11.07.1997

Die vielen Gesichter des Islam in der Türkei

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Die vielen Gesichter des Islam in der Türkei

DER Rücktritt von Ministerpräsident Necmettin Erbakan leitet eine Periode der Ungewißheiten ein. Die islamische Refah-Partei mobilisiert noch immer Millionen Wähler, und der unfähigen politischen Klasse gelingt es nicht, ein Zukunftsprojekt für das Land zu entwickeln. Als einziger Ausweg erscheint eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft.

Von WENDY KRISTIANASEN *

Ein Jahr lang, bis zum 18. Juni 1997, als Ministerpräsident Necmettin Erbakan zurücktrat, besaßen Islamisten bestimmenden Einfluß in der Regierung der Türkei. Wer sind diese türkischen Islamisten? Wie in allen Staaten der Region rekrutiert sich ihre Wählerschaft aus den konservativen und religiös orientierten Schichten, die unter derselben Verelendung leiden, die man auch in Kairo oder Gaza findet. Millionen haben ihre Heimatorte verlassen, um schließlich wurzellos in den Slumvierteln der großen Städte zu stranden – in Istanbul, Izmir, Ankara, Adana, Bursa oder Mersin. Und wie in anderen Ländern auch finden die Islamisten nicht wenige Anhänger unter den Mitgliedern der freien Berufe, unter Ingenieuren, leitenden Angestellten, Geschäftsleuten, aber auch bei Sozialarbeitern und Lehrern. Ihre Politiker, deren Aufstieg viel mit dem Zerfall der Linken in der gesamten Region zu tun hat, erweisen sich als tatkräftig und gebildet, und sie haben während ihrer Regierungszeit den Versuchungen der Korruption widerstanden.

Hier enden die Ähnlichkeiten zwischen den türkischen Islamisten und den Bewegungen im Nahen Osten. Denn die türkische Republik ist geprägt vom Prinzip des Laizismus, das seit Kemal Atatürk gilt, und eine Rückkehr zum religiösen Recht der Scharia kommt nicht in Frage. Die religiösen Stiftungen (vakiflar) sind säkularisiert, den Männern (und bei bestimmten Anlässen auch den Frauen) ist das Tragen islamischer Kleidung untersagt. Auch die Sufi-Sekten (tarikat) bleiben verboten, wobei sie ihre Aktivitäten unter der Hand fortsetzen.

Die auffälligsten Besonderheiten der Türkei sind jedoch einerseits ihr politischer Pluralismus (und das Vordringen der Islamisten in dieses System) und andererseits der starke Einfluß der westlichen Kultur (der auch das Denken islamistischer Intellektueller beeinflußt hat). Auf diese Weise ist eine Art Islamismus alla turca entstanden, eine friedliche Variante, die sich zwar gegen die laizistischen Aspekte des Kemalismus wendet, aber die Idee des Nationalstaats nicht in Frage stellt.

Ihre Wähler findet die islamistische Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) vorwiegend in Zentral- und Ostanatolien, in den großen Städten und schließlich auch im kurdischen Südosten des Landes. Sie ist nicht die einzige Kraft, die das islamische Wählerpotential ausschöpft, obwohl sie aus den letzten Parlamentswahlen, im Dezember 1995, als Siegerin hervorging.1 Damals profitierte sie davon, daß die Mutterlandspartei (Anavatan Partisi) Stimmen verlor, nachdem Mesut Yilmaz, der dem säkularen Flügel der Anap zuzurechnen ist, die Stelle des ehemaligen Staatspräsidenten Turgut Özal an der Spitze der Partei eingenommen hatte.2

Auch bei den sufischen Bruderschaften ist die Stellung der Refah nicht unangefochten: Die Nakschibendi, die einzige Bruderschaft, die offen politisch agiert, ist in der Frage uneins – ein Teil unterstützt die RP, ein anderer die Anap.3 Bei den Nurcu4 dagegen finden sich viele Anhänger von Tansu Çillers Partei des Rechten Weges (DYP), die gemeinsam mit der RP bis vor kurzem die Regierung gestellt hat. In den Reihen beider Mitte-Rechts-Parteien gibt es eine Reihe islamischer Würdenträger, einige sitzen sogar für die DYP im Parlament.

