Marseille – eine Schule der zweiten Chance
Von DOMINIQUE PONS *
IN Marseille ist jeder auf die eine oder andere Weise Ausländer. Die Stadt wurde von einem Phokäer namens Protis gegründet, von einem Griechen also, der 600 v. C. in der Bucht von Lakydon landete, dem König der Segobriger seine Freundschaft antrug und dessen Tochter Glyptis zur Frau nahm.1 Die Geschichte beginnt also mit einem Immigranten.
Seit damals hat sich Marseille sein Talent zur Integration und seine Toleranz bewahrt. In nächster Nähe der Hochburgen des Front National, Marignane und Vitrolles, leben unter den 800000 Einwohnern 110000 Menschen ausländischer Herkunft. Nimmt man jene 54000 aus, die die französische Staatsbürgerschaft erhalten haben, sind es 56000, beziehungsweise 7 Prozent der Stadtbevölkerung. Der Ausländeranteil liegt insgesamt in Frankreich auf ungefähr gleichem Niveau, bei 6,3 Prozent.2
Im Hafen arbeiteten einst Docker aus mehr als dreißig Ländern. Die Bevölkerung ist bis heute durch und durch kosmopolitisch, obwohl die Stadt, worauf der Soziologe Jean Viard hinweist, zweigeteilt ist – in einen armen, geradezu bettelarmen Norden und einen ungleich reicheren, gutbürgerlichen Süden.3
Solange Marseille seine Einwohner einschließlich der Immigranten ernähren konnte, ging alles gut. Bis zur Unabhängigkeit Algeriens (18. März 1962), der die von Marokko (3. März 1956) und von Tunesien (20. Mai 1956) vorausgegangen war, gab es für jeden Arbeit – wie bescheiden auch immer – in dieser warmherzigen und einstmals auch wohlhabenden Stadt des Lichts und des Windes.
Die schon 1851 hier ansässigen 16000 Italiener fanden ohne Mühe Arbeit. 1881 waren es 57000, 1911 bereits 97000, und bis heute wächst ihre Zahl. In der Mehrzahl Arbeiter, bezogen sie die Viertel im Norden der Stadt. Sie wurden gebraucht. Allerdings brachen zuweilen auch Haß und Gewalt hervor: Bei der sogenannten „italienischen Vesper“4 im Juni 1881 gab es innerhalb von nur drei Tagen mindestens drei Tote und fünfundzwanzig Verletzte.
Schon im 18. Jahrhundert lebten hier Armenier. Auf der Flucht vor dem von den Türken 1915-1916 verübten Genozid kamen sie zu Tausenden nach Marseille. „Sie waren arm und sprachen kein Französisch“, sagt Garo Hovsépian von der armenischen Volksgruppe. „Eigentlich haben sie sich eher assimiliert als integriert, denn ihre Schulen, ihre Religion und ihre Wurzeln haben sie behalten.“ 80000 leben im Ballungsraum Marseille, und viele von ihnen haben den sozialen Aufstieg geschafft.
Anders verlief die Geschichte der Maghrebiner. Waren die ersten Algerier 1907 nach Marseille „importiert“ worden, um die Streiks der italienischen Arbeiter zu brechen, wurden sie nach 1947 von der französischen Regierung offen ermutigt, ins Mutterland zu kommen: Das Nachkriegs-Frankreich hatte Bedarf an billigen Arbeitskräften. Marseille setzte auf Expansion. Die Bauarbeiten an den Industrie- und Hafenanlagen von Fos-sur-Mer begannen 1964; 1969 wurde dort eine bedeutende Eisen- und Stahlindustrie angesiedelt.
Als die politische Situation im Maghreb immer schwieriger wurde, verwandelte sich die Stadt in einen magischen Anziehungspunkt. Entsprechend richtete sie sich darauf ein, sowohl die stellensuchenden Arbeiter wie die pieds-noirs, also die Algerier französischer Abstammung, aufzunehmen, die es an das diesseitige Ufer des Mittelmeers zog. „Diese vorwiegend algerische Immigration wurde für Marseilles Wirtschaft sehr schnell zu einem unverzichtbaren Faktor, ebenso wie für die maghrebinische Wirtschaft, die von ihr finanziell unterstützt wird.“5 Unter dem sozialistischen Bürgermeister Gaston Deferre stellte sich die Stadt der Herausforderung. Im Norden wurde auf Teufel-komm-raus, schlecht und überhastet gebaut. Aber die Neuankömmlinge zogen auch mitten ins Zentrum. Die Volkszählung 1990 ergab 24600 Algerier, 7300 Tunesier, 2100 Marokkaner und 2100 Spanier.
