11.07.1997

Die verpaßten Chancen des Immateriellen

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Die verpaßten Chancen des Immateriellen

DIE Niederlage der rechten Parteien bei den französischen Parlamentswahlen war in Europa die erste eindeutige Abwehrreaktion gegen die Auflösung der sozialen Strukturen, die der Neoliberalismus überall zur Folge hat. Wenn die Regierung unter Lionel Jospin wirklich die „Zukunft verändern“ will, muß sie eine klare Vorstellung von dieser Zukunft besitzen. Mit linearen Denkmodellen ist die Wirklichkeit indessen nicht mehr in den Griff zu bekommen, denn die Technologien des Immateriellen führen zu Verschiebungen in der Logik der Systeme, ja sogar zu ihrer Umkehrung. Wo es an politischem Willen und klarer Analyse fehlt, können sich die vielversprechenden Möglichkeiten dieser Technologien gegen den Menschen, gegen die Gesellschaft und gegen die Umwelt kehren – so wie es derzeit geschieht. Ob sich die Entscheidungsträger, deren Blick auf die „Sachzwänge“ einer schon überholten Gegenwart fixiert ist, darauf besinnen werden, daß regieren auch vorausschauen heißt?

Von RENÉ PASSET *

Die gewaltige Aufgabe, die sich der französischen Linken stellt, entspricht den Dimensionen jener sozialen „Mutation“, deren Bedeutung nur den wenigsten unter den politisch Verantwortlichen bewußt zu sein scheint. Nicht um die Bewältigung einer Krise des Systems geht es, sondern um die grundlegende Umgestaltung des Systems selbst. Eine Welt stirbt, eine andere entsteht. Mit buchhalterischem Geschick ist es nun nicht mehr getan.

Für den Liberalismus und Sozialismus der Vergangenheit waren Wirtschaft und Weltanschauung keine getrennten Bereiche. Aus einer – für die einen mechanistischen, für die anderen dialektischen – philosophischen Grundhaltung heraus ergab sich die jeweilige Auffassung vom Kapitalismus als ein im Gleichgewicht befindliches oder ein sich selbst zerstörendes System. Nun haben wir die Schwelle zu einem neuen Zeitalter überschritten: Nach unserem heutigen Kenntnisstand müssen wir eher von einem Prozeß der „schöpferischen Zerstörung“ ausgehen, einer – mutmaßlich vom Urknall ausgelösten – unumkehrbaren Freisetzung von Energien, aus der sich der Aufbau des Universums speist.

Schon 1942 analysierte Joseph Schumpeter die wirtschaftliche Evolution folgendermaßen: die Revolution des Verkehrswesens erfolgte im 19. Jahrhundert nicht etwa durch die Vermehrung der Postkutschen, sondern durch deren Verschwinden und ihre Ablösung durch Eisenbahn, Automobil und später das Flugzeug, wobei all dies einherging mit einer Umwälzung der Normen, der Regelmechanismen und der Triebkräfte für die Weiterentwicklung der Systeme. Diese Umwälzungen meint der Begriff der Mutation.

Die gegenwärtige Mutation ist gekennzeichnet durch eine Kollision von zwei Phasen der technologischen Evolution: Die eine – die ihren Höhepunkt erreicht hat – gründet auf der Freisetzung von Energien, die andere – die gerade erst beginnt – wird durch das Immaterielle vorangebracht. Durch die erste Entwicklungsphase, die mit der Dampfmaschine begann und deren heutiges Symbol die Kernenergie ist, hat der Mensch eine Macht zur Umgestaltung der Welt erworben, die weit genug reicht, um jene Prozesse zu gefährden, durch die sich Leben auf unserem Planeten ansiedeln und ausbreiten konnte. Die Debatte um die nachhaltige Entwicklung bestätigt nur die alte Binsenweisheit, daß die Reproduktion des wirtschaftlichen Bereichs an die der Biosphäre und der menschlichen Sphäre gekoppelt ist.

