Wessen Straße ist die Straße
DAS fotografische Bild hat seine Bedeutung in der modernen Welt nicht verloren, im Gegenteil. Sein Einfluß im politischen, sozialen und kulturellen Leben ist nach wie vor beträchtlich. Wurde aber früher dem Recht auf Abbildung und damit dem Recht des Betrachters Vorrang eingeräumt, so entscheiden die Gerichte immer häufiger zugunsten der Urheber – und damit gegen Fotografen und Betrachter. Öffentliche Räume hören damit auf, dem Bürger zu gehören, und gehen in Privateigentum über. Das kollektive Gedächtnis der Gesellschaften gerät durch diese Entwicklung in Gefahr.
Von BERNARD EDELMAN und EDGAR ROSKIS *
Nehmen wir eine Fotografie, die zu den berühmten ihrer Epoche gehört. Signiert von Pierre Petit (1832-1909), aufgenommen im Jahr 1888, zeigt sie den Bau des Eiffelturms im fortgeschrittenen Stadium: Das vollendete erste Stockwerk wird überragt von Stahlträgern, die bereits gen Himmel zeigen. Der Eiffelturm: einerseits ein öffentliches Gebäude, sichtbar für jedermann, mit einer großen Zukunft als Wahrzeichen der Stadt Paris, andererseits ein „geistiges Werk“, dessen Balance, Ausdruck und Design (das man damals allerdings noch nicht so nannte) wir ganz und gar dem Ingenieur Gustave Eiffel verdanken. In diesem doppelten Sinne wird der Turm von seiner Fertigstellung an rechtlich erfaßt und vom Gesetzgeber in Gewahrsam genommen: Unbestritten ist, daß das Bauwerk für die Dauer der Weltausstellung dem Staat gehört und anschließend an die Stadt zurückfällt. Und doch muß der Pariser Gerichtshof anläßlich der Einweihung des Turms im Jahr 1893 ein Urteil sprechen, das dessen freie fotografische Wiedergabe gestattet, damit „die Öffentlichkeit nicht des Rechtes verlustig geht, sich das Bild dieses Turms zu verschaffen.“ Dies gilt ungeachtet der Rechte des Urhebers (Eiffel) an seinem Werk. Man sollte meinen, daß die Richter damals nichts anderes aussprachen als eine Binsenweisheit mit einem Schuß Vernunft. Doch, leider, was gestern Binsenweisheit war, ist heute die Ausnahme.
Im 19. Jahrhundert gehörte, so schien es, die Straße der Öffentlichkeit, wenn nicht gar dem einzelnen Bürger. Eine idyllische Zeit für Fotografen wie Jean- Eugène Atget (1857-1927), Charles Marville (1816-1879) und die anderen Väter der „Straßenreportage“: Nicht nur war das Objektiv dem menschlichen Auge gleichgestellt und genoß die gleichen Freiheiten, sondern auch die Straße war noch nicht vom Markt vereinnahmt worden. Es herrschte allgemein das Gefühl, sie könne niemandes Eigentum werden, bleibe vielmehr dem Fest, der Revolution, dem gemeinsamen Gedächtnis, das heißt, dem menschlichen Miteinander vorbehalten. In dieser Hinsicht schien sie dem „Werk der Natur“ ähnlich, das frei reproduzierbar ist.1 Mit einem Wort, die Straße war „natürlich“: Sie erfand sich selbst und bot sich freigiebig dem Künstler, dem Spaziergänger und dem Gaffer als Rohstoff dar.
All das ist Vergangenheit. Wir sind inzwischen in einem Stadium des Kommerzes, in dem alles seinen Geldwert hat. Die Architekten der „Grande Arche de la Défense“, der verstorbene Johan Otto von Spreckelsen und sein Nachfolger Paul Andreu, waren schlauer als Ingenieur Eiffel: In ihren Verträgen hatten sie sich ein unveräußerliches Urheberrecht bestätigen lassen, das sich bis auf das Bild, das heißt die Wiedergabe ihres Werkes erstreckte. – Grundlage war das Gesetz vom 11. März 1957 über das literarische und künstlerische Eigentum. Mit Folgen: Jedesmal, wenn die „Arche“, das moderne Äquivalent des Eiffelturms (und damit auch der anderen Pariser Baudenkmäler, vom Tour Montparnasse über die „Géode“, die große Kugel in der Cité des sciences et de l'industrie, bis zur Pyramide du Louvre), ohne Erlaubnis der Architekten zum Zwecke der Verbreitung gefilmt oder fotografiert würde, müßten die Gerichte auf betrügerische Nachahmung entscheiden.