Turgut Özals größte Leistung bestand in seinem Bemühen, den „sozialen Zusammenhalt“ zu festigen und die „Ausgegrenzten“, insbesondere die Islamisten, wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Tatsächlich verdankt die islamische Bewegung ihre Erfolge weniger einem erhöhten Interesse an der Religion als vielmehr den ungeheuren Vermögensunterschieden zwischen den „Bauern“ in Anatolien – diese verallgemeinernde Bezeichnung ist in der Oberschicht von Istanbul gängig – und den Türken in den Metropolen. Unter Özals Präsidentschaft begannen die konservativen „Bauern“ sich zu bereichern, und zugleich entstand eine islamische Bewegung, die sich volksnah und dynamisch zeigte und ganz offen auftrat.

Tatsächlich war es die Armee, die dafür die Voraussetzungen geschaffen hatte. In ihrem Eifer, die Linke zu bekämpfen, schien es den Militärs nach ihrem Staatsstreich von 1980 angebracht, Necmettin Erbakans Partei des nationalen Heils (MSP, die Vorläuferorganisation der Wohlfahrtspartei) zu unterstützen. Sie machten den Religionsunterricht an den Schulen zum Pflichtfach, gründeten besondere Koranschulen und bereiteten dadurch den Boden, auf dem die Saat der Islamisten aufgehen konnte. Die Armee ging noch weiter: Sie schrieb sich eine „türkisch-islamische“ Ideologie auf die Fahnen, in der Hoffnung, damit die „revolutionären“ Aspekte des Kemalismus neutralisieren zu können. Auf diese Weise wollte man die konservativen Kräfte der Gesellschaft – unter Türken wie Kurden – gewinnen und dem Erstarken des kurdischen Nationalismus vorbeugen. Also war man eifrig bemüht, Mitglieder der islamischen Bewegung mit Funktionen bei den Sicherheitskräften und in anderen Bereichen des Staatsapparats zu versehen – im Gegenzug sollten sie ihre Untergrundaktivitäten einstellen. Die gleiche Taktik galt für die Neofaschisten, allerdings hatten Mitglieder der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) des jüngst verstorbenen Alparslan Türkeș und ihrer Miliz, der „Grauen Wölfe“, längst ihren Platz in der staatlichen Verwaltung gefunden.5

Nachdem er 1983 Ministerpräsident geworden war, verstärkte Turgut Özal diesen Trend, indem er Vertreter der Islamisten auch in seine Partei, die Anap, aufnahm, ihnen zunehmenden Einfluß im Innenministerium und im Bildungsministerium zugestand6 und die Religion öffentlich zu einem wichtigen Bestandteil der nationalen Identität erklärte. Dank Özals liberaler Politik und seinem Programm der wirtschaftlichen „Öffnung“ war es den Islamisten möglich, eine „zweite Gesellschaft“ zu gründen, deren Strukturen für die anatolischen Zuwanderer in den großen Städten sehr hilfreich waren: Das gilt für die Bewohner der gecekondu (der Vorstädte) ebenso wie für Mitglieder der freien Berufe, für Geschäftsleute wie für Intellektuelle.

Durch die Deregulierung im Telekommunikationsbereich konnten sich die Islamisten auch mit Hilfe von Fernsehsendern (wie dem überregionalen Channel 7) und Presseverlagen (etwa Sabah) etablieren. Und der einflußreichen Gewerkschaft Hak-Iș, die halboffizielle Verbindungen zu den Islamisten unterhielt, gelang es sogar, die linke Gewerkschaft Disk zu überrunden.

Das Imperium von Fethullah Gülen

WEIL der Unternehmerverband Tüsiad den Großstädtern vorbehalten blieb, gründeten die „zentralasiatischen Tiger“ ihren eigenen Verband, Müsiad (Müstakil Iș Adamlari Dernegi, Vereinigung unabhängiger Geschäftsleute). Die Laizisten hegen allerdings den Verdacht, daß das M der Abkürzung nicht für „unabhängig“ (müstakil) sondern für „muslimisch“ steht: Tatsächlich ist bei den offiziellen Zusammenkünften kein Alkohol erlaubt, und alle religiösen Feste werden gefeiert. Nach Ansicht von Taha Akyol, einem angesehenen Intellektuellen, der die Özal-Linie vertritt, verdächtigt die Armee diese Vereinigung, eine wirtschaftliche Machtübernahme vorzubereiten, allerdings „vertreten in Wahrheit beide Verbände die gleichen wirtschaftspolitischen Grundsätze: Stabilität der Regierung, Beitritt zur Europäischen Union und Westorientierung der Türkei. Ein Unternehmer in Konya will an den Westen wie an den Osten verkaufen, nicht an die Islamisten!“ Hier schlägt der Geschäftssinn eine Brücke zwischen Islamisten und Laizisten.