Die zweite Phase steht im Zeichen des Computers. Hier verlagern sich die Antriebskräfte der Entwicklung aus dem Bereich der Akkumulation von Materie und Energie in den Bereich des Immateriellen: Symbole, Codes, Botschaften, Organisation – diese Kräfte sind effizienter und haben zugleich weniger schädliche Auswirkungen auf die Umwelt; sie machen es möglich, die Erfordernisse von Ökonomie und Ökologie zu verbinden.

Diese Mutation wird begleitet von einem Wandel der Systemlogik. Sie erweitert erstens den wirtschaftlichen Bereich sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht. Die Belastbarkeit der Biosphäre stößt an ihre Grenzen: die Natur, einst überreichlich vorhanden und frei verfügbar, wird zu einem Wirtschaftsgut. Das Verhältnis von „mehr“ und „besser“ kehrt sich um, denn wo eine Sättigung eingetreten ist, ergibt sich das eine nicht mehr notwendig aus dem anderen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Solidarität der Generationen: Gemäß der vielzitierten Formulierung des Brundtland-Berichts1 muß jede Generation darauf bedacht sein, die Bedürfnisse der Gegenwart zu befriedigen, „ohne die Möglichkeiten der künftigen Generationen, ihrerseits ihre Bedürfnisse zu befriedigen, aufs Spiel zu setzen“. Ethische Erwägungen finden so Eingang in den wirtschaftlichen Bereich. Im übrigen wird durch die Rolle des Immateriellen und die Entwicklung von Mobilität und Kommunikation aus unserem Planeten ein einziger zusammenhängender Raum. Es gibt keinen Ort der Erde mehr, mit dem man nicht in Realzeit kommunizieren und zu dem man sich nicht binnen 24 Stunden begeben kann.

Zweitens greift die Mutation in das Zusammenspiel der wirtschaftlichen Regulationsmechanismen ein. Der Markt gleicht Unausgewogenheiten nicht mehr aus, er verstärkt sie. In den modernen Unternehmen2 verschiebt sich der wesentliche Anteil der Kosten (80 bis 90 Prozent) immer weiter an den Beginn der Produktionskette. Der Informationsbedarf macht die Einrichtung eines kostspieligen Systems von Vorstudien, Organisation und Investitionen erforderlich. Die Produktion erfolgt also praktisch zu konstanten Gesamtkosten, damit aber zugleich zu sinkenden Stückkosten. Im Falle einer Überproduktion wird der Produzent, angesichts der wildwüchsigen Konkurrenz, seine Mengen nicht reduzieren, sondern steigern, um die Fixkosten umzulegen, den Selbstkostenpreis zu mindern und seine Wettbewerbsposition zu verbessern. Überproduktion erzeugt also weitere Überproduktion.

Der internationale Austausch vollzieht sich nicht mehr nach den alten Spielregeln. Die Globalisierung verbindet voneinander abhängige Unternehmen in einem dichten, weltumspannenden Netz. Grenzüberschreitende Warenströme sind großenteils konzerninterne oder -externe Handelsgeschäfte transnationaler Unternehmen. Insofern stellt ein Nationalstaat nicht mehr jenen von der traditionellen Theorie definierten Raum dar, der sich durch eine „Ausstattung mit Wirtschaftsfaktoren“ auszeichnet und innerhalb dessen die Produkte zirkulieren. Kapitalströme fließen schneller und leichter als Warenströme. Der internationalen Spezialisierung aufgrund von „Standortvorteilen“ wird der Boden entzogen: Im Bereich der Automobilproduktion etwa sind die wichtigsten Exportländer gleichzeitig die größten Importeure. David Ricardos Darstellung eines England, welches sein Tuch gegen portugiesischen Wein tauscht, hat sich überlebt. Die Mechanismen, die dazu dienten, durch Preiserhöhungen oder -senkungen der jeweiligen Export- oder Importländer die Handelsbilanzen auszugleichen, greifen nicht mehr. An die Stelle der Kaufkraftparität tritt das Dumping mit Hilfe der Wechselkurse. Es gibt keinen Marktmechanismus, der einen im Verhältnis zum Franc oder zur Mark unterbewerteten Dollar wieder auf den angemessenen Kurswert bringen kann.

