Die gefährliche Kurdenfrage
IM Nahen Osten, der noch immer eine der konfliktreichsten Regionen der Welt darstellt, hat sich die Kurdenfrage – wegen ihrer grenzübergreifenden demographischen und wirtschaftlichen Aspekte – für einige der Regionalmächte zu einem entscheidenden Faktor der innenpolitischen Stabilität und der staatlichen Integrität entwickelt. Die Kurden, ein Volk von dreißig Millionen, bewohnen ein Gebiet, in dem sich die wichtigsten Wasserquellen der Region, die Flüsse Euphrat und Tigris, und bedeutende Erdölvorkommen befinden. Trotz aller inneren Auseinandersetzungen und Bruderkriege beweisen sie einen bemerkenswerten Überlebenswillen und Kampfesgeist. Lange Zeit wurde die Kurdenfrage nur unter humanitären Aspekten betrachtet, doch inzwischen beginnt man regional und international die Bedeutung dieses Problems zu begreifen. Unter türkischen Intellektuellen ist es schon üblich, von einer „Kurdenfrage“ (Kürt meselesi) zu sprechen, wenn es um irgendein endloses und scheinbar unlösbares Problem geht.
Durch den Golfkrieg sind die Kurden wieder ins Blickfeld geraten. Das zeigt sich auch in einer Reihe von Veröffentlichungen, die den Gang der Ereignisse nachzeichnen.1 Die Staaten der Region, die nach dem Ersten Weltkrieg aus den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden, waren nicht bereit, die Eigenständigkeit der Kurden anzuerkennen und ihnen die – vorwiegend kulturellen und sprachlichen – Sonderrechte zu gewähren, die sich daraus ergeben hätten. Für die Türkei zum Beispiel war der Aufbau eines Nationalstaats mit einheitlicher Sprache und Kultur oberstes Gebot: Nachdem bereits 1915 die Armenier Opfer eines Genozids geworden und 1,2 Millionen Griechen aus Anatolien nach Griechenland vertrieben worden waren, ereilte dieses Schicksal in den zwanziger und dreißiger Jahren auch ein Drittel der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, weil sie sich gegen die Vereinheitlichungsbestrebungen sperrte.
Mit ebensolcher Härte verfolgten die Baathisten im Irak ihr Projekt des Nationalstaats. Der sogenannte dreißigjährige Krieg (1961-1991) zwischen Bagdad und dem kurdischen Widerstand im Irak kostete mehr als 400000 Kurden das Leben und führte dazu, daß fast alle kurdischen Dörfer zerstört wurden. Die Bewegung der irakischen Kurden ist vom Iran unterstützt worden, der jedoch im eigenen Land alle Ansprüche der kurdischen Minderheit ebenso brutal unterdrückt hat.
In diesen Staaten, die allesamt keine Musterdemokratien sind, wurde den Kurden also jede Möglichkeit der zivilen politischen Meinungsäußerung versagt. Die gnadenlose Unterdrückung ihres Volkes hat schließlich einen Teil von ihnen dazu gebracht, den bewaffneten Widerstand aufzunehmen. Da Kurdistan ein Gebiet ohne Zugang zum Meer ist, umschlossen von vier Staaten, die Anspruch auf dieses Territorium erheben, mußten sich alle militärischen Widerstandsbewegungen aus Gründen der Logistik mit einem der angrenzenden Staaten verbünden. Diese Staaten führten selbst offen oder verdeckt Krieg gegen die kurdische Bevölkerung innerhalb der eigenen Grenzen und hatten folglich kein Interesse an der Entstehung eines autonomen Kurdengebiets in einem Nachbarstaat, aber andererseits bedienten sie sich der Kurden gerne zur Schwächung der Nachbarn.