Die „anatolischen Tiger“ haben Fethullah Gülen berühmt gemacht. Gülen, dem Führer der wichtigsten Untergruppe der Nurcu-Sekte, ist gelungen, woran Turgut Özal wie der Geschäftsmann Cem Boyner (die Hoffnung der Linken) gescheitert sind: Er ist die Stimme der Kapitalisten aus der Provinz – und bekommt dafür ihr Geld, um sich sein kleines Imperium aufzubauen. Angetreten als Alternative zum Müsiad und zur Refah, fand er das Vertrauen der konservativen Geschäftsleute in Städten wie Denizli, Antep, Bursa, Kocaeli oder Maraș. Diese reichen Anatolier sind sittenstreng, national gesinnt, konservativ und fleißig. Sie führen Familienunternehmen, die mit modernsten Produktionsmethoden arbeiten, aber sie haben keine Beziehungen in der Politik und in Finanzkreisen.

Fethullah Gülens Erfolg beruht auf zwei Grundsätzen: Elitedenken und Geld. Die Sekte besitzt eine eigene Stiftung (vakif), deren Gelder dazu gedient haben, Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen und Unternehmen zu schaffen – von der Türkei bis nach Zentralasien. In Albanien war die Sekte tätig, noch bevor die Türkei diplomatische Beziehungen zu diesem Land aufgenommen hatte. Seine Schulen – 50 in der Türkei, mehr als 200 im Ausland – haben sich einen ausgezeichneten Ruf erworben. Und er verfügt über Medienmacht: Neben der Tageszeitung Zaman gibt es auch einen Fernsehkanal, Videos, Kassetten, Bücher, Zeitschriften ...

Der frühere Prediger, ein Mann um die sechzig, will nicht als Islamist gelten. Er sieht sich als frommen Muslim und Gegner des politischen Islam, der die vollständige Einbindung des Islam in das politische, wirtschaftliche und soziale System des Landes wünscht. Vom Balkan bis nach China sollen sich nach türkischem Vorbild neue Eliten bilden. Ein kleines osmanisches Reich also, in dem die Türken eine vorherrschende Rolle spielen und in dem Angehörige verschiedener Religionen miteinander leben. Würde Fethullah Gülen dann der neue Sultan? Die Frage bleibt offen, aber ein kluger Beobachter hat dazu festgestellt, Gülen sei „nicht vollkommen unschuldig“. Er arbeitet an einem Parallelnetzwerk, das im geeigneten Moment die Macht übernehmen könnte. In den vergangenen vier Jahren hat er seine Beziehungen zu allen Parteien gefestigt, mit Ausnahme der Refah. Doch am Ende könnte er das Opfer seines Charismas werden: Wer wäre wirklich in der Lage, die Nachfolge des kranken kleinen Sultans anzutreten?

Fethullah Gülens „Parallelwelt“ ist ihrerseits ein Spiegelbild der unzähligen Aktivitäten der islamistischen Refah: Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen, Krankenhäuser etc. Die Islamisten haben sich als tatkräftig und unbestechlich erwiesen und können in allen Bereichen Erfolge vorweisen, insbesondere im Bildungswesen. Über 400 beträgt die Zahl der imam hatip, der Schulen zur Ausbildung von muslimischen Geistlichen, die von der Regierung eingerichtet worden sind. Durch Stiftungsgelder können vor allem Kinder der ärmsten Schichten die Schule länger besuchen, die sie üblicherweise im Alter von zehn oder elf Jahren, also nach den fünf gesetzlich vorgeschriebenen Schuljahren, verlassen. Dieses Vorgehen hat nicht dazu geführt, daß mehr Geistliche ausgebildet wurden, sondern daß eine ganze Generation Zugang zur Universität oder zum Staatsdienst fand.