Unter diesen Umständen ist es nicht mehr möglich, die – sinnlos gewordene – Produktivität einzelner Wirtschaftsfaktoren als Kriterium für die Bildung von Einkommen heranzuziehen. Wenn sich die Kosten an den Anfang verlagern, dann setzt sich die Produktion aus integrierten Systemen zusammen, bei denen nicht mehr auszumachen ist, wie sich die Leistung anteilsmäßig auf Arbeit und Kapital verteilt. Damit bricht die gesamte Berechnung der Verdienstspanne zusammen. Das Problem der Einkommensverteilung stellt sich nicht mehr auf der Ebene des gerechten Tauschs, sondern der gerechten Verteilung, und dafür müssen erst noch Kriterien gefunden werden.

Die Produktion vergesellschaftet sich. In dem Maße, wie durch den Einsatz von Kleincomputern immer neue Entscheidungszentren entstehen, wird die Effizienz zu einer Frage, die das gesamte Netz betrifft: Die Leistungsfähigkeit eines intern vernetzten und an andere Netze gekoppelten Unternehmens hängt zunehmend von der Effizienz seiner Zulieferer und der Spediteure ab und von Wirtschaftsfaktoren wie der Qualität der Kommunikationswege, den dafür verantwortlichen Behörden, der in diesem Bereich praktizierten staatlichen Politik usw.

Der intellektuelle Einsatz, auf den die Produktionssysteme im Zeitalter der Informationsflüsse aufbauen, basiert auf dem Wissensschatz, der von den vorangegangenen und gegenwärtigen Generationen zusammengetragen worden ist. Louis Pasteur zufolge ist „Wissen ein Erbe der Menschheit“. Somit wird die Produktion zu einer Art Allgemeingut, herrührend aus einem System gegenseitiger Abhängigkeiten, das nicht nur wirtschaftliche Bestandteile aufweist.

Nun hat sich zwar die Funktionsweise der Wirtschaft gewandelt, nicht aber der Blick darauf. Zu diesem Aspekt findet man höchst Erbauliches in den Stellungnahmen der meisten Politiker und Wirtschaftswissenschaftler. Sie reden vom „Umbruch“, wenn sie eigentlich „Konjunktur“ meinen. Sie erfassen lediglich die monetaristische Seite der Phänomene – Zinssatz, Haushaltsausgleich, kontrollierte Tariferhöhungen oder Konjunkturbelebung über die Ausgaben –, als wären die Determinanten für kurzfristige Entwicklungen dieselben wie für langfristige und als böten die Währungen ein getreues Spiegelbild der Wirklichkeit. Dabei ist ein grundlegendes Problem der Wirtschaft doch gerade, daß sie zwischen häufig einander widersprechenden Anforderungen von Kurz- und Langfristigkeit zu entscheiden hat, daß sie sich dabei nicht auf eine einseitige Sicht der Dinge beschränken kann und daß es außerdem keinen Sinn macht, über die industrielle Revolution zu reden, ohne von der Dampfmaschine Notiz genommen zu haben.

Vor allem aber beruht dieser Ansatz auf falschen Annahmen. Die Erweiterung des wirtschaftlichen Bereichs bedeutet auch seine Öffnung gegenüber ethischen und soziokulturellen Fragestellungen. In den genannten Stellungnahmen hingegen wird bei allen politischen und sozialen Problemen nur die wirtschaftliche Komponente berücksichtigt, die wiederum auf den monetaristischen Aspekt eingeschränkt ist. Zu einem Zeitpunkt, da die Märkte ihre regulierende Funktion einbüßen und statt dessen Ungleichgewichte erzeugen, empfiehlt man uns die Selbstregulierung der Handelsströme und die Ausweitung des Freihandels. Während die Effizienz des einzelnen Wirtschaftsfaktors immer mehr an Bedeutung verliert, will man uns einreden, daß wir die Vollbeschäftigung durch eine Politik der „Flexibilisierung“ wiedergewinnen, welche die Löhne der am wenigsten qualifizierten Arbeitskräfte auf dem mittelmäßigen Niveau ihrer marginalen Produktivität festschreibt.