Dieses Spiel ist nicht ungefährlich. Es hat zu einem mörderischen Krieg zwischen dem Iran und dem Irak geführt – von dem sich der Irak nie mehr erholt hat. Die Türkei wiederum, die sich seit dreizehn Jahren im Konflikt mit einer hartnäckigen kurdischen Guerillabewegung befindet, hat eine massive Aufrüstung eingeleitet, die von den Nachbarstaaten mit Sorge beobachtet wird. 150 Milliarden Dollar sollen in den kommenden beiden Jahrzehnten für die Rüstung ausgegeben werden – für den Staatshaushalt, der bereits von den laufenden Kosten des Kurdenkriegs schwer angegriffen ist (man schätzt sie auf acht Milliarden Dollar im Jahr), eine schwere Belastung. Außerdem hat sich die Türkei an Israel angenähert und erhebt immer nachdrücklicher gegen die Nachbarstaaten Syrien und Iran den Vorwurf, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen. Der Krieg mit all seinen Folgen – Zerstörung von Dörfern, Vertreibung von Millionen kurdischer Bauern, Opfer unter der türkischen und kurdischen Bevölkerung – hat die ethnischen Gegensätze verschärft und die nationalistischen Haltungen bestärkt, er gibt der islamischen Bewegung Auftrieb und führt zur Auflösung der alten sozialen Ordnung, die von Atatürk gestiftet wurde. Viele Beobachter stellen bereits öffentlich die Frage, ob die Türkei den Kurdenkonflikt überleben kann, und erwägen die Möglichkeit, daß es zu einem größeren Konflikt in der Region kommt.
ES gehört zu den Vorzügen des Buches „La Question kurde“, von Hamit Bozarslan2 , daß sich der Verfasser nicht damit begnügt, die Ereignisse und die handelnden Personen darzustellen, sondern sich auch der politischen Entwicklungen und der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Faktoren annimmt, die in diesem Konflikt eine Rolle spielen. Er erläutert die ideologischen Grundsätze und die Vorstellungswelt der wichtigsten Kräfte, er macht die Antriebsmotive und inneren Widersprüche in den kurdischen Bewegungen deutlich, vergleicht ihre Aktionsformen mit denen anderer Minderheiten, kurz: Das Buch hilft, die weithin tragische Geschichte der Kurden in ihrer Komplexität zu begreifen.
Bozarslan ist kurdischer Abstammung und kennt sich in seiner Gesellschaft aus. Seine Sprachkenntnisse und seine persönlichen Beziehungen haben ihm Zugang zu Informationen aus erster Hand verschafft, aber er betrachtet die Verhältnisse auch mit dem gebotenen Abstand und mit kritischem Blick. Man muß als Leser dankbar sein für solche Qualitäten, die in einer Zeit der nationalen Erregung leider selten sind.
Die „Kurdenfrage“ gibt es seit den zwanziger Jahren, und seither haben die Staaten, unter deren Verwaltungshoheit die Kurdengebiete fielen, eine Doppelstrategie angewandt. Den führenden Schichten gewährte man Zugang zur Macht, und die Masse der Bevölkerung wurde unterdrückt – ebenso jede oppositionelle Regung. Der Autor macht nun deutlich, weshalb diese Politik an ihr Ende gekommen ist. Allgemeiner Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Informationen und Kommunikationsmitteln und das rapide Wachstum der kurdischen Bevölkerung machen es unmöglich, die Mitglieder der Führungsschicht weiterhin zu integrieren: Es sind einfach zu viele, und ihre Forderungen werden immer anspruchsvoller. Die Politik der Unterdrückung führt nur dazu, daß die ohnehin sehr schwache Legitimität dieser Staaten in den kurdischen Gebieten immer weiter untergraben wird. Auch die Grenzen haben an Geltung verloren: Vor allem im Nordirak sind sie seit 1991 immer wieder mißachtet worden, von türkischen und iranischen Streitkräften ebenso wie von den kurdischen Widerstandsbewegungen. Die Guerilla hat ihr Vorgehen auf die „Doppelstrategie“ der Staaten eingestellt, und jede der Gruppen ist dabei geprägt von „ihrem“ Staat.
Hamit Bozarslan kommt zu dem Schluß, daß die PKK letztlich eine Art „umgekehrten Kemalismus“ praktiziert: Für sie ist ihr Führer Öcalan eine ebenso kultisch verehrte Gestalt wie Kemal Atatürk für die Türken. Die Jahrzehnte des Krieges und der Zwangsanpassung haben nicht nur Verwüstungen im Land, sondern auch im Denken hinterlassen.
Das Buch von Hamit Bozarslan bietet umfassende und gesicherte Informationen auf der Grundlage langjähriger wissenschaftlicher Studien. Endlich eine Arbeit, die wirklich zum Verständnis des Kurdenproblems beiträgt und zugleich Einsichten in die Struktur der Bewegungen unterdrückter Minderheiten vermittelt, die im kommenden Jahrhundert Urheber zahlreicher Konflikte sein dürften.
KENDAL NEZAN
Leiter des Kurdischen Instituts in Paris