Dagegen wurden beeindruckende und durchaus vernünftige Argumente ins Feld geführt: Das Reproduktionsverbot beeinträchtige die „in Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 proklamierte Freiheit der Mitteilung von Gedanken und Meinungen“. Die Argumentation hob die „internationale, historische und gemeinschaftliche Bestimmung“ der „Arche de la Défense“ hervor, die im übrigen von Staatsgeldern bezahlt worden sei, und berief sich auf „das Recht der Öffentlichkeit auf Information und Kultur, dem sich die individuellen Urheber- und Eigentumsrechte beugen müssen“. Der Gerichtshof aber entschied, daß „der Genuß des Urheberrechts, hinsichtlich seines exklusiven und allen entgegenzuhaltenden Charakters, der durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. März 1957 bestätigt wird, durch keine der von der Beklagten geltend gemachten Überlegungen erschüttert werden kann.“ Die Beklagte, in diesem Fall eine Postkartenverkäuferin, wurde verurteilt. In dieser Streitfrage, wie in vielen anderen, wog das Urheberrecht schwerer als das Recht der Öffentlichkeit auf Information.
Frisch verpackt und schon geschützt
EINE kapitalistische Gesellschaft wie die unsere würde in Aufruhr geraten, wenn ihre Güter nicht jeweils Eigentümern, seien es natürliche oder Rechtspersonen, eindeutig zugeschrieben wären. Ebenso einleuchtend ist, daß die Bildung des Eigentumsbegriffs den Wesenskern ihres Rechts ausmacht.2 Recht zu sprechen läuft – jedenfalls im Bereich des Zivilrechts – in den allermeisten Fällen darauf hinaus, zu entscheiden, was wem gehört. Dies gilt auch für die Prozesse „im Bildbereich“, die den Grenzstreitigkeiten vergleichbar sind, bei denen der Richter beispielsweise über die Zugehörigkeit einer Parzelle oder einer Mauer entscheiden muß. Eine Art von Mißbrauch liegt mit Sicherheit vor, wenn die Wiedergabe von Baudenkmälern oder Werken unterbunden wird, die noch dazu vom Steuerzahler finanziert wurden. Doch immerhin werden die Verbote (ob zu Recht oder zu Unrecht, ist eine andere Frage) im Namen des Urheberschutzes ausgesprochen, das heißt, im Namen der persönlichen Rechte. Was aber soll man von jenem Urteil des Pariser Appellationsgerichts vom 12. April 1995 halten, in dem festgestellt wird, „daß jeder Eigentümer das absolut uneingeschränkte Recht hat, die Reproduktion seines Eigentums zu kommerziellen Zwecken zu untersagen“3 ? Hier ist die Streitsache nicht ein „geistiges Werk“, sondern ein einfaches bretonisches Haus, dessen bauliche Originalität – wenn sie je existierte – längst der Öffentlichkeit angehört. Dennoch erhielt die Eigentümerin, Madame Kerguezec, 10000 Franc Schadenersatz von dem Fotografen Philippe Plisson, der das Bild des Hauses reproduziert und an die Agentur CLM-BBDO weitergegeben hatte – für eine Werbekampagne, die diese im Auftrag des Fremdenverkehrsvereins der Bretagne durchführte, das heißt, nebenbei gesagt, für einen Verband ohne Gewinninteressen.