Eine der schon bald bedeutendsten Volksgruppen aber ließ sie außer acht: die rund 40000 Einwanderer von den Komoren. „Zu einem Viertel stammen sie von der noch zu Frankreich gehörenden Insel Mayotte“6 , sagt einer ihrer Vertreter, Hassan Abdallah, „die restlichen drei Viertel sind dank der 1977 vereinbarten automatischen Gleichstellung Franzosen oder erwarten ihre Einbürgerung.“ Allerdings sind die meisten von ihnen arbeitslos und werden als Ausländer angesehen.
Doch sollten diese Ausgestoßenen Marseille und ganz Frankreich eine Lektion in Sachen Menschenwürde erteilen. Am 21. Februar 1995 wurde der siebzehnjährige Ibrahim Ali von drei Plakatklebern des Front National niedergeschossen. Die Komorer verweigerten sich von vornherein jeder politischen Vereinnahmung und verlangten für die Beisetzung einen Schweigemarsch. Gefolgt von einer beträchtlichen Menschenmenge, zog er ruhig und schweigend durch die Straßen – zum großen Ärger der Neofaschisten.
Auch die Zuwanderer aus Osteuropa haben eindeutig Ausländerstatus. Die jüngste, nicht mehr kontrollierbare Einwanderungswelle hat sie hergebracht. „Viele Polen, Tschechen, Russen, Rumänen, oft junge Menschen“, erklärt Olivia Brossaud, die zeitweise in einer Notunterkunftsstelle arbeitet. Werden aus ihnen Marseiller Bürger? Niemand weiß es.
Auf alle Fälle wandelt sich die Bevölkerung sehr schnell. „Zieht man die Fluktuation und die immer stärkeren internen Umwälzungen in Rechnung (Beamte, die versetzt oder pensioniert werden, etc.), läßt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß jeder dritte Einwohner erst innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre nach Marseille gekommen ist.“7 Aber „jeder hat eine Adresse“, insistiert Philippe Sanmarco, ehemaliger Generalsekretär im Bürgermeisteramt, heute Sprecher der Sozialisten in der Stadtverordnetenversammlung. „Die Stadt genießt große Anerkennung. Eine Mutter, die für uns alle da ist. Trotz der wirtschaftlichen Veränderungen, trotz Arbeitslosigkeit.“ Und er gibt zu bedenken: „Ablehnung schweißt zusammen.“
Ablehnung von wem? „Hier ist niemand ein Fremder“, sagt Pater Jean-Michel Passenal vom mitten in der Stadt ansässigen Karthäuserorden. „Man weiß, was man nicht tun darf, was man nicht sagen soll. 1994 geriet ein Parteigänger der Islamisten mit Jugendlichen aneinander, die er anwerben wollte. Die Sache artete in eine Schlägerei aus, Autos wurden in Brand gesteckt. Alle stürzten sich ins Getümmel gegenseitiger Schuldzuweisungen: Mietervereine, Lehrer und Erzieher, Religionsvertreter, die Polizei. Nach zwei Wochen war es wieder ruhig.“
1996 kam es ein weiteres Mal zu einer Tragödie, und wieder zeigt sich die Stadt von ihrer besonnenen Seite: Am 9. September wurde der fünfzehnjährige Nicolas durch den Messerstich eines gleichaltrigen „beur“ – so heißen im Jargon die Nachkommen von Immigranten – getötet. Der Front National mobilisierte daraufhin in allen umliegenden Städten seine Anhängerschaft. Doch die Marseiller ließen sie abblitzen. Tausende kamen, dem Jungen ein würdiges und bewegendes letztes Geleit zu geben und sich auf Bitten des Vaters von Nicolas dagegen zu verwahren, alles in einen Topf zu werfen und die Schuld pauschal „den Arabern“ anzulasten.
