung sein Wirtschaftsprogramm vor. Auf der Pressekonferenz erschien er in Begleitung von Vertretern der Europäischen Union und der Weltbank, die dem Wahlsieger offensichtlich wohlgesonnen waren.

Doch die Verhandlungen mit EU und Weltbank verliefen keineswegs problemlos. Und da die Forderungen des IWF immer schwer einzuhalten sind, präsentierte Ciorbea sich als Chef einer Regierung, die zu allen Opfern bereit ist: „Es ist höchste Zeit, daß jeder an Rumänien denkt wie an sein eigenes Haus. Es wird eine radikale Reform sein, und meine Regierung ist bereit, die Konsequenzen zu tragen, die aus den unpopulären Maßnahmen erwachsen.“

Mit seiner offenen Ankündigung der erheblichen Zumutungen, die auf die Bevölkerung zukommen, verließ sich der Premierminister ganz auf den Vertrauensvorschuß, den er bei einer Wählerschaft genießt, die nach Jahrzehnten politischer Phrasen ein Ohr für ehrliche Worte hat. In diesem Sinne hat er für 1997 nichts als „Leid, Schweiß und Tränen“ versprochen. Die Regierung hat sich verpflichtet, das Haushaltsdefizit zu bekämpfen, die rumänische Währung zu stabilisieren, die seit über einem Jahr blockierte Freigabe der Verbraucherpreise voranzutreiben und das Handelsdefizit abzubauen. Bei der Durchführung dieses Programms hofft sie allerdings auf internationale Finanzhilfen. Für 1997 ist mit zwei Milliarden Dollar zu rechnen, hinzu kommen noch drei Milliarden Dollar Anleihen auf internationalen Finanzmärkten, die der Rumänischen Nationalbank im Januar bewilligt wurden.

Die Maßnahmen der Regierung bewirkten eine rund siebzigprozentige Abwertung des Leu innerhalb von nicht einmal zwei Monaten, einen erheblichen Anstieg der Energiepreise (Strom und Benzin) sowie der Preise für Transport- und Telekommunikationsleistungen (zwischen 50 und 500 Prozent), die in einer Art Schneeballeffekt – der nicht in allen Fällen gerechtfertigt war – die Grundnahrungsmittelpreise mitgezogen haben (Brot, Fleisch, Milchprodukte, Gemüse). Nach einem Jahr der Opfer, in dem das Wachstum zwischen minus 1 und plus 2 Prozent liegen soll, würde die Ökonomie ab 1998 – auf der erhofften Grundlage – eine Wachstumsrate von 4 bis 5 Prozent erreichen.

Diese monetäre und finanzielle Gesundung muß allerdings durch wirksame Strukturreformen flankiert werden, und das heißt vor allem durch die Umstrukturierung und Privatisierung der großenteils überalterten Industrieanlagen. Diese Reform aber ist die Regierung von Nicolae Vacaroiu bisher noch nicht angegangen1 , weil sie befürchten mußte, einen entscheidenden Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren, nämlich die Arbeiter der Großkombinate sowie die – häufig korrumpierte und mit der Regierungspartei verquickte – Bürokratie.

Angesichts des Anteils von 52 Prozent, den der private Wirtschaftssektor am Bruttosozialprodukt erbringt, kann man kaum behaupten, sämtliche zwischen 1992 und 1996 vorgenommenen Privatisierungen seien reine Augenwischerei gewesen. Das schließt aber nicht aus, daß sie vielleicht nur durchgeführt wurden, weil einige Privatisierungsprogramme den alten Funktionären die Chance boten, nach dem Vorbild ihrer ungarischen, polnischen oder auch bulgarischen Kollegen den eigenen Sessel ins neue System hinüberzuretten.

Nun ist es allerdings eine Tatsache, daß der Privatsektor im Bereich der Industrie wie auch der Landwirtschaft mit einer widerwilligen Bürokratie zusammenstieß, die sich zäh an ihre Machtbefugnisse und Zuständigkeiten klammerte. Und auch auf der Ebene der Justiz und der Banken herrschte keineswegs ein Klima, das den weiteren Ausbau der privaten Wirtschaft stimuliert hätte. So gesehen bleibt der Handlungsspielraum der Regierung beschränkt: Trotz ihres unbezweifelbaren Willens, die Privatisierung der Wirtschaft zu beschleunigen, sind die Umsetzungsschritte eher bescheiden geblieben.

Durch die Entscheidung, das Haushaltsdefizit mit nichtinflationären Mitteln auszugleichen, wurde die Rumänische Nationalbank im Januar 1997 gezwungen, die Zinssätze auf 100 Prozent anzuheben, mit dem Ziel, sie bis August 1997 auf 60 Prozent herunterzubringen. Genau hier liegt die Herausforderung: Wenn zum Beispiel in der Landwirtschaft die kostspielige Subventionierung der früheren Staatsgüter – die 1991/92 in gewinnorientierte Gesellschaften mit hundertprozentigem Staatskapital umgewandelt wurden – nicht mehr fortgesetzt wird, so müßte diese Entscheidung begleitet werden von einer gezielten Kreditvergabepolitik zugunsten der Kleinbetriebe. Dadurch würden die Privatbauern in die Lage versetzt, über die bisherige Subsistenzwirtschaft hinauszukommen. Doch wird dieses Problem kaum gesehen – ganz abgesehen davon, daß die Regierung beschlossen hat, die Einfuhrsteuern für Agrarprodukte erheblich zu senken, was dazu führen muß, daß die Landwirte sich der direkten Konkurrenz durch importierte Lebensmittel ausgesetzt sehen.