Damit behandelt das Gericht das Bild wie ein vermögensrechtliches Attribut des Eigentums, selbst wenn der Fotograf sich in keiner Weise einer Schöpfung bemächtigt hat, die nicht seine eigene ist. Auf der anderen Seite erobert das Eigentumsrecht einen neuen Bereich – den des Bildes –, was alles in allem nicht ungereimt erscheint unter der Herrschaft einer Ideologie, die den materiellen Reichtum als Krönung aller gesellschaftlichen Tätigkeit verherrlicht. Man kann sich ausmalen, welchen praktischen Schaden diese Rechtsprechung, über ihre theoretischen Folgen hinaus, einem ungleich wertvolleren Gemeingut zufügen könnte: Es geht um nichts weniger als das visuelle Erbe der Menschheit. Man stelle sich vor, derartige Urteile hätten die fotografische und filmische Arbeit von ihren Anfängen an reglementiert – unter dem Vorwand, jede Fassade, ja der kleinste Blumentopf sei „Privateigentum“: Es bliebe uns nicht die geringste Spur aus dem Paris vor der Zeit Haussmanns, ja nicht einmal aus dem Haussmannschen Paris, keine Spur des Lebens in den Mietshäusern, Fabriken und Straßen, wie es uns Atget, Brassai, Kertész, Kollar, Izis, Ronis, Doisneau, Cartier-Bresson und viele andere Fotografen überliefert und neu geschenkt haben. Es wäre aus mit jenem außerordentlichen Gedächtnis der Stadt – ein unbezahlbarer Verlust.
Das einleuchtend klingende Sprichwort „Die Straße ist für alle da“ hat seine Gültigkeit verloren. Die Aneignung der Straße durch einzelne, die Inbesitznahme des öffentlichen Raumes, ständig vorangetrieben durch die methodische Ausübung eines, man kann es nicht anders sagen, bourgeoisen Rechts, gipfelt in einer Reihe von Affären. Die Hauptrolle in der ersten spielt der Künstler Christo, der sich bekanntlich auf die Verpackung von Monumenten spezialisiert hat. Er suchte, für die Zeit, in der er den Pont-Neuf öffentlich verschnürt hatte, alle fotografischen Aufnahmen der Brücke zu unterbinden. Am 13. März 1986 gab ihm der Pariser Gerichtshof recht und verbot die Verbreitung eines Kurzfilms, der von dem Ereignis berichtete, mit der Begründung, der Kläger habe ein „eigenständiges Werk“ geschaffen, indem er „die reinen Linien der Brücke und ihrer Laternen mittels Leinwand und Tauen zur Geltung gebracht“ habe. Das heißt, Christo wurde nicht nur das Recht zugestanden, die Stadt als verfügbares Material für seine Kunstwerke zu verwenden, sondern auch die alleinige Kontrolle über die bei dieser privaten Nutzung entstehenden öffentlichen Bilder. Der zu diesem „Fest“ geladene Reporter erhielt nicht einmal die Erlaubnis, die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, mitzunehmen. Man nahm also gewissermaßen sein Gedächtnis in Besitz.
Wenn wir diesen Fall zugrunde legen, war dann der Festzug zur Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution zur privaten Aneignung freigegeben? Dies ist die zweite Affäre, und auch sie hatte es in sich. Das Komitee der Zweihundertjahrfeier hatte den Publizisten Jean-Paul Goude beauftragt, einen Festzug auf den Champs-Elysées für den 14. Juli 1989 zu entwerfen und umzusetzen. Man muß wissen, daß die Ausrichtung solcher events („son et lumières“ zum 50. Jahrestag der Landung in der Normandie, Lichtspiele auf Schloß Chambord oder ein Spektakel auf dem Puy-du-Fou)4 ein einträglicher Beruf geworden ist – und daß bei solchen Veranstaltungen alle Beteiligten, nachdem sie sich kräftig aus den öffentlichen Kassen bedient haben, auch noch gierig nach dem einen oder anderen Zubrot schielen, das bei der Vermarktung der Rechte an der audiovisuellen Maschinerie abfällt.
Auch die Planer des Festzugs zur Zweihundertjahrfeier hatten nicht vergessen, eine Übertragungsvereinbarung mit TF1, Antenne 2 und GMT (Groupe Média de Télévision) abzuschließen. Der Kanal TF1 glaubte aus dieser Vereinbarung ableiten zu können, daß er, nach Maßgabe seiner finanziellen Beteiligung, „Eigentümer“ des Ereignisses sei – das allerdings auch ohne seine Vermittlung zugänglich und, wieder einmal, vom Steuerzahler finanziert war. Im Rechtsstreit mit dem (inzwischen eingegangenen) Sender La Cinq, der eine lächerliche Viertelstunde des Festzugs aufgezeichnet und ausgestrahlt hatte (was damals unter „Piraterie“ lief), wies das Gericht die Klage des Kanals von Herrn Bouygues ab: Dieses Schauspiel sei „ein historisches Ereignis, das Aneignung oder Exklusivität nicht zuläßt“5 . Hier mußte sich das Kapital dem Symbol beugen.