Just zu einer Zeit, da die Produktion zu einem kollektiven Phänomen wird, möchte man uns dann auch noch als einziges und allgemeingültiges Kriterium für Initiative und Effizienz die Logik des Privatunternehmens und des persönlichen Profits aufzwingen. „Niemals sind wir gänzlich Zeitgenossen unserer Gegenwart“, schreibt Régis Debray. „Die Geschichte schreitet maskiert voran. Sie betritt die Bühne mit der Maske der voraufgegangenen Szene, und wir finden uns im Stück nicht mehr zurecht.“3

Welche Gesellschaftsform werden die Technologien unserer Zeit hervorbringen? Es hat den Anschein, als stünde der humanistische Traum von einer geeinten Welt, einem dank der Maschine von aller Mühsal befreiten Menschen und einer bewahrten Natur kurz vor der Verwirklichung. Denn schließlich entlastet die Maschine die Menschheit vom Zwang zur Produktion: Vor 150 Jahren erbrachte ein Arbeiter jährlich eine Leistung von 5000 Stunden, vor 100 Jahren waren es 3200 Stunden, in den siebziger Jahren 1900 Stunden, und zur Zeit sind es nur noch 1520 Stunden. Bezogen auf den Anteil des Wachzustandes an der Gesamtlebenszeit eines Menschen beträgt die Arbeitszeit 70 Prozent im Jahre 1850, 43 Prozent im Jahre 1900, 18 Prozent im Jahre 1980 und 14 Prozent heute.4 Die Maschine ist der Springquell des Reichtums.

Zwischen 1960 und 1990 ist die Pro-Kopf-Produktion weltweit trotz Bevölkerungswachstums auf das 2,5fache angewachsen; die Nahrungsmittelproduktion stieg von 2300 Kilokalorien (kcal) pro Tag auf 2700 kcal, das heißt von 90 auf 109 Prozent des Grundbedarfs. In Frankreich nahm das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Verlauf der letzten zehn Jahre um 1350 Milliarden Franc zu, das heißt um durchschnittlich 2000 Franc pro Kopf und pro Monat. Und was den Kampf gegen Krankheit und Tod angeht, so ist die Lebenserwartung bei allen Altersstufen gestiegen, ebenso wie die Zahl der Lebensjahre bei guter Gesundheit, und die Säuglingssterblichkeit ist gesunken.

Wird die Natur geschont? In Frankreich stieg – besonders im Zeitraum 1946 bis 1996 – die landwirtschaftliche Produktion um 110 Prozent, während zugleich die bewirtschafteten Flächen um 6 Millionen Hektar zurückgingen. Eine sparsamere Raumnutzung also, ebenso aber auch eine sparsamere Verwendung von Material, Energie und Rohstoffen pro Einheit des Sozialprodukts. So benötigt man für die Herstellung eines Autos bei gleichbleibendem Aufwand 40 Prozent weniger Energie als 1959.5 Die voraussichtliche Entwicklung des weltweiten Energiebedarfs – technologische Fortschritte inbegriffen – steht unter weniger düsteren Vorzeichen, als man es noch vor ein paar Jahren vermutet hätte6 . Rein technisch sind die großen Plagen der Menschheit schon besiegt, oder könnten es bald sein.

Dennoch ist keine von ihnen vom Erdball verschwunden, und die Prophezeiung: „Das 20. Jahrhundert wird glücklich sein“, die Victor Hugo seinem Enjolras in den Mund legt, als dieser auf die Barrikade steigt, wo er den Tod findet, hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack. Denn ebenjene Technologien des Immateriellen, auf die sich die Verheißung gründet, bergen auch die Möglichkeit ihrer Verkehrung ins Gegenteil. Verbunden mit einer zügellosen Politik weltweiter Liberalisierung der Waren- und Kapitalströme haben sie die Voraussetzungen für einen Produktionsrausch und eine übersteigerte Finanzlogik geschaffen, die das genaue Gegenteil dessen erzeugen, was man erwarten konnte.

