In der Unterwelt von Istanbul
IMMER wenn ein Bandit stirbt, fällt ein Stern vom Himmel – so lautet eine alte anatolische Legende. Der Bandit aus dem gleichnamigen Film („Eșkiya“) des türkischen Regisseurs Yavuz Tugrul1 hat 35 Jahre Gefängnis abgesessen, weil er den Mord an seinem Vater gerächt hatte. Nun verläßt er die Berge, aus denen er stammt, und begibt sich in die Niederungen der Elendsviertel von Istanbul. Wieder geht es um Rache: Er sucht nach seinem besten Freund, der mit seiner Frau und allem Gold in die Stadt verschwunden ist.
Die Abenteuer des Banditen Baran in der Unterwelt von Istanbul – der Stadt, die stinkt „wie ein Tierkadaver“ – führen in eine Welt von alternden Prostituierten, erbarmungslosen Zuhältern und abgetakelten Schauspielern, eine Welt, in der die Mädchen Aschenputtelträume träumen und alle jungen Leute nur ein Ziel haben – über Nacht steinreich zu werden. „Der größte Fehler, den mein Vater gemacht hat, als er in Istanbul ankam, war es, sich mit einer Stellung als Kellner zufriedenzugeben. Da hatte er schon verloren“, erzählt der junge Cumali, ein kleiner Gauner ohne Zukunft. „Um aus diesem Leben herauszukommen“, bewerben sich Cumali und seine Gang beim Boß der Mafia. „Die Ladenbesitzer und die Mädchen werden Respekt vor uns haben“, hoffen sie.
In einer Welt, in der nur der Stärkere überlebt, ist ein tragischer Held wie Baran, der an die Liebe glaubt und strenge moralische Grundsätze hat, dazu verurteilt, immer wieder verraten zu werden. Wenn die Gesellschaft korrupt ist, muß man ein Verräter sein, um zu gewinnen – so wie Barans Freund Berfo, der inzwischen Multimillionär geworden ist.
So beschließt der Bandit, wie in einem alten Western, auf eigene Faust sein Recht zu suchen und die Schuldigen zu bestrafen. Als die Polizei ihm auf den Fersen ist, flüchtet er über die Dächer von Istanbul, um sich, während die Menge in den Straßen ein Feuerwerk bewundert, ins Leere zu stürzen... Ein Stern fällt vom Himmel, und nur die Frau, die Baran einst geliebt hat, wird es sehen.
Von Barans Ankunft im Dorf, als ihm – in einer Szene, die an Macbeth und die Hexen erinnert – eine verrückte Alte den Rat gibt, nicht erneut aufzubrechen, bis zu seinem Todessprung zwischen Feuerwerksraketen zeigt der Film viele Elemente des Märchenhaften. Er schafft eine Atmosphäre, wie sie auch in den Romanen von Yașar Kemal zu finden ist. Und wie bei Kemal geht es nicht darum, die Ereignisse als unwirklich darzustellen, sondern ihren Märchencharakter zu betonen.
Zugleich ist der Film sehr realistisch: Wenn der Regisseur zeigt, wie die Kinder in Tabarlași, im Herzen der Stadt, aufwachsen, läßt er kein Detail aus, um deutlich zu machen, wie der Niedergang der Gesellschaft aussieht und was die Übel sind, denen die einzelnen hilflos gegenüberstehen: Wirtschaftskrise, Mißwirtschaft, Korruption, Gleichgültigkeit, mangelnde Bildung... Die neue Generation von Banditen gleicht Berfo, Barans früherem Freund, der inzwischen zum Industrietycoon, Kredithai und zweifellos auch Drogenhändler geworden ist: Solche Männer schaffen es bis ganz nach oben. „In den Bergen gibt es keine Banditen mehr“, erklärt der Mafiaboß Demircan. „Sie sind längst alle in der Stadt!“
Eine zutreffende Feststellung in einem Land, dessen Zeitungen und Talkshows außer der Inflation kein wichtigeres Thema als die Korruption kennen – vor allem seit ein banaler Verkehrsunfall bei Susurluk die Verbindungen zwischen Regierung, Polizei und Mafia ans Tageslicht gebracht hat.
Beim Kinopublikum, das den heimischen Produktionen normalerweise kein Interesse entgegenbringt, war „Der Bandit“ ein beispielloser Erfolg: Er übertraf die Rekordmarken, die der bislang erfolgreichste Hollywoodstreifen („Bodyguard“) gesetzt hatte. Von einigen wurde zwar bedauert, daß der Regisseur das Kurdenproblem nicht aufgreift, obwohl die Hauptfigur des Filmes ein Kurde ist, aber insgesamt waren die Kritiken positiv. In Städten, die keine Kinos haben, etwa in Urfa, wo einige Szenen des Films gedreht worden sind, hat man sogar in längst geschlossenen Sälen den Staub von den Polstern geklopft, um „Der Bandit“ zeigen zu können.
Zum Erfolg des Films hat zweifellos auch die aufwendige Werbung beigetragen, doch entscheidend war: Die Menschen haben sich in dieser Geschichte wiedererkannt – endlich ein Film, der von ihrem Leben erzählt.
GÖNÜL DÖNMEZ-COLIN