Manche Leute tun sich schwer, dies anzuerkennen. Angelockt von den profitablen Nischen, die die Unterschiede in der Rechtsprechung unfehlbar hervorbringen, werfen sie sich in die Bresche, um ihr Glück zu versuchen. So zum Beispiel jener Journalist im Bereitschaftsdienst des französischen Fernsehens, der den Tip erhielt, Jassir Arafat werde am 1. Juli 1994 heimkehren, um nach 27 Jahren Exil wieder palästinensischen Boden zu küssen. Zur Vermarktung dieses historischen Schritts gründete der Journalist eine Gesellschaft österreichischen Rechts und rief die Presseagenturen an – vor allem jene, die mit dem Bild, das heißt mit dem Symbol befaßt sind. Ihnen bot er gegen ein horrendes „Ticket“ das Recht an, das historische Ereignis zu begleiten und aufzuzeichnen. Sie alle, obwohl vertraut mit dem Begriff der „Exklusivität“, der bislang nur für das Show-business einschlägig gewesen war, lehnten dankend ab und beriefen sich dabei auf den freien Zugang zu allgemeiner Information. Der Vorfall macht ihnen Ehre, ändert aber leider nichts an der Hartnäckigkeit, mit der die Gerichte privaten zuungunsten der öffentlichen Interessen den Vorrang geben.
Des Bildreporters Formulare
IN der dritten Affäre kam es denn auch zur Verurteilung und Beschlagnahme eines Prospekts, der zwei Luftaufnahmen der Lagunenstadt Port-Grimaud enthielt. Die Maklergesellschaften, die dieses Immobiliengeschäft betreuten, hatten geltend gemacht, daß der Architekt ihnen die exklusiven Vervielfältigungsrechte übertragen hatte. Zu ihrer Verteidigung hatten die Herausgeber angeführt, daß „man keinem Ein- oder Anwohner das Recht absprechen kann, Ansichten von Port-Grimaud zu vervielfältigen, einem Dorf mit allen Merkmalen einer geschlossenen Ortschaft, Eintrag im Telefonbuch, Anmeldung beim Post- und Telegrafenamt etc.“, mit „Straßen, Plätzen, Geschäften, Banken und Dienstleistungen aller Art“, kurz, „einem Ort mit einer gewissen geographischen Ausdehnung, dessen Ansicht res communis ist“. Das Gericht wies diese Beweisführung aus recht erstaunlichen Gründen ab: „Die Anlage einer Lagunenstadt tief im Golf von Saint-Tropez, die da, wo zuvor nichts war, Sonne und Meer verbindet, einer Siedlung, deren unregelmäßige Wasserflächen und abwechslungsreiche Baukörper mit ihren Größen- und Farbkontrasten Überraschung, Neugierde und Spannung hervorrufen, stellt im Ganzen (...) ein eigenständiges und persönliches Werk dar.“6 Das grenzt ans Absurde: Die Privatisierung eines städtischen Ensembles – einer ganzen Ortschaft – läuft jeder Vorstellung von gesellschaftlichem Leben zuwider. Die Idee der städtischen Siedlung selbst wird in ihren Grundfesten erschüttert. Denn wenn eine „Stadtlandschaft“ auf diese Weise privatisiert werden kann, ist unsere Kultur bedroht.
Ein Ort besteht übrigens nicht nur aus Immobilien. Was wären wohl Straße und Stadt ohne die Gesichter, die sie bevölkern, die „Privatpersonen“, die sich im öffentlichen Raum bewegen und ihn beleben? Nach französischem Recht hat jedes Individuum die Eigentumsrechte an seiner „Abbildung“, anders gesagt, an seinem persönlichen Bild (hier ist der Besitz nicht nur eine Erweiterung der Person, die „Person“ an sich wird zu einem Besitzstück). Doch das gleiche Recht berechtigt den Künstler, den Maler, den Fotografen, den Schriftsteller und überhaupt den Urheber, aufgrund einer Wirklichkeit, die nur er sieht, deutet und damit umformt, ein Bild zu „erschaffen“.
