11.07.1997

Das verborgene Leiden der afrikanischen Frauen

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Das verborgene Leiden der afrikanischen Frauen

■ In den armen Ländern birgt eine Entbindung für die Frauen noch immer Risiken. Wenn sie keinen Zugang zu ärztlicher Hilfe haben, laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren oder bleibende Schäde

In den armen Ländern birgt eine Entbindung für die Frauen noch immer Risiken. Wenn sie keinen Zugang zu ärztlicher Hilfe haben, laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren oder bleibende Schäden davonzutragen. Zwei Millionen Frauen leiden an Fisteln, einer früher weit verbreiteten Komplikation, die heute zu einer Krankheit der Armen geworden ist. Auf dem afrikanischen Kontinent tritt sie noch immer überall auf.

Von JOÄLLE STOLZ und PHILIPPE LE FAURE *

SUWAIBA liegt auf dem Operationstisch. Sie ist vierzehn Jahre alt. Dank einer lokalen Betäubung des Beckenbereichs spürt sie nichts. Drei Ärzte sind dabei, das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen, und bereiten die Operation vor: eine zerstörte Vagina, ein gerissener Ringmuskel und eine doppelte Fistel – infolge einer sehr schwierigen Entbindung ist eine kanalförmige Öffnung entstanden, durch die Urin und Exkremente austreten, ohne daß das Mädchen es verhindern kann.

Im Norden Nigerias, dem Land Afrikas mit der größten Bevölkerungsdichte, ist Suwaibas Leiden alltäglich. Draußen in den sonnendurchglühten Innenhöfen des Krankenhauses von Kano warten Dutzende Frauen, in ihre bunten Tücher gehüllt, auf die Operation, die ihnen ihre Würde zurückgeben soll. Ein dünnes Rinnsal Urin – sichtbares Zeichen ihres Unglücks – läuft ihnen die Beine herunter und versickert im Staub.

Schon vor ihrer ersten Regel wurde Suwaiba verheiratet. Wie die meisten kleinen Bauernmädchen bei den Haussa und Fulbe kehrte sie, der allgemeinen Sitte folgend, in ihr Elternhaus zurück, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Doch Suwaibas Becken war für den Kopf des Babys zu eng. Drei Tage lang litt sie Höllenqualen und unterdrückte die Schreie, wie es das Schamgefühl der Haussa verlangt. Als ihre Mutter merkte, daß etwas nicht stimmte, war es für das Krankenhaus schon zu spät: Im Norden Nigerias braucht man mindestens 24 Stunden, um einen so komplizierten und kostspieligen chirurgischen Eingriff wie einen Kaiserschnitt vorzubereiten.

Suwaiba konnte sich nur auf die unguzuma, die traditionelle Hebamme, verlassen. Aber diese wußte sich – wie früher auch die Hebammen in Europa – nicht anders zu helfen, als mit aller Kraft am Körper des Kindes zu ziehen, soweit sie ihn zu fassen bekam, und verletzte dabei die junge Frau. Das Baby, ein Mädchen, war tot, und der viel zu jungen Mutter erging es kaum besser.

Das Urteil ihres Mannes wußte sie im voraus: Er würde sie verstoßen. In der muslimischen Kultur, die den Gläubigen vor der Ausübung ihrer religiösen Pflichten eine sorgfältige Reinigung vorschreibt, gelten solche Frauen als dauerhaft unrein und werden selbst von der eigenen Familie verstoßen.

Die älteren überleben durch Betteln und einfache Arbeiten, den jüngeren bleibt häufig nur die Prostitution. Suwaiba hätte, wie viele andere, Zuflucht in einem der gidajen mata finden können (Haussa- Ausdruck für „Frauenhäuser“, manchmal auch verächtlich gidajen pisari, „Urinhäuser“, genannt). In den muslimischen Städten im Norden des Landes leben in solchen Häusern Tausende geschiedener Frauen, die aus Not Prostituierte geworden sind.1 Und vor diesen traurigen Freudenhäusern trocknen auf quer über den Hof gespannten Leinen Lappen, die ständig gewaschen und wieder gewaschen werden, um den hartnäckigen Gestank zu tilgen.