Diese erste islamistische Studentengeneration, zu der auch die Studentinnen gehörten, die unter dem Hohngeschrei der Kommilitonen verschleiert in der Universität erschienen, hat inzwischen Schlüsselpositionen inne, die bislang dem laizistischen Establishment vorbehalten waren. Außerdem hat die Zunahme islamistischer Einrichtungen auch zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen – vor allem für Frauen. Auch die Refah-Partei hat Mitarbeiter eingestellt, vor allem in Städten wie Ankara und Istanbul, wo sie bei den Kommunalwahlen von 1994 die Mehrheit erlangte.

Diese Generation hat sich für die Modernität entschieden, aber zugleich begannen die Frauen, wieder das Kopftuch zu tragen, selbst wenn sie damit ihre Karriere riskierten: Ärztinnen und Rechtsanwältinnen haben bereits erleben müssen, daß ihnen das Tragen des Körperschleiers bei der Arbeit verboten wurde. Eine von ihnen ist die dreißigjährige Sibel Eraslan, die ein Jurastudium an der Universität Istanbul abgeschlossen hat. 1989 war sie von Tayyip Erdogan, dem Refah-Vorsitzenden von Istanbul (der inzwischen Bürgermeister der Stadt ist), gebeten worden, sich der Partei anzuschließen und den Vorsitz des Frauenkomitees zu übernehmen. Die Refah konnte damals nur 7 Prozent der weiblichen Wähler für sich gewinnen, und in ihren Reihen fehlte es an qualifizierten Frauen. Aufgabe des Frauenkomitees war es, für die Partei in den Arbeitervorstädten und unter den Einwanderinnen aus Anatolien zu werben, denen die anderen Parteien wenig Beachtung schenkten.

1994 milderte die Partei ihre radikalsten Parolen ab, um die wohlhabenden Mittelschichten zu gewinnen; und tatsächlich konnte sie bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr 27 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Das brachte ihr den Sieg in 17 der 33 Stadtbezirke und entscheidenden Einfluß im Großraum Istanbul. Die Refah zählte damals 18000 aktive weibliche Mitglieder und 1265000 Anhängerinnen (52 Prozent der RP-Mitglieder sind Frauen).

Nach sechs Jahren treuer Dienste gab Sibel Eraslan ihre Funktion in der Partei auf. „Ich hatte das Gefühl, meine Aufgabe erfüllt zu haben. Meine Positionen waren zu radikal. Wir sind ursprünglich als Protestbewegung angetreten, und um den Bedürftigen zu helfen, aber dann hat sich Refah den Mittelschichten zugewandt.“ Dennoch ist sie weiterhin eine Leitfigur der Refah, und eine der wenigen, die Presseinterviews gibt – allerdings nur mit Zustimmung der Partei. Die Refah ist lange genug im politischen Geschäft, um die Konsequenzen aus früheren „schlechten Erfahrungen“ mit den Medienauftritten wenig gebildeter Mitglieder zu ziehen: Im Fernsehen treten die Islamisten nur noch bei den eigenen Sendern auf, oder bei Sendern, auf die sie Einfluß nehmen können.

Sibel Eraslan stammt aus einer laizistischen Mittelstandsfamilie. „Mein Vater ist Kemalist. Früher war er Oberst bei der Armee, jetzt ist er Kapitän bei der Marine. Bei uns zu Hause hängt ein Porträt von Atatürk. Die Familie ist seit dreihundert Jahren in Üsküdar (einer Bastion des Laizismus) ansässig. Natürlich gab es wegen meines Engagements Spannungen in der Familie.“ In Istanbul, dessen Bevölkerung innerhalb der letzten dreißig Jahre von zwei auf zwölf Millionen gestiegen ist – Folge der Zuwanderung aus Anatolien – wohnt Sibel Eraslan in Ümraniye, einer gesichtslosen Arbeitervorstadt und Hochburg des Islamismus.

