Kleine Bewegungen in Nordirland
AUCH in diesem Jahr wieder schrillen in Nordirland die Alarmglocken, sobald der Juli heranrückt. Die Protestanten des Oranierordens treten ihre traditionellen Märsche an, um einer Schlacht zu gedenken, die über dreihundert Jahre zurückliegt – und diese Feierlichkeiten werden von der katholischen Gemeinschaft als Provokation empfunden. Vor Ort ist die Lage weiterhin sehr gespannt. Doch die politischen Veränderungen, die in den letzten zwei Monaten mit der Wahl von Tony Blair in London und Bertie Ahern in Dublin eingetreten sind, geben Anlaß zur Hoffnung auf einen neuen Waffenstillstand. Um so mehr, als US- Präsident Clinton weiterhin an der Frage stark interessiert ist. Paradoxerweise ist zugleich das Risiko einer erneuten Zuspitzung des Konflikts größer denn je.
Von PAUL BRENNAN *
Im Laufe der letzten vierzehn Monate sind die Nordiren dreimal an die Wahlurnen gegangen, und immer stand im Grunde die Verfassungsentscheidung über die Zukunft der sechs Grafschaften zur Abstimmung. Was sich bei allen drei Wahlen eindeutig gezeigt hat, ist der Wunsch, die Situation zu verändern und endlich zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.
Die erste Abstimmung wurde im Mai 1996 unter dem Druck der Unionsanhänger von der britischen Regierung organisiert. Es ging um die Bildung einer Regionalversammlung, die man „Forum“ getauft hatte und die bei den kommenden Verhandlungen in Belfast eine zentrale Rolle spielen sollte – jedenfalls stellte man sich das in London so vor. Zur allgemeinen Überraschung gelang der republikanischen Partei Sinn Féin unter Gerry Adams ein Durchbruch, und die nationalistische SDLP (gemäßigt, katholisch) unter John Hume konnte ihre Stellung behaupten.
Ein Jahr darauf, am 1. Mai 1997, ging die Legislaturperiode der britischen Regierung zu Ende, in ganz Großbritannien fanden Parlamentswahlen statt. Erneute Überraschung in Nordirland: Alle Gruppierungen zusammengenommen, lag der prokatholische Stimmenanteil nun über der 40-Prozent-Marke. Es handelte sich dabei durchaus nicht um eine normale Entwicklung, die etwa Ausdruck einer demographischen Veränderung wäre1 , sondern um ein deutliches Zeichen der Zustimmung zum Kurs von Sinn Féin und SDLP. Innerhalb des katholischen Lagers hatte die Partei Sinn Féin noch mehr Gründe, ihren Sieg zu feiern, als die SDLP. Von 78000 Stimmen bei den letzten Wahlen von 1992 war die Unterstützung für die Partei von Gerry Adams jetzt auf 127000 Stimmen angewachsen und hatte ihr zwei Sitze eingetragen. Darüber hinaus bestätigte dieses Ergebnis, wie stark die Basis der Partei innerhalb der katholischen Wählerschaft ist, und zeigte, daß sie nunmehr 43 Prozent dieser Wähler hinter sich hat und der SDLP als feindlicher Bruderpartei „nur“ 57 Prozent läßt. Die Nationalisten und die Republikaner hatten kaum Zeit, das Ereignis zu feiern, da trugen sie schon den nächsten Sieg davon. Das war die dritte Überraschung dieses Jahres, zwar auf politischer Ebene weniger bedeutsam als die vorhergehenden – es handelte sich um Kommunalwahlen – , doch auf symbolischer Ebene desto gewichtiger. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fiel die Stadtregierung von Belfast, die immer in der Hand der Unionsanhänger war, an die Nationalisten, und zwar mit einem deutlichen Sieg für Sinn Féin. In einer Region, in der Symbole eine wichtigere Rolle spielen als andernorts, insbesondere wenn es sich um Nordirlands Hauptstadt handelt, wird die Niederlage der einen, die Anerkennung der anderen und der anschließende Machtwechsel noch lange die Gemüter bewegen.