Aber Suwaiba hat durch eine Sendung im nigerianischen Radio sehr bald von dem „großen Doktor“ gehört, der in den Savannen des Nordens fast schon eine Legende ist: Kees Waaldijk. Der holländische Chirurg stieß auf das Problem der Blasen-Scheiden-Fisteln2 , als er 1983 nach Katsina kam, um Leprakranke zu behandeln. Eine große Zahl seiner Patientinnen hatte solche Fisteln – ein Leiden, das, wie die Lepra, Ausgrenzung bedeutet.

Von der obstetrischen Fistel – der Fistel infolge einer Entbindung – waren einst Frauen aller Länder und aller Gesellschaftsschichten betroffen. Man hat Anzeichen dafür an der Mumie der ägyptischen Prinzessin Hebenit gefunden, die vor fast viertausend Jahren bei der Niederkunft starb. Bekannt ist auch, daß man sich am Hof Ludwig des XIV. über die „Schlafzimmerunpäßlichkeit“ lustig machte, an der die junge Favoritin Louise de La Vallière litt. Im Amerika der Pioniere war dieses Leiden so verbreitet, daß man um 1840 in New York ein Spezialkrankenhaus dafür einrichten mußte.

Seit der „Revolution der Medizin“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Fistel aus den hochentwickelten Ländern verschwunden. „Wenn sich heutzutage eine Entbindung mehr als üblich in die Länge zieht, führt man einen Kaiserschnitt durch“, sagt Dr. Waaldijk. „Aber im Busch stirbt die Frau, und in 90 Prozent der Fälle auch das Kind. Man schätzt, daß von tausend Frauen, die überleben, zwei eine Fistel bekommen, weil der Druck, den der Kopf des Fötus ausübt, die Blutzirkulation behindert und an einer Schwachstelle eine Nekrose des Gewebes hervorruft.“ Oft wird auch der Perineumsnerv verletzt, was manchmal dazu führt, daß die armen Frauen den Rest ihres Lebens humpeln.

Durch einen chirurgischen Eingriff ist es allerdings möglich, die verletzte Harnröhrenwand wiederherzustellen, und zwar vor allem durch die subkutane Verwendung eines Muskels aus der Schenkelinnenseite. Das Verfahren wurde von dem Arztehepaar Reginald und Catherine Hamlin, die diesen Frauen ihr Leben gewidmet haben, in Äthiopien entwickelt und ist auch in Nigeria erfolgreich angewendet worden. Wenn der Chirurg erfahren genug ist, liegt die Erfolgsrate bei über 80 Prozent: Nicht mehr inkontinent, kehrt die Frau meist durch Wiederheirat in die Gesellschaft zurück.

Wie viele sind es weltweit? Zwei Millionen, sagen die Spezialisten, und zwar überwiegend in Afrika – in Sierra Leone, in Mauretanien, im Niger und in Mali, in Tansania, in Äthiopien, in Somalia und im Sudan (wo dieses Leiden die Frauen oft in den Selbstmord treibt). Aber auch in Haiti, in Indien, in Pakistan oder in Bangladesch. Ein erneutes Auftreten oder eine Zunahme der Fälle von obstetrischen Fisteln ist überall dort zu beobachten, wo die Bevölkerung durch bewaffnete Konflikte zu Ortswechseln gezwungen wird und die ohnehin schon schwachen Strukturen der Gesundheitsversorgung zusammenbrechen. In Afghanistan verschlimmert sich überdies die Situation durch die rückschrittlichen Dekrete des neuen islamistischen Taliban-Regimes, die den Zugang der Frauen zu chirurgischer Behandlung einschränken.

Allein in Nigeria (100 Millionen Einwohner) soll es 200000 Fälle geben, davon 70 Prozent im Norden. Nach Meinung von Professor Bandipo, dem medizinischen Leiter der Universitätsklinik in Zaria, gibt es „kein anderes Land in Afrika, wo dieses Gesundheitsproblem eine vergleichbare Bedeutung hat. In Nigeria stirbt eine von fünfundzwanzig Frauen an Schwangerschaftskomplikationen, das ist das 400fache der entsprechenden Rate in den hochentwickelten Ländern. Auf jeden dieser Todesfälle kommen 15 bis 20 überlebende Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen.“ Der Grund für solche Zahlen liegt darin, daß die Strukturen des öffentlichen Gesundheitswesens, nach beachtlichen staatlichen Anstrengungen in den siebziger und achtziger Jahren, nun durch Stagnation oder sogar zunehmenden Verfall gekennzeichnet sind – ein krasser Kontrast zu den satten Einnahmen des „afrikanischen Giganten“ des Erdölgeschäfts.3