Unzählige Organisationen sind in den Wohnsiedlungen der nördlichen Stadtviertel aktiv. Unterstützt werden sie von dem für Marseille zuständigen Präfekten, den Leitern des Projekts für soziale Entwicklung (DSU), den Sozialeinrichtungen, den Mietervereinen, nicht zuletzt auch durch EU-Kredite (Marseille hat seit 1990 Subventionen von über 100 Millionen Mark erhalten)8 sowie durch die in der Verbrechensprävention tätigen Organisationen und die Mitwirkung von Polizei und Justiz. Mehrmals im Monat finden in einigen Vierteln öffentliche Veranstaltungen statt, auf denen Konflikte geschlichtet werden. Mit all diesen Initiativen festigt Marseille seine urbane Solidarität.
Seit fünfundzwanzig Jahren lebt Haddah Berrebouh, dreiundfünfzigjährige Mutter von zehn Kindern, in der cité des Flamants. Sie arbeitet als Vermittlerin an den Schulen und bekämpft die kleinen Schulklassen-Mafias, ohne immer gleich die Eltern einzuschalten. „Die Wohnsiedlung“, sagt sie, „ist eine Gemeinschaft. In der Einkaufszone wurden Drogen beinahe wie Eiscreme verkauft. In Flamants wurde dagegen schließlich etwas unternommen. Die Dealer sind abgehauen. Wenn die Eltern wollten...“ Nicht immer wollen sie, und Frau Berrebouh verliert bittere Worte über die „Selbstaufgabe von Vätern und Müttern, die morgens nicht einmal mehr aufstehen.“
Große Moschee statt kleiner Garagen
DIE Schule bleibt der einzig mögliche Ort sozialer Verschmelzung. Am Collège Manet beispielsweise gehören die Schüler 22 Nationalitäten an. In einer ähnlichen Vorschule nahe dem maghrebinischen Viertel Porte d'Aix im Herzen der Stadt kommen auf 110 Kinder lediglich drei Europäer. Die Mütter der übrigen 107 Kinder kennt man nicht genau. Sie halten sich versteckt, oft weil sie keine Aufenthaltserlaubnis haben, und es sind die Väter, die ihre Sprößlinge abholen. Sie haben keine genauen Adressen, und wenn die Schulleiterin sich um „Pflegemütter“ zu kümmern versucht, findet sie keine, weil die dafür in Frage kommenden Frauen häufig keine Papiere haben. Um die Kinder in der Schule anzumelden, genügt schon ein Impfschein oder eine (auch ausländische) Geburtsurkunde, und sie müssen im Viertel wohnhaft sein. Die Schule ist gut in das Viertel integriert. Vorrangige Sorge der Erzieherinnen ist es aber, den Kleinen so viel Französisch beizubringen, daß sie sich verständigen können.
In einer dritten Vorschule in der Nähe der Oper und des alten Hafens heißen die Pflegemütter Michaela (aus Senegal), Cindy (aus Mauritius) oder Nelly (aus Frankreich), und dort, so ist von der Schulleiterin Françoise Serrano zu erfahren, „funktioniert die Integration recht gut; alle sind darum bemüht, das Niveau nach oben hin anzugleichen“.
Einer der entschiedensten Verfechter dieser Angleichung auf oberem Niveau ist der Großmufti Soheib Ben Cheikh, der von der Pariser Moschee nach Marseille berufen wurde. Er ist ein energischer, gebildeter Mann in den Dreißigern, der es versteht, „einen unverfälschten Islam mit der modernen Welt in Einklang zu bringen“; er setzt sich gegen die „Islamophobie“ ein und gleichzeitig auch gegen das Gefühl der Zurückweisung, der Frustration und des „Eingeschlossenseins“, mit dem die Marseiller Muslime zu kämpfen haben. „Geistige Leere ist immer gefährlich“, betont er. Sein Ziel ist es, jene große Moschee zu errichten, die Marseille so sehr fehlt, sowie ein muslimisches Institut, an dem Imame ausgebildet werden, die keine Französischkenntnisse besitzen. Die Frauen könnten sich dort in ihrer Religion unterweisen lassen, denn „es sind die Frauen, die die traditionellen Werte weitergeben“.