Die Jahre 1996/97 bedeuteten also für Sinn Féin einen Wendepunkt: Die Legitimität der Partei wurde deutlich gestärkt. Hinzu kommt, daß im Juni ein Abgeordneter von Sinn Féin in das Parlament der Republik Irland in Dublin einzog. Gerry Adams sieht damit seine Autorität vor allem innerhalb der Partei bestätigt. Daß sich die Anhänger des bewaffneten Kampfes angesichts dieses vierfachen Siegs von Sinn Féin in einem Zeitraum von nur dreizehn Monaten mit der neuen Realität abfinden werden, ist aber sehr zu bezweifeln: Am 16. Juni dieses Jahres wurden in Nordirland bei einem Anschlag zwei Polizisten getötet, die IRA übernahm dafür die Verantwortung. Dabei haben die Wähler allen Konfliktparteien, und insbesondere den unbeugsamen Vertretern der IRA, eines klar zu verstehen gegeben: Die Bevölkerung, selbst in den ärmsten Vierteln von West-Belfast, setzt nicht mehr auf Gewalt, sondern auf politische Lösungen. Noch deutlicher aber ist das Signal an die britische Regierung. Sie zahlt nun den Preis dafür, daß sie die vereinbarte Waffenruhe zwischen August 1994 und Februar 1996 nicht ausreichend genutzt hat, um mit den Republikanern die nötigen Kompromisse auszuhandeln. Kurzum: Die Menschen in Nordirland machen London für den Bruch des Waffenstillstands im letzten Jahr verantwortlich.
Die Serie der politischen Erfolge, die Sinn Féin im Laufe eines Jahres hat verbuchen können, rücken einen Waffenstillstand wieder in den Bereich des Möglichen. Er kann jedoch erst dann umgesetzt werden, wenn Gerry Adams und seine Mitstreiter die Unterstützung ihres eigenen politischen Lagers gewonnen haben. Denn eine entscheidende Voraussetzung für die Beendigung der politischen Gewalttaten in Nordirland ist die geschlossene Haltung der republikanischen Bewegung: Jedes einzelne Mitglied muß sich an die Entscheidungen und eventuellen Konzessionen gebunden fühlen. Genau da liegt für Gerry Adams das Problem: Der Sinn-Féin-Vorsitzende muß ständig mit einer Spaltung in seinem Lager rechnen.
Die britische Regierung hat ihn in den vergangenen drei Jahren bei seinen Bemühungen um rasche Fortschritte nicht unterstützt. Da weder sie noch die Regierung der Republik Irland in konkreten Gesten zum Ausdruck bringt, daß sie die verstärkte Legitimierung von Gerry Adams zur Kenntnis genommen hat und ihr Rechnung trägt, hat der Vorsitzende der Republikaner weiterhin nur begrenzten Spielraum in der eigenen politischen Bewegung. Bei den Vertretern einer besonders unnachgiebigen Haltung werden seine jüngsten Erfolge erst dann Gewicht erhalten, wenn sie in London und Dublin ernstgenommen werden.
Im Lager der Unionisten wiederum ist wachsende Verwirrung auszumachen. Die Anhänger der Unionspartei von Ulster (UUP) unter David Trimble werden deutlich zahlreicher. Deren Wählerschaft ist innerhalb eines Jahres von 24 auf 32 Prozent gestiegen, und die Partei verfügt nun über zehn Sitze in Westminster gegenüber den neun, die sie bei den vorhergehenden Wahlen erhielt. Man könnte versucht sein, diese Entwicklung als wachsende Unterstützung der Wähler für einen Flügel der Unionsbewegung zu deuten, der sowohl den Katholiken der SDLP als auch Dublin gegenüber Flexibilität zeigt. Im Unterschied zu Sinn Féin jedoch ist die Haltung der Unionspartei von Ulster völlig unbeweglich, was nichts Gutes erwarten läßt.
Die Demokratische Unionspartei (DUP) mußte ihrerseits mitansehen, wie ihre Wählerschaft von 19 auf 13 Prozent schrumpfte – zweifellos, weil man den Extremismus des Vorsitzenden Ian Paisley langsam leid ist. Entsprechend hat sich die Zahl der Sitze der DUP in Westminster im letzten Mai von drei auf zwei verringert. Dieser Rückgang bedeutet eine deutliche Absage an die Partei, die nach wie vor eine unversöhnliche Haltung gegenüber Sinn Féin vertritt und Gerry Adams (oder seinen Vertretern) jede Teilnahme an den Friedensverhandlungen verweigern will, solange sich die IRA nicht bereit erklärt, alle Waffen abzuliefern.
Ein weiterer Hinweis auf die Wählerwanderungen im protestantischen Lager, der durchaus Schlüsse auf eventuelle künftige Verschiebungen zuläßt, ist der Erfolg zweier kleiner politischer Parteien, die den paramilitärischen Loyalisten nahestehen und sich erst seit dem letzten Jahr um die Gunst der Wähler bemühen: die Progressive Unionspartei (PUP) und die Demokratische Ulsterpartei (UDP). Beide sind linksorientiert und sehen sich als Vertreter der protestantischen Arbeiterklasse. Bei den Kommunalwahlen am 21. Mai haben sie fast 6 Prozent der Stimmen erringen können.