Angenommen, Sie sind gefilmt oder fotografiert worden – auf der Straße, in einem Café, auf einem Platz oder an irgendeinem anderen halbprivaten oder halböffentlichen Ort. Die Fotografie wird veröffentlicht oder die Bildfolge ausgestrahlt, und das kommt Ihnen, aus Gründen, die nur Sie etwas angehen, ungelegen. Wem gehört das Bild? Ihnen natürlich, denn Sie sind der einzige Träger Ihrer Abbildung. Aber auch dem Fotografen, sofern er nachweisen kann, daß er etwas „geschaffen“, das heißt, eine neue Wirklichkeit erfunden hat, die eine primäre Wirklichkeit (Ihre äußere Erscheinung) überlagert, übertrifft und übersteigt. Durch den Beitrag, den der Urheber kraft seines Talents leistet, erhält dieser neue Gegenstand seine unabhängige Existenz und damit auch sein Recht. Man sieht, daß dieses doppelte – und konfliktträchtige – Recht den Doppelsinn des Wortes „Bild“ reproduziert: dasjenige, das einem eigen ist, und dasjenige, das man herstellt (der Fotograf benutzt das Ihre, um das Seine hervorzubringen). Und man sieht nebenbei auch, daß dieser Ansatz, obwohl formaljuristisch, etwas über das Wesen des Bildes aussagt: daß nämlich jedes Bild, insofern es „die Wirklichkeit reproduziert“, zunächst bei einem anderen Bild in der Schuld steht.
Die Richter, die eigentlich nur Recht sprechen sollen, müssen also, wenn sie in solchen Bilderstreitigkeiten ein Urteil fällen wollen, vorab entscheiden, was ein „Kunstwerk“ ist und was nicht. De facto werfen sie sich damit zu Kunstrichtern auf und beanspruchen eine ästhetische Kompetenz, von der nirgends geschrieben steht, daß sie sie besitzen. Selbst wenn ein Fall dem „gesunden Menschenverstand“ zugänglich ist, wird ihre Aufgabe dadurch keineswegs leichter. Wer würde etwa leugnen, daß „Der Sägemehl-Lieferant“, so wie ihn Robert Doisneaus Objektiv im Jahr 1953 an der Theke des Café Allain eingefangen hat, ein „Kunstwerk“ mit hohem ästhetischem Mehrwert ist? Der würdige, selbstbewußte Mann mit seinem markanten Pariser Arbeitergesicht und seinem freundlichen Schnurrbart hatte ausdrücklich eingewilligt, dem Meister Modell zu stehen, während er sein Glas Rotwein trank.
Das Porträt wurde ihm nicht nur gerecht (wenn man so sagen darf), es machte ihn fraglos schöner – gibt es eine bessere Definition von „Kunst“? Wenn diese Fotografie allerdings in einer großen Wochenzeitung unter dem Titel „Die verhängnisvollen Folgen des Alkoholismus“ veröffentlicht wird, dann verwandelt sie sich von Grund auf; sie wird schädlich für das „Subjekt“, das zwar gerne von Zeit zu Zeit einen heben geht und nicht einmal etwas dagegen hat, in dieser Pose gesehen, ja unsterblich gemacht zu werden, deswegen aber noch lange kein vom Suff Gezeichneter ist. Die Wochenzeitung verlor den Prozeß. Um zu begründen, daß ein Nachteil vorlag, benutzte das Gericht ein bis dahin unerhörtes Argument: „die Absicht, zu schaden“. Das Recht, etwas zu erschaffen, wurde gewahrt und geschützt, allerdings nur unter der Bedingung, daß niemand dadurch zu Schaden kommt.
Bis vor kurzem hat die Rechtsprechung – zumindest in Frankreich – in „Bildnis“- Fragen stets die Rechte des Abgebildeten über die des Urhebers gestellt. Darüber werden diejenigen höchst zufrieden sein, die zu Recht die in der Tat skandalösen Einmischungen einer zynischen und unmoralischen Presse ins Privatleben beklagen. Nur daß sie die absurden Folgen dieser Rechtsprechung nicht dagegen abwägen. Kein Bildreporter kann sich heute mehr ohne einen Stapel Formulare auf die Straße wagen, mit denen er von jeder „Privatperson“, die ihm über den Weg läuft, Unterschrift und Zustimmung einholt. Doch auch diese Rückversicherung schützt ihn nicht vor Strafverfolgung, denn der Unterzeichner kann es sich jederzeit anders überlegen, wenn das Bild ausgestrahlt oder veröffentlicht wird: Die Zustimmung zur Wiedergabe seines Bildes verpflichtet ihn keineswegs, den endgültigen Kontext (Titel, Legende, Tonspur, Umgebung) zu billigen, den er etwa als anstößig oder ehrenrührig empfinden könnte.