Hinzu kommen kulturelle Faktoren. In den ausgedehnten Savannen im Norden mit ihrer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung wird die Tradition der frühen Heirat immer noch hochgehalten. Selbst in der Stadt tendieren die Eltern dazu, ihre Töchter sehr jung zu verheiraten, weil sie dadurch in einer Welt, deren soziale Beziehungen von Gewalt geprägt sind, die Familienehre zu bewahren hoffen.4 Und schließlich bringt auch die Sitte des yankan gishiri, eines Einschnitts, der mit dem Rasiermesser an der jungen Braut vorgenommenen wird, wenn sich die „Straße der Ehe“ als zu eng erweist, häufig das Risiko einer Blasenverletzung mit sich.

Im mehrheitlich christlichen Süden muß man mit dem unseligen Einfluß der Evangelisten-Sekten rechnen, die die Frauen davon abhalten, im Krankenhaus zu entbinden. „Um ihre Macht zu festigen, sagen die Pastoren ihnen: Gott ist in der Kirche, nicht im Krankenhaus. Sie entkräften die schwangeren Frauen durch Fasten und Gebetsnachtwachen“, erzählt die Ärztin Ann Ward, eine irische Nonne, die in Uyo, im Südosten Nigerias, ein Behandlungs- und Rehabilitationszentrum für Fistelopfer leitet.5

Transportprobleme und männliche Gleichgültigkeit tun ein übriges. Die Berichte von Dr. Ward und ihren Kollegen enthalten eine Fülle von traurigen Beispielen: Gebärende, deren Mütter die wenigen motorisierten Männer im Dorf vergeblich anflehen, Hilfe zu holen; eine Sterbende, die auf einem quer über einen Motorroller gelegten Brett ins Krankenhaus gebracht wird, während ein bereits verwesender Arm des Kindes aus ihrem Unterleib heraushängt; Ehemänner, die sich kategorisch weigern, bei einer lebensbedrohenden Blutung zur Rettung ihrer Frau Blut zu spenden.

Dank des Einsatzes einer wachsenden Zahl von Ärzten und der engagierten Feministin und jetzigen Vorsitzenden des nigerianischen Frauenverbandes, Amina Sambo, werden seit zehn Jahren ernsthafte Anstrengungen unternommen, um diesen tragischen Kreislauf zu durchbrechen. Radiosendungen in den lokalen Sprachen, Dokumentarfilme im Fernsehen und Zeitungsartikel haben einer breiten Öffentlichkeit das verborgene Leiden von Tausenden Frauen offenbart, die in die Behandlungszentren drängen.

Durch Krieg und Armut sowie durch das ausgeprägte Bevölkerungswachstum steigt die Zahl der Fistelopfer, gleichzeitig aber interessieren sich nur wenige Spezialisten für eine solche Armenmedizin – zu wenige, um diese Aufgabe zu bewältigen.

dt. Sigrid Vagt

* Journalistin bzw. Fernsehregisseurin.

Fußnoten: 1 Eine Anfang der siebziger Jahre durchgeführte Studie registrierte 123 „Frauenhäuser“ allein in Katsina, das für seinen religiösen Konservativismus bekannt ist. 2 Die Blasen-Scheiden-Fistel ist weiter verbreitet als die recto-vaginale Fistel. 3 Nigeria verzeichnet 1000 Fälle von Todgeburten auf 100000 Lebendgeburten (diese Zahl liegt höher als im übrigen Afrika südlich der Sahara), gegenüber 1800 in Sierra Leone, 1700 in Afghanistan, 15 in Frankreich und 7 in Norwegen. Im Norden Nigerias entbindet nur ein Viertel der Frauen unter der Obhut von qualifiziertem Personal. 4 Vgl. Olawale Albert, „Women and Urban Violence in Kano“, Ibadan (Institut français de recherches en Afrique) 1996. 5 Die Hauptzentren sind in Kano, Ibadan, Uyo und vor allem in Katsina, wo das Krankenhaus Babbar Ruga 200 Betten für die Fistelbehandlung bereithält.

Le Monde diplomatique vom 11.07.1997, von JOÄLLE STOLZ und PHILIPPE LE FAURE