Der Bürgermeister von Marseille, Jean-Claude Gaudin von der UDF, hätte nichts gegen den Bau. Er stellt lediglich fest, daß „die muslimische Gemeinde nicht das notwendige Grundstück für ein solches Gebäude zu besitzen scheint“ und daß „die Stadt Marseille nicht über die Mittel verfügt, ihnen ein entsprechendes Gelände zu schenken – der muslimischen Gemeinde genausowenig wie der katholischen Kirche oder der jüdischen Gemeinde“. Der neue Erzbischof, Mgr. Panafieu, betont seinerseits, daß „eine Moschee, die man sieht, besser ist als eine im Verborgenen“ und daß der Islam seinen Platz inmitten der laizistischen Gesellschaft Frankreichs finden muß. Die „Garagen“ (die Moscheen sind häufig in Schuppen, Kellern oder Garagen untergebracht) stellen in seinen Augen potentielle „Infektionsherde“ dar.
Rechtsextremismus findet in Marseille günstige Voraussetzungen; er macht sich die Armut der Stadt und die wachsende Unzufriedenheit der Franzosen zunutze. Dennoch ist der islamische Fundamentalismus im wesentlichen unsichtbar und ohne Bedeutung geblieben – soweit man das beurteilen kann.
„Hier integriert man sich nicht, man gesellt sich dazu“, sagt ein Muslim. Marseille ist eine großartige Maschine, um Marseiller zu formen. Nicht Franzosen, oder erst in zweiter Linie Franzosen. Vor allem Marseiller! Nur, leider genügt das in der verheerenden Situation der Stadt nicht mehr. Was aber könnte sonst noch Halt bieten? Arbeit und Weltanschauung stellen keine verbindlichen Werte mehr dar, da inzwischen 100000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben und damit jede Möglichkeit verlieren, über die Arbeit zu einer kollektiven Identifikation zu finden.9 Dem Soziologen Michel Péraldi zufolge kann die territoriale Identität „eine soziale nicht ersetzen. Diese soziale Identität aber fehlt Marseille. Man hat es nicht verstanden, das Puzzle sozioökonomischer Existenzbedingungen neu zusammenzusetzen. All das schafft keine Identität. Marseiller sein ist gut und schön, geht aber nicht tief genug. Die meisten Immigranten leben in einem sozial erniedrigenden Vakuum.“
Obwohl Marseille sich rühmen kann, keine Vorstädte zu haben, und man samstags die Jugendlichen aus den nördlichen Vierteln mit nach hinten gedrehten Baseballmützen und tadellosen Trainingsanzügen friedlich durch die Fußgängerzonen der Innenstadt schlendern sieht, gibt es sehr wohl einen verbreiteten Rassismus, von dem niemand weiß, wie tief seine Wurzeln wirklich reichen. „Noch nie“, sagt Fodé Scylla, Präsident von SOS Racisme, „war der Rassismus so ausgeprägt. Er könnte bald nicht mehr ein Verbrechen, sondern eine politische Einstellung sein.“
Kamel Khalif, Maler und Comic-Zeichner, früher Jugendarbeiter in der cité Brassens, wollte mit zwanzig Jahren die französische Staatsbürgerschaft erwerben. Heute bekennt er, „nicht mehr recht zu wissen, wie er dazu steht“, aber er ist nach wie vor Algerier. Von „rassistischer Verkrampfung“ spricht er. Hier bezeichnet er sich als Marseiller. Im Ausland sagt er, er „lebe in Frankreich“. Doch wenn er auf der Straße hinter einer alten Dame geht, „wechselt sie die Straßenseite“.
