Wo der Wirt die Zeche zahlt
Von DORA VALAYER *
IM indischen Bundesstaat Kerala erhielten dieses Jahr 250 Fischerfamilien einen amtlichen Räumungsbefehl – unter Verletzung der Gesetze zum Schutz der Küstenregionen. Im Namen des Tourismus verlieren damit über tausend Menschen ihre Existenzgrundlage, ihre Häuser und ihr soziales Umfeld. Im Bundesstaat Goa müssen derweil die Bauern mitansehen, wie ihr Land von den Golfplätzen, die sich seit fünf Jahren in der Region ausbreiten, buchstäblich verschlungen wird. Die ihnen gebliebenen Felder sind durch die chemischen Mittel verseucht, die beim Anlegen der Plätze eingesetzt wurden, und häufig wird ihnen das Wasser abgedreht, denn die Rasenflächen haben bei der Bewässerung Vorrang.
Auf der Ausgrabungsstätte von Kadjuraho im Bundesstaat Madhya Pradesch wollen die Behörden ein Spielkasino errichten lassen, um die Touristen für einen längeren Aufenthalt zu gewinnen. Daran werden auch die Proteste der örtlichen Bevölkerung sowie der Archäologen nichts ändern. Und in Tamil Nadu soll eine jahrhundertealte Elefantenroute einer Autobahn weichen. Auch in Afrika kann man ein Lied von solchen Dingen singen. In Tansania wurden die traditionell in Einklang mit der Natur lebenden Massai zunächst aus ihren Gebieten in der Serengeti, dann aus denen am Ngorongoro-Krater vertrieben, um den Safaris Platz zu machen.
Der Tourismus ist ein gigantischer Industriezweig mit vielversprechender Zukunft. Er bestreitet 6 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts, und seine Wachstumsraten liegen deutlich über denen der Weltwirtschaft. Je unerfreulicher die Situation, desto häufiger zieht es Urlauber in ferne Länder.1 Einst war arm, wem es an Brot mangelte; später einer, der nicht verreiste. Nach der Vorstellung nicht weniger Leute ist heute derjenige arm, der nicht in Übersee Urlaub machen kann.
Wer aber sind die Gewinner im Tourismusgeschäft? In den Statistiken der Welttourismusorganisation wird zwischen der Zahl der „Einreisen“ und dem Umfang der „Einnahmen“ unterschieden. Dabei stellt man fest, daß die größten Nutznießer die Industrieländer sind. Bei den Einreisen liegt Frankreich an erster Stelle, gefolgt von Spanien und den Vereinigten Staaten; bei den Einnahmen behaupten die USA mit Abstand die Spitze.
Letztere verzeichnen jährlich gleich viele Einreisen wie Mexiko, Argentinien, Thailand und Ägypten zusammen: 44600000 Besucher. Dagegen entfallen von den Einnahmen im selben Zeitraum 64 Milliarden Dollar auf die Vereinigten Staaten und nur 29 Milliarden auf die erwähnte Gruppe von vier Ländern. 1996 haben die USA mehr als doppelt so hohe Einnahmen erzielt wie Lateinamerika und Afrika zusammen. Bezeichnend ist insbesondere, daß die Touristenzahlen für jene beiden Kontinente leicht ansteigen, die Einnahmen jedoch rückläufig sind.2
Die Zahlen der WTO beziehen eine Reihe hoher Kosten nicht ein, die auf ein Land zukommen, das in das Geschäft mit dem Tourismus einsteigen will. Während San Francisco bereits über eine Infrastruktur verfügt, die sich einem Strom ausländischer Besucher unmittelbar anpassen läßt, sind für einen nicht minder reizvollen, aber noch unberührten Ort am anderen Ende der Welt enorme Investitionen erforderlich: internationaler Flughafen, Autobahnen, Hotels unterschiedlicher Preiskategorien, Wasserversorgung, Kanalisation etc. Und nahezu die gesamte benötigte Ausstattung muß importiert werden. Zur Fertigstellung einer Hotelanlage würde man etwa die Telefone aus Großbritannien kommen lassen, die Computer aus den Vereinigten Staaten, die Aufzüge aus Japan, die Klimaanlage aus Kanada und die Kleinbusse aus Deutschland. Noch bevor das erste Charterflugzeug einträfe, hätte sich das Land bereits bei den Industrieländern und internationalen Institutionen tief verschuldet, um die erforderliche Infrastruktur bereitzustellen – bei eben den Institutionen, die ihm Strukturanpassungsprogramme aufzwingen, um seine Schulden abzubauen und ausländische Investitionen anzulocken.