Umma anstelle eines Staates

DEN Islamisten hat sich Sibel Eraslan, wie viele Gleichgesinnte, aus Ablehnung gegenüber den Laizisten zugewandt, die sie beinahe von der Universität gewiesen hätten, als sie im ersten Studienjahr beschloß, den Schleier zu tragen. Ihre Überzeugungen sind typisch für diese Generation türkischer Islamisten, die deutlich westlich beeinflußt ist: „An der Universität Istanbul spielte die westliche Philosophie eine wichtige Rolle im Studium. Ende der achtziger Jahre sind viele Arbeiten der postmodernen Autoren übersetzt worden, und das hat mich zum Nachdenken angeregt und mein Interesse auch für andere Philosophien geweckt. Ich habe dann Sayyid Qutb und Mawdudi, Hassan al-Banna und Ghazali gelesen.7 Sie alle betonen die Bedeutung des Staates – eine Folge der jeweiligen Situation. Aber die Lage in der Türkei ist anders als in diesen Ländern, und in Anatolien wird über andere Dinge debattiert als in der arabischen Welt. Diese Autoren haben mich sehr beeinflußt, bis ich den Koran las. Im Koran gibt es nur zwei Verse, die sich mit dem Staat befassen. Die Scharia ist keine Politik, sondern eine Art zu leben. Und was mich angeht, mir ist die Nationalität und der Paß überhaupt nicht wichtig.“

„Das ist eine neue Art zu denken, und das hat Probleme mit der Partei gebracht.“ In der Türkei wie in anderen Ländern ist der politische Islam letztlich bereit, den Nationalstaat (westlicher Prägung) zu akzeptieren, er lehnt nur die damit verbundenen kulturellen Werte ab. Wie andere islamistische Intellektuelle in der Türkei (Ali Bulaç, Ismet Özel, Rasim Özdendören, Ilhan Kutluer) sieht Sibel Eraslan in einem solchen islamischen Staat nur das Gegenstück zum laizistischen Staat. Sie setzt dagegen auf die Idee der Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) und der selbstverwalteten Gemeinschaften – eine vage Vorstellung, die sie auch innerhalb der Refah vertreten kann.

In ihren Äußerungen vertritt Sibel Eraslan eine Mischung aus Feminismus, linken Positionen und Glauben. Sie räumt ein: „Die Islamisten tun das, was die Linke hätte tun müssen. Ich habe durchaus Sympathien für die Linke.“ Und weiter: „Ich trete unbedingt dafür ein, daß die Frauen innerhalb der RP die Positionen einnehmen, die ihnen zukommen, aus diesem Grund bin ich in der Partei.“ Die langjährigen Führer der Refah brauchen solche fähigen Frauen – aber wie lange werden diese noch mitmachen, wenn man ihnen keinen größeren Anteil an der Macht gewährt? Sibel Eraslan meint, die Frauen müßten viermal so hart arbeiten wie die Männer, sie hätten ja auch vier Gegner: Den Staat, die Männergesellschaft, die islamistischen Männer und schließlich die anderen Frauen.

Die anderen Frauen, das sind die Laizistinnen, von denen einige auch den Kontakt zu Sibel Eraslan suchen. Am 6. April 1997 wurde eine Bewegung gegründet, die für den Einzug von Frauen ins Parlament streitet; ihr Name „Kader“ steht für Kadin Dernegi (Frauenverband), bedeutet aber auch Schicksal. Obwohl es sich um eine weltliche Organisation handelt, forderten einige Frauen in ihren Reihen, den Begriff der Weltlichkeit neu zu fassen, so daß er auch Musliminnen mit sehr konservativen Haltungen einschließen könnte. Sie nahmen Verbindung mit Sibel Eraslan auf, aber die Gräben waren noch zu tief. Wird sich das ändern? Zweifellos, denn die Laizisten können ihre gläubigen Landsleute nicht auf immer ignorieren.

Es gehört zu den wichtigsten positiven Folgen des Sieges der Islamisten bei den Wahlen von 1995, daß die laizistische zivile Gesellschaft aufzuwachen beginnt: Fachwissen in der Schule, Umweltschutz, Wohlfahrtseinrichtungen jeder Art – die Laizisten beginnen nun, sich um das zu kümmern, was die Islamisten bereits praktizieren. „Wir hätten das alles vor dreißig Jahren tun sollen“, kann man hören. Aber wird man in der Lage sein, sich auch mit den Armen zu verständigen? Jedenfalls bietet sich die Gelegenheit, das offensichtlich abgewirtschaftete politische System zu reformieren. Im Vergleich zu anderen Ländern des Nahen Ostens kann die Türkei auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken. Innerhalb gewisser Grenzen – und wenn man einmal von der Kurdenfrage absieht (siehe den Kasten zu diesem Thema) – darf jeder seinen Standpunkt vertreten.