Die 15- bis 24jährigen – 1990 waren es 10900010 – haben ihre Eltern mittlerweile überflügelt. Die Besonnenheit und das Bemühen um Integration seitens der vorangegangenen Generationen verblassen angesichts der brutalen Forderungen, mit denen die jungen Frauen und Männer einer Wirklichkeit begegnen, die ihnen kaum Chancen bietet. Gleichwohl erfüllt es Jean-Claude Gaudin mit Stolz, daß Marseille als Standort für die „Schule der zweiten Chance“ – ein von der EU-Kommissarin Edith Cresson initiiertes Projekt – ausersehen wurde, die ab Januar 1998 solchen Jugendlichen offenstehen wird, die an öffentlichen Schulen gescheitert sind: „Hier sollen fünfhundert Mädchen und Jungen im Alter zwischen 18 und 22, die aus benachteiligten Vierteln stammen und die Schule abgebrochen haben, nach neuartigen Methoden unterrichtet werden.“
Nostalgie ist kein Ersatz für Phantasie
FÜNFHUNDERT? Im 14. Arrondissement lag die Arbeitslosenrate 1995 bei 31,8 Prozent (gegenüber 24,76 Prozent 1990); im 16. erreichte sie 1995 46,48 Prozent (gegenüber 25,7 Prozent 1990).11 Das sind die offiziellen Zahlen. Die Wirklichkeit sieht zweifellos finsterer aus.
Jeder tut, was er kann. Und doch waren 50 Prozent der im Dezember 1996 von der Polizei festgenommenen tatverdächtigen Personen Minderjährige. Schwere Raubüberfälle haben 1996 um 21 Prozent zugenommen. Die Festnahmen wegen Drogendelikten sind um 8 Prozent gestiegen.12 Nicht alles läßt sich durch die Drogen erklären, selbst wenn sie für einige Familien die einzige reale Einkommensquelle darstellen und einen beträchtlichen, unbezifferbaren Handel speisen. Die Polizei weiß, daß das Übel andere Ursachen hat, und spricht statt dessen von der „Auflösung des erzieherischen Gefüges“, vom „Zerfall der Erwachsenenwelt“, der die Jugendlichen dazu bringt, sich „wie Wilde“ aufzuführen und erst die Polizei, dann die Schule und schließlich die Gesellschaft selbst aufs Korn zu nehmen. Sie gibt sogar zu, daß sich in der veränderten Welt das Verbrechen oft auszahlt.
So sieht es auch Pater Passenal: „Die Situation ist explosiv; jederzeit könnte der Funke überspringen. Die Jugendlichen wollen als Franzosen akzeptiert werden, bis sie, durch schulisches Versagen etwa, den Anschluß an die Gesellschaft verlieren.“ Und wenn sie sich abgelehnt fühlen, könnten sie sich dem Islamismus zuwenden, der ihnen eine alternative Identität bietet. Schulischer Mißerfolg aber ist die Regel: Einige Jugendliche können mit sechzehn noch nicht lesen und schreiben. Ihnen hat niemand mehr etwas zu sagen oder vorzuschlagen.
Jean-Claude Gaudin redet von Tausenden von Arbeitsplätzen, die durch Euroméditerranée13 geschaffen werden sollen, ohne zu erwähnen, daß es sich größtenteils um unqualifizierte Arbeitsplätze handeln wird. Er spricht als Bürgermeister. Das aber reicht nicht aus. Vorstellungskraft ist eine der Eigenschaften, die Marseille am meisten vermissen läßt. Die Stadt trauert den alten Zeiten nach, als alles leichter war. Die hier über Jahre entwickelte Kunst des Miteinanders der Kulturen stößt an ihre Grenzen. Das Geld, der Markt, die Spekulation, die Zinsen, die sozialen Veränderungen und nicht zuletzt die eigenen Fehler zwingen die alte Stadt, die sich darüber immer lustig gemacht hat, zu Maßnahmen, die sie in ihrem Innern ablehnt. Marseille riskiert, seine Seele zu verspielen. Solange ihre junge Bevölkerung zum „no future“ der Hoffnungslosigkeit verdammt ist, solange die Stadt diesen Menschen nichts anderes als überholte Konzepte anzubieten hat, wird sich ihr Niedergang fortsetzen.
dt. Christian Hansen
* Journalistin und Schriftstellerin, veröffentlichte gemeinsam mit Alfred Pacini das Buch „Docker à Marseille“, Paris (Payot) 1996.