Kein Interesse an nachhaltiger Entwicklung
IMMERHIN erwartet man für die Schwellenländer beim Tourismus proportional größere Zuwachsraten als in den Industrieländern. Laut der WTO hat Europa seine Kapazitäten nahezu ausgeschöpft und kann für den Zeitraum bis zum Jahr 2020 nur mit einem Wachstum von 3 Prozent rechnen, während Südostasien von einer Zunahme um 6 bis 7 Prozent ausgehen darf. Man erwartet, daß sich die Zahl der Touristen in den kommenden fünfundzwanzig Jahren weltweit verdreifachen und von jetzt jährlich 592 Millionen auf über 1,5 Milliarden zunehmen wird.
Angesichts dieser Tatsache ist es unerläßlich, sich einige Realitäten vor Augen zu führen. In einem wirtschaftlich schwachen Land muß eine Tourismusindustrie von Grund auf neu geschaffen werden. Es ist jedoch keineswegs sicher, daß der für die Zufriedenstellung der ausländischen Gäste unternommene Aufwand auch mit den Prioritäten der einheimischen Bevölkerung, insbesondere auf den Gebieten Gesundheit und Bildung, in Einklang steht. Indem man vorrangig die Bedürfnisse der Touristen und nicht die der Bevölkerung befriedigt, wird keine dauerhafte Entwicklung gefördert. Es werden zwar Arbeitsplätze geschaffen, jedoch bestehen diese zumeist in unsicheren und subalternen Tätigkeiten. Die qualifizierten Posten bleiben einem Personal vorbehalten, das seine Ausbildung üblicherweise in den hauseigenen Schulungszentren der großen Touristikunternehmen erhalten hat, um später in der ganzen Welt herumgeschickt zu werden.
Die touristischen Anlagen tragen im übrigen zu einer Urbanisierung der betroffenen Gebiete bei; magnetisch ziehen sie Ströme von Einheimischen an, die auf der Suche nach Arbeit oder einem weniger mühseligen Leben sind. Da die Nachfrage das Angebot bei weitem übersteigt und diese entwurzelte Bevölkerung für die verfügbare Arbeit nicht ausgebildet ist, entsteht neuerliche Armut; zugleich wird das traditionelle soziale Gefüge der Menschen zerstört und damit unausweichlich auch ihre kulturellen Werte.3 Überhaupt nicht zu ermessen ist eine weitere perverse Folge des Tourismus: die Prostitution, insbesondere die von Kindern.
Das weltweite Tourismusgeschäft wird so zum Paradebeispiel einer Zukunft, zu der die Globalisierung die am wenigsten dafür gewappneten Bevölkerungen unausweichlich verdammt.4
Das unterstreicht auch M. K. T. Suresh, Vertreter einer indischen Organisation zum Schutz der Bevölkerung vor dem Tourismus: „Das Problem für die Gastgeber ist leicht zu benennen: Sie haben ihren Grund und Boden verlassen und ihre Arbeitsmittel aufgegeben, um sich völlig auf den Tourismus zu konzentrieren, und das ganze Land wird darunter zu leiden haben, sobald ein zweiter Golfkrieg oder eine Seuche in irgendeinem anderen Landesteil ausbricht. Erst werden wir die bestehenden Wirtschaftsstrukturen in eine Monokultur verwandelt haben, um dann zu erkennen, daß diese Monokultur nicht lebensfähig ist.“5
Um die häufig irreversiblen