Die Refah hätte nicht so rasch an die Regierung kommen können, wäre nicht Präsident Turgut Özal 1993 überraschend gestorben. Mit der Vision eines starken Landes, ohne Klassen und mit Möglichkeiten für jedermann, war es Özal gelungen, große Teile der Bevölkerung für seine Anap zu gewinnen. Inzwischen hat die Refah die Rolle der Anap als wichtigste (wenn auch nicht einzige) politische Kraft übernommen, die den Anatoliern ermöglicht, sich Gehör zu verschaffen und ihre religiöse Identität zum Ausdruck zu bringen. Sie hat zugleich einer jungen Generation Mut gemacht, die nun auf ihre Chance wartet, an die Macht zu kommen.

Auch wenn ihre ideologischen Konzepte noch etwas schlicht sind (islamische Gemeinschaft statt Nationalstaat), so besitzt diese junge Generation jedenfalls solide Kenntnisse sowohl des westlichen wie des muslimischen Denkens. Auch Pluralismus, Menschenrechte, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gehören zu ihren Parolen. Diese Intellektuellen, Feministinnen und anatolischen Unternehmer, all diese Bestandteile des türkischen politischen Islam, setzen sich derzeit mit einer für die moderne Türkei typischen Energie dafür ein, daß die Kluft überwunden wird, die sich zwischen den Eliten in Istanbul und den Neuankömmlingen aus Kleinasien aufgetan hat. Werden die laizistischen Eliten in der Lage sein, diese Herausforderung anzunehmen?

dt. Edgar Peinelt

* Journalistin, London.

Fußnoten: 1 Die 1983 von Necmettin Erbakan gegründete Refah Partisi (RP) erhielt bei den Wahlen im Dezember 1995 28,73 Prozent der Stimmen und damit 158 der 550 Parlamentssitze. Siehe das Dossier „Staatskrise in der Türkei“, ,Le Monde diplomatique, Juni 1996. 2 Turgut Özal, der 1983 die Ana Vatan Partisi gegründet hatte, errang mit seiner Partei bei den ersten Parlamentswahlen nach dem Ende der Militärdiktatur (1980-1983) 47 Prozent der Stimmen und wurde im selben Jahr zum Ministerpräsidenten gewählt. 1991 wurde er Staatspräsident und verstarb 1993 während dieser Amtsperiode. 3 Korkut Orzal Özal, der Bruder des verstorbenen Präsidenten, ist eine wichtige Figur in der Nakschibendi-Bewegung und verfügt über gute Verbindungen in Saudi-Arabien. Die Bruderschaft hatte großen Anteil an der Entstehung von Erbakans Partei des nationalen Heils (MSP), der Vorläuferin der RP. In den Jahren, als Turgut Özal die Partei führte, kam es zu einer Annäherung zwischen der Anap und den Nakschibendi; heute teilt die Organisation ihre (inoffizielle) Unterstützung zwischen RP und Anap auf. 4 Die Anhänger von Said Nuri waren in den zwanziger Jahren Gegner der Reformen Mustafa Kemals. 5 Vgl. Ertugrul Kürkçü, „The Crisis of the Turkish State“, Middle East Report (Washington D. C.), Nr. 199, April-Juni 1996. 6 Vgl. Sami Zubaida, „Turkish Islam and National Identity“, Middle East Report, Nr. 199, April-Juni 1996. 7 Der Ägypter Hassan al-Banna begründete 1929 die Muslimbrüder, auf seinen Nachfolger Sayyid Qutb beziehen sich viele radikale Islamisten; der Pakistani Abu al-Mawdudi war ein Aktivist der vierziger Jahre; al-Ghazali (1058-1111) ist ein Denker aus dem Goldenen Zeitalter des Islam.

Le Monde diplomatique vom 11.07.1997, von WENDY KRISTIANASEN