Im Bereich der Industrie rechnet die neue Staatsführung mit dem polnischen Phänomen, das heißt einem rapiden Anwachsen des privaten Sektors durch die Privatisierung von kleinen und mittleren Unternehmen und die Förderung von Unternehmensgründungen. Diese Verlagerung der Wirtschaftsdynamik würde Arbeitsplätze schaffen, was wiederum den sozial riskanten Schritt erlauben würde, die unrentabelsten der Großbetriebe zu schließen.

Die Schließung mehrerer Bergbauunternehmen wurde bereits angekündigt, aber bei einem Besuch in den Bergarbeitersiedlungen im Jiu-Tal hat der zuständige Minister in diesem Frühjahr wiederum zugestanden, eine Betriebsstillegung werde erst nach der Schaffung neuer Arbeitsplätze erfolgen. Der Preisanstieg für Energie dürfte in den energieintensiven Branchen – wie Chemie und Metallverarbeitung – für etliche Betriebe das Todesurteil bedeuten, es sei denn, daß die Politik dies noch einmal verhindert.

Ungeachtet all dieser Probleme erlauben die Entwicklungen des ersten Jahresdrittels 1997 einen gewissen Optimismus. Der öffentliche Fonds für Staatseigentum meldete im April, daß sich seit Jahresbeginn 447 Handelsgesellschaften im Prozeß der Privatisierung befinden (411 kleine, 36 mittlere und 8 große Unternehmen). Noch vor einem Jahr wurde dieser für die Privatisierung zuständigen Institution vorgeworfen, die maroden Schwerindustriebetriebe retten zu wollen, und tatsächlich hatten sich im ersten Jahresdrittel 1996 nur 111 Betriebe in der Privatisierungsphase befunden. Auch heute geht es mit der Privatisierung, insbesondere der Großunternehmen, noch immer ziemlich schleppend voran.

Doch der Staat dringt auf ein beschleunigtes Tempo, wobei es ihm vor allem darum geht, möglichst schnell seine finanziellen Verpflichtungen loszuwerden. Eine Umstrukturierung vor der Privatisierung zieht er deshalb nicht in Betracht, die überläßt er lieber den Vertretern der Wirtschaft, auf die auch die Aufgabe zukommen wird, die Entlassungen auszusprechen. Entsprechend ist bereits ein beträchtlicher und rascher Anstieg der Arbeitslosenziffern vorauszusehen, die 1996 lediglich 6,5 Prozent der aktiven Bevölkerung betragen hatte.

Eine entscheidende Rolle weist das neue Regierungsprogramm auch den ausländischen Investoren zu. Diese wurden von Präsident Constantinescu bei seinen Reise durch die wichtigsten westlichen Länder aufgefordert, „das Vertrauenskapital, welches man den Urhebern der historischen politischen Wende einräumt“, in „Finanzkapital“ umzuwandeln. Nach sieben Jahren einer wirtschaftlichen Liberalisierung, die auf halbem Wege steckengeblieben ist, haben die ausländischen Investitionen noch keine zwei Milliarden Dollar erreicht. Doch angesichts der seit Januar 1996 merklich zunehmenden Kapitalinvestitionen scheint dieses – nach Polen – bevölkerungsreichste osteuropäische Land neuerdings für ausländische Unternehmen doch interessanter zu werden.

Neben dem Vertrauenskapital ist die satte Parlamentsmehrheit der wichtigste Trumpf der Regierungskoalition für die Annahme dieses Reformprogramms, auf das sie alles setzt.2 Die Partei des abgelösten Präsidenten Iliescu stellt zwar noch eine stattliche Zahl von Abgeordneten, doch ihr Ruf hat beim Volk so stark gelitten, daß sie in nächster Zeit kein ernstliches Hindernis darstellen dürfte.

Nach Überwindung der alten Politik, die darauf abgezielt hatte, „alles zu retten, was an Personen und Strukturen des alten Regimes zu retten war“ (wie der neue Präsident Constantinescu die Haltung der alten Regierung charakterisiert hat), muß die neue Führungsriege jetzt beweisen, daß sie das Handwerk des Regierens versteht. Dafür reicht mittelfristig weder der – durchaus notwendige – Feldzug gegen die Korruption aus noch die in breiten Kreisen gehegte Hoffnung, in die EU und die Nato aufgenommen zu werden. Die rumänische Bevölkerung, das bestätigen alle Umfragen, hat für eine Wende und einen größeren gesellschaftlichen Wohlstand gestimmt.

dt. Eveline Passet

* Centre d‘études et de documentation sur l‘ex-URSS, la Chine et l‘Europe de l‘Est (Ceducee), La Documentation française.

Fußnoten: 1 Siehe Edith Lhomel, „Roumanie: le poids des résistances“, in: dies. (Hrsg.), „Transitions économiques à l'Est (1989-1995)“, Paris (La Documentation française) 1995. 2 Siehe „Roumanie: le renouveau politique“, in „L'Europe centrale et orientale“, Paris (La Documentation française) 1997.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von EDITH LHOMEL