Ist nicht der galoppierende Exotismus von manchen Dokumentarfilmen nur die Konsequenz aus dieser ungezügelten Juristerei? Kann man es den Fotografen verdenken, daß sie immer weiter in die Ferne schweifen, bis in Breiten mit milderem juristischem Klima und mit weniger prozeßwütigen „Abgebildeten“? Kann man sich einen Inuit oder einen Massai vorstellen, der einen Prozeß vor dem Pariser Landgericht anstrengt? Das erklärt zum Teil, warum die sogenannte „humanistische“ Fotografie sich unmerklich in die Straßen von Rio, Kalkutta oder Moskau verlagert hat. Da ist zum Beispiel die Babuschka, die als Illustration für einen Beitrag über die Lebensmittelknappheit in der ehemaligen UdSSR dient: Auf der Suche nach etwas zu essen irrt sie über eine Mülldeponie der russischen Hauptstadt. Sie hat zwei Möglichkeiten: Entweder ist sie der Ansicht, daß diese Aufnahme ihr nützt, weil sie die Welt zum Zeugen ihres Elends macht; oder aber, daß sie ein entwürdigendes Bild von ihr verbreitet, indem sie ihre Mittellosigkeit zur Schau stellt. Der fremde Fotograf, der fern von zu Hause agierte, kann sich vor einem Prozeß dennoch sicher fühlen, ist es doch wenig wahrscheinlich, daß sie von dieser Alternative jemals unterrichtet wird. Diese Rechtslage, so muß man folgern, schafft Ungerechtigkeit, da sie zwei Arten von Bürgern hervorbringt – sagen wir einfach: den der westlichen und den der Dritten Welt. Diese beiden aber sind ungleich, wenn nicht vor dem Gesetz, so doch im Hinblick auf die Möglichkeit, gerichtlich vorzugehen.
Nehmen wir jene Pariserin, eine der Verletzten des Bombenanschlags vom 25. Juli 1995 in der Schnellbahn-Station Saint-Michel, die sich auf einer Fotografie wiedererkannte. Entstanden war die Aufnahme unmittelbar nachdem die Explosion die Frau nahezu vollständig entblößt hatte. Diese beauftragte daraufhin die Staatsanwaltschaft, gegen die Zeitungen und Agenturen, die für Produktion, Vertrieb und Veröffentlichung des Bildes verantwortlich waren, wegen der „Entwürdigung“, die sie ihr damit zufügten, gerichtliche Schritte einzuleiten.7 Sie kam mit ihrer Klage nicht durch, doch konnte sie, im Gegensatz zu unserer Babuschka, immerhin ihre Rechte geltend machen. Dieses Mal empfand der Gerichtshof die notwendige Ausübung des Journalistenberufs als vorrangig gegenüber jenen Rechten. Er bestätigte damit ein fünf Jahre früher ergangenes Urteil, in dem die Klage dreier Liebhaber des Pferderennens abgewiesen worden war. Sie hatten die Zeitung Libération und die Agentur Magnum auf Schadenersatz verklagt, weil diese sie in einem Wettbüro gezeigt hatten. Nun waren aber alle drei Wettfreunde Unternehmer und gaben an, sie fürchteten, ihre Angestellten könnten sie erkennen und ihnen Verschwendung der erwirtschafteten Gewinne vorwerfen.
In seiner Begründung betonte das Gericht dagegen „das Recht, zu informieren“, und kehrte damit das Pendel der Rechtsprechung um, das lange Zeit und allzuweit nach der Seite des privaten Bildes und seines Schutzes ausgeschlagen war. Zu entscheiden, was ein Werk und was eine bloße Reproduktion ist, war schwer genug. Um so schwerer wird es sein, festzustellen, was denn genau eine „Information“ ist. In dieser Frage darf man sich noch auf viele wunderbare Auseinandersetzungen zwischen Richtern, Journalisten und Öffentlichkeit freuen.
dt. Martin von Koppenfels
* Anwalt am Pariser Gerichtshof, Autor von „Le droit saisi par la photographie“, Paris (Maspero) 1973; Journalist, Honorarprofessor am Fachbereich Kommunikationswissenschaften der Universität Paris-X (Nanterre).