Es ist schwer zu sagen, ob sie ihren Stimmenanteil werden verbessern können, doch die Heftigkeit der wiederholten Angriffe des Pastors Ian Paisley auf die beiden Parteien ist ein sicheres Zeichen dafür, daß PUP und UDP ihm seine Wählerschaft streitig machen und daß eine Verschärfung der politischen Gangart derzeit nicht gefragt ist. Wesley Hutchinson, Experte für die nordirischen Loyalistenbewegungen2 , zögert nicht, auf die „frappierenden Ähnlichkeiten zwischen der PUP und Sinn Féin“ hinzuweisen: die gleiche progressive Orientierung, die gleiche von der Verweigerung des Konfessionalismus geprägte politische Rhetorik, die gleiche militärische Vergangenheit (oder Gegenwart). Hinzuzufügen wäre, daß die PUP für eine Teilnahme aller Parteien an den Friedensverhandlungen plädiert – ohne Vorbedingungen, was heißt, daß sie eine Teilnahme von Sinn Féin akzeptiert. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß ein großer Teil der protestantischen Wählerschaft Nordirlands die PUP bislang mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet und besorgter denn je in die Zukunft blickt. Daß seit Juni 1996 die Parteien am Verhandlungstisch sitzen, die mit den protestantischen paramilitärischen Gruppen sympathisieren, zeigt, daß die britische Regierung und die nordirischen Parteien in der Lage sind, sich für den Dialog und gegen Ausschluß und Ächtung zu entscheiden. Daß sie den Republikanern gegenüber nicht dieselbe Haltung einnehmen, ist ein großer Fehler – das Ende der Waffenruhe im Februar 1996 war der Preis dafür, daß dieser Ansatz zu einer politischen Öffnung nicht weiterverfolgt wurde.
In Dublin indessen könnte der Wahlsieg der gemäßigten Konservativen von Fianna Fáil, der größten politischen Partei der Republik Irland, am 6. Juni dieses Jahres, ebenfalls dazu beitragen, daß die Dinge in Bewegung kommen. Diese Partei hat sich immer für das Anliegen der Republikaner und die Einheit Irlands eingesetzt (unter der Bedingung, daß sie auf dem Verhandlungsweg erzielt wird) und hat ihre Kompetenz bereits unter Beweis gestellt. Es war ein Mitglied der Parteiführung von Fianna Fáil, der ehemalige Premierminister Albert Reynolds, dem es Anfang der neunziger Jahre gelang, die diffizilen Vorverhandlungen zu führen, die schließlich in der gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1993 resultierten.3
Es hat den Anschein, als ob die Bedingungen von 1993, die die Entwicklung eines bis dahin undenkbaren Dreiecks der Kooperation zwischen Belfast, Dublin und London ermöglicht hatten, wieder gegeben seien. Die Frage jedoch, welche Haltung die Labour-Regierung in der Nordirlandfrage einnehmen wird, steht völlig offen, denn bislang sind Tony Blairs Erklärungen in dieser Hinsicht widersprüchlich. Als der neue Premierminister Anfang Juni zum ersten Mal einräumte, daß Großbritannien an der Tragödie der großen Hungersnot im letzten Jahrhundert Verantwortung trägt4 , sorgte er für Überraschung. Doch nur kurze Zeit vorher hatte derselbe Tony Blair bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in Belfast in seiner Eigenschaft als Premierminister feierlich erklärt: „Niemand in diesem Saal, auch nicht der jüngste, der hier anwesend ist, wird jemals ein Nordirland erleben, das nicht einen integralen Teil des Vereinigten Königreiches bildet.“ Diese Worte ließen manchen im nationalistischen Milieu erschaudern und haben das Mißtrauen beziehungsweise den Pessimismus der Republikaner verstärkt. Daß die unversöhnliche Nordirlandpolitik in den Jahren 1974-79 auf das Konto des Premierministers einer Labour-Regierung, James Callaghan, ging, hat niemand hier vergessen. In offener Parteinahme für die Unionsanhänger ergriff Callaghan eine Reihe von repressiven Maßnahmen, die schließlich zum Hungerstreik von Bobby Sands und seinen neun republikanischen Mitstreitern führte, der traurige Berühmtheit erlangt hat.5
Wenn Tony Blair es wirklich will, kann er den Nordirland-Konflikt beilegen. Sein Hauptvorteil liegt in der eindeutigen Mehrheit, über die er im Unterhaus verfügt. Der Einfluß der irischen Einwanderer in der Labour-Partei und ihr Gewicht in der Gewerkschaftsbewegung lassen hoffen, daß der Premierminister seine Entscheidungen eng mit Dublin und Washington abstimmen wird. Dafür muß er jedoch, im Unterschied zu seinem Labour- Vorgänger James Callaghan in den siebziger Jahren, aus den Ergebnissen der letzten drei Wahlen in Nordirland die richtigen Schlüsse ziehen.
dt. Esther Kinsky
* Professor für Irlandkunde an der Universität Caen und Forschungsleiter an der Universität Paris-III. Autor u. a. von „Civilisation irlandaise“, Paris (Hachette) 1995.