Produktivität schlägt genau dann in Produktivismus um, wenn die Steigerung der Effizienz sich nicht mehr an der Befriedigung von Bedürfnissen ausrichtet, sondern zum Selbstzweck wird. Unternehmen, die mit sinkenden Stückkosten arbeiten, müssen unweigerlich auf den Weltmarkt vordringen als Austragungsort ihrer höchstkapitalistischen Aktivitäten in den Bereichen Informatik, Chemie, Luft- und Raumfahrt, Fahrzeugbau und Lebensmittelindustrie. Eroberung oder Verteidigung von Marktanteilen – allein schon das militärische Vokabular ist aufschlußreich – gewinnen vitale Bedeutung. Der freie Warenverkehr geht sodann in unmittelbare Feindseligkeiten über. Ein produktivistischer Teufelskreis: Überproduktion führt zu Preiskämpfen, die wiederum Bemühungen um erhöhte Produktivität basierend auf neuen Eroberungen erforderlich machen. Man konnte das im Bereich des Luftverkehrs beobachten und kann es derzeit in der Automobilbranche verfolgen.

Der Einfluß der Hochfinanz7 verstärkt sich mit der Deregulierung zu Beginn der achtziger Jahre, die weltweit alle Barrieren gegen die Kapitalbewegungen niederreißt, während der Einsatz von Computern der Finanzwelt gleichzeitig ein phantastisches Instrumentarium zur Konzentration und Bearbeitung des Immateriellen an die Hand gibt. Diese Branche, die rund um die Uhr Verbindungen zwischen allen großen Finanzplätzen der Welt herstellt, hat am stärksten von der Entwicklung der Informatik profitiert.8 Ihre Verarbeitungskapazität ist zwischen 1982 und 1990 in einem durchschnittlichen Takt von 40 Prozent jährlich gestiegen.

Durch die Freigabe der Wechselkurse und die Deregulierung hat die Finanzsphäre allmählich immer mehr Eigenständigkeit gewonnen, ist zu einem aufgeblasenen „Ballon“ geworden, der über den Staaten schwebt.9 In rein spekulativen Tauschgeschäften – Devisen gegen Devisen – werden weltweit 1300 Milliarden Dollar täglich umgesetzt, das ist 50mal soviel wie der Umsatz durch Warenaustausch und fast so viel wie die Reserven aller Zentralbanken der Welt zusammengerechnet. Insofern ist kein Staat imstande, einer auch nur wenige Tage andauernden Spekulation der „Märkte“ die Stirn zu bieten. Unter dem Druck der Finanzmärkte mußte sogar das Europäische Währungssystem (EWS) im Jahre 1993 seine Bandbreiten von plus/minus 2,25 Prozent auf plus/minus 15 Prozent nach oben korrigieren.

Die Entscheidungszentren verlagern sich also von der Ebene der Einzelstaaten auf die globale Ebene und aus dem öffentlichen Bereich in eine Sphäre, die von Privatinteressen beherrscht wird, wobei es sich letztlich nur um die Interessen einiger weniger Finanzinstitute handelt. Ihre Akteure folgen einer sehr eigenen Logik, die weder an der Schaffung von Wohlstand noch an der Förderung bestimmter Gebiete, noch am Wohlergehen der Menschheit orientiert ist, sondern an der möglichst raschen Rentabilisierung eines Kapitals. Aus den Zwängen dieser Logik erklärt sich das kurzfristige Vorgehen vieler Unternehmen, deren Finanzierung von den Kapitalmärkten abhängt.

So erklärt sich auch, warum die Regierungen sich unablässig um die Stabilität bemühen müssen – vom Haushaltsausgleich bis zur Einschränkung der Sozialausgaben. Die Finanzwelt fürchtet nämlich nichts so sehr wie eine Minderung der Realverzinsung durch Inflation. Monetaristische Erwägungen haben mithin Vorrang, und die Wirklichkeit paßt sich an. Weckt das Wachstum in Amerika Inflationsängste, so gibt die Börse nach, und höhere Zinssätze bremsen die Investitionen. Wenn Moulinex oder Renault den Abbau von Arbeitsplätzen ankündigen, setzt ihre Börsennotierung zum Höhenflug an.

In dieser verkehrten Welt schlägt die Prophezeiung Victor Hugos in ihr Gegenteil um. Was die Einheit versprach, führt nun zum Auseinanderbrechen. Und bei einer Verschärfung des Wettbewerbs bleiben immer die Schwächsten auf der Strecke. Die Finanzströme von Norden nach Süden, die zwischen 1994 und 1995 um 20 Prozent zugenommen und ein Rekordniveau von 285 Milliarden Dollar erreicht haben, beruhen im wesentlichen auf privatem Kapital, dessen Anteil sich innerhalb von sechs Jahren versechsfacht hat und nun 85 Prozent der Gesamtsumme ausmacht.10

Dieses Kapital tritt vorwiegend in der Form von Investitionen aus kurzfristigen Geldquellen auf und eignet sich daher kaum zur Finanzierung langfristiger Entwicklungsstrategien. Hinter den Zahlen – ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 6 Prozent für die südlichen Länder gegenüber 2,5 Prozent für die nördlichen – verbergen sich insofern tiefgreifende Unterschiede. Von 1969 bis 1993 fiel den 20 Prozent Spitzenverdienern der Erde ein von 70 auf 85 Prozent gewachsener Anteil am weltweiten Sozialprodukt zu, während der Anteil der unteren 20 Prozent der Einkommensempfänger von 2,3 auf 1,4 Prozent zurückging. 1,3 Milliarden Menschen leben in absoluter Armut, mit weniger als einem Dollar pro Tag.11 Zwar hat sich die Nahrungsversorgung weltweit verbessert, doch leiden immer noch 800 Millionen Menschen an chronischer Unterernährung.12

Eine weitere Verkehrung der Absicht ins Gegenteil: Die Ablösung der menschlichen Arbeitskraft durch die Maschine führt zu Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Kapitalbildung und technischer Fortschritt entlasten zwar die Menschheit von Mühsal, zugleich ist jedoch die Beschleunigung dieser Prozesse daran gebunden, daß der Anteil des Faktors Arbeit an der Produktion abnimmt. In einer produktivistischen Welt, der die Sinngebung durch Zielsetzungen abhanden gekommen ist, sollen Produktionsüberschüsse nicht mehr die Lebensqualität der Arbeiter oder der Verbraucher verbessern helfen, sondern zu neuen Produktionssteigerungen beitragen, die ihrerseits neue Überschüsse erzeugen.

Dabei können nur die Kapitaleigner ihr Schäfchen ins trockene bringen, der Anteil der Löhne am Sozialprodukt sinkt dagegen überall. In Deutschland ging er während der Jahre 1965 bis 1994 von 62,7 auf 61,2 Prozent des BIP zurück, in den USA von 68,5 auf 66,7 Prozent. In Frankreich sank er zwischen 1982 und 1995 von 68,8 auf 59,7 Prozent, während sich die Vermögenseinkünfte dort im gleichen Zeitraum verdoppelten: 42 Prozent des von den Unternehmen erzeugten Mehrwerts werden angelegt, und nur 36 Prozent werden für die Löhne aufgewandt.13 Die bei 115 Prozent liegende Eigenfinanzierungskapazität der Unternehmen fließt, nach Schuldendienst, einerseits dem Finanzkapital zu, welches keine Stellen schafft, und andererseits in produktivitätssteigernde Investitionen, die Arbeitsplätze abbauen.

Auf dieser gemeinsamen Basis entwickeln sich zwei Strategien: Die eine, typisch für Kontinentaleuropa, räumt der Erhaltung des sozialen Netzes den Vorrang vor der Schaffung von Arbeitsplätzen ein, während die britisch-amerikanische den umgekehrten Weg einschlägt und dafür in Kauf nimmt, daß die Arbeitsplätze nicht abgesichert sind. Die genannten Zahlen haben schon gezeigt, daß die Lohnquote in Frankreich niedriger ist als in den USA und stärker abgenommen hat; außerdem sind 70 Prozent der zwischen 1983 und 1987 in Europa geschaffenen Stellen schlecht bezahlte Teilzeitjobs für ungelernte Arbeiter.14 André Gorz zufolge15 lag dieser Prozentsatz bei den 500 größten amerikanischen Unternehmen im Jahre 1994 bei 90 Prozent. Eine Politik der Verteidigung sozialer Errungenschaften ist also nirgendwo in Sicht, statt dessen regieren Verunsicherung und „Flexibilisierung“.

Die Ergebnisse unterscheiden sich graduell, nicht grundsätzlich: Arbeitslosigkeit überall, wenn auch mehr oder weniger hoch. Die Erfolge auf dem europäischen Kontinent, wo das soziale Netz besser standhält, sind äußerst bescheiden: 18,2 Millionen sind arbeitslos bei einer Durchschnittsrate von 10 Prozent. In Frankreich belief sich die Zahl der stellungslosen Personen (Arbeitssuchende, Arbeitslose in Fortbildung, Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und ähnliche, sowie Vorruheständler) im Jahre 1995 auf 5 Millionen.16 In Deutschland wurden zwischen 1990 und 1997 mehr als 2 Millionen Stellen abgebaut, davon allein 600000 im Zeitraum vom Januar 1996 bis Januar 1997.

In den Ländern mit großer Flexibilität ist die Lage, allen Behauptungen zum Trotz, kaum besser. Um die von 1993 bis 1997 in den USA geschaffenen 10,5 Millionen Arbeitsplätze wird viel Aufhebens gemacht. Wendet man jedoch ein für alle Länder identisches Berechnungsmodell an, so lag die Arbeitslosigkeit in Amerika im Jahre 1989 bei 9,3 Prozent – gegenüber den offiziell genannten 6 Prozent17 – und im Jahre 1996 bei 10 statt 5,2 Prozent. Im selben Jahr belief sich die Zahl der unbeschäftigten Personen in Großbritannien auf 5,7 Millionen und war damit höher als in Frankreich.

Eine bittere Tatsache ist es auch, daß die Länder zwar in mehr oder minder hohem Maße Ungleichheiten erzeugen, daß aber Ungleichheit und Armut überall wachsen. In den USA stieg der Anteil der 5 Prozent Spitzenverdiener am BIP von 16,5 Prozent im Jahre 1974 auf 21,1 Prozent im Jahre 1994, während der Anteil der Ärmsten daran von 4,8 auf 3,6 Prozent sank, was die am wenigsten Motivierten entmutigt und der Kriminalität zutreibt. Zwar verläuft diese Entwicklung in unterschiedlicher Geschwindigkeit, aber die Tendenz ist identisch. In Amerika leben 38 Millionen (14 Prozent der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze, gegenüber 57 Millionen, das heißt 17 Prozent der Bevölkerung, in Europa – den höchsten Wert (23,5 Prozent) erreicht Großbritannien, das Paradebeispiel des Liberalismus.

Also eine mehr oder weniger starke, aber überall vorhandene Verarmung der Arbeitenden: Man hat in Europa lange angenommen, die „working poor“ seien eine amerikanische Besonderheit, doch das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften hat den Erweis erbracht, daß sie auch in der Alten Welt vorkommen. Zwei Drittel der Amerikaner – aber ebenfalls ein Drittel der Europäer –, die unterhalb der Armutsgrenze leben, gehören einer Familie an, in der mindestens ein Familienmitglied erwerbstätig ist. Trotz ihrer unterschiedlichen Höhe sind diese Prozentangaben aussagekräftig. Unsicherheit, Ungleichheit, Verarmung – überall beruhen die Fortschritte des Systems auf menschlichem Unglück.

Ein weiterere Entwicklung, die sich ins Gegenteil des Beabsichtigten verkehrt: Die Erhaltung der Natur schlägt in exzessive Ausbeutung um. Die Technologien des Immateriellen gestatten theoretisch Einsparungen bei dem für die Erzeugung einer Produkteinheit notwendigen Einsatz von Raum, Arbeit, Material und Energie. Dieser Tendenz steht jedoch die ungeheure Mengensteigerung entgegen. Kann die Logik des Privatinteresses sich ungehemmt entfalten, so bringt sie einen jeden dazu, die Früchte seiner Tätigkeit für sich zu behalten, die Kosten aber zu „externalisieren“, das heißt auf die Gemeinschaft abzuwälzen. So ermöglicht das Prinzip der „just-in- time“-Produktion den Unternehmen eine Senkung ihrer Lagerhaltungskosten, allerdings entstehen dadurch Umweltkosten und Infrastrukturschäden (in Höhe von 10 Prozent, bzw. 7 Prozent der Transportkosten), für die die Gemeinschaft aufkommt.

Sich selbst überlassen, wird diese Entwicklung kaum anders als in einer der folgenden Varianten verlaufen:

– eine zunehmende Selbstzerstörung des Systems, das seiner Logik bis zum Ende folgt und die Menschheit dabei mit sich reißt,

– eine plötzliche Explosion, entweder weil der „Finanzballon“ platzt oder weil die Menschen rebellieren,

– ein Neuaufbau, der die Einzellösungen bündelt, die von verschiedenen sozialen Kräften eingebracht werden – Kräften, die bei aller Differenz von der gemeinsamen Evolution getragen werden und sich aufeinander zubewegen.

Da die ersten beiden Varianten in die Katastrophe führen und die dritte Möglichkeit viele Unwägbarkeiten enthält, bleibt es jedoch unerläßlich, nach neuen Wegen für ein bewußtes und entschiedenes Vorgehen zu suchen.

dt. Margrethe Schmeer

* Emeritierter Professor der Universität Paris-I, Verfasser von „L‘Economie et le Vivant“, Paris (Economica) 1996.

Fußnoten: 1 World Commission of Environment and Development: Brundtland-Bericht, „Unsere gemeinsame Zukunft“, Greven (Eggenkamp) 1987. 2 Philippe Lorino, „L'Economiste et le Manageur“, Paris (La Découverte) 1989. 3 Régis Debray, „Revolution in der Revolution?“, München (Trikont) 1967. 4 Roger Sue, „Temps et ordre social“, Paris (PUF) 1994. 5 Benjamin Dessus, „Atlas de l'énergie“, Paris (Syros) 1994. 6 z. B. José Goldenberg, „L'Energie pour un monde viable“, Editions du ministère de la coopération et du développement, coll. „Focal Coop“, Paris (La Documentation française) 1991. 7 René Passet, „L'Empire de la finance“, in: „Les nouveaux maîtres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, November 1995, Paris. 8 Charles Goldfinger, „L'Utile et le Futile“, Paris (Odile Jacob) 1994. 9 Claude Serfaty, „Le rôle actif des groupes à dominante industrielle dans la financiarisation de l'économie“, in „La Mondialisation financière (unter Leitung von François Chesnais), Paris (Syros) 1996. 10 Weltbank, „Global Development Finance“, Washington 1997. 11 Entwicklungsprogramm der UN (UNDP), „Rapport mondial sur le développement humain 1997“, Paris (Economica) 1997. 12 Vgl. Karen Lehmann, „Freier Handel oder gesicherte Welternährung?“, Le Monde diplomatique, November 1996. 13 CERC-Association (Connaissance de l'emploi des revenus et des coûts), Note vom April 1996. 14 Roger Sue, op. cit. 15 Vgl. André Gorz, „Dépasser la société salariale“, Transversales Science Culture, Nr. 32, März/April 1995. 16 CERC-Association, „Chiffrer le chômage“, Nr. 1, 1997. Dazu auch „Les chiffres du chômage et la réalité“, Le Monde, 21. Februar 1997. 17 Vgl. auch „Und ewig währt das amerikanische Wunder“, Le Monde diplomatique, Januar 1997, „Soziales Dumping in Großbritannien“, Le Monde diplomatique, Februar 1997, und „Chômage: les vrais chiffres“, Le Monde diplomatique, Dezember 1993.

Le Monde diplomatique vom 11.07.1997, von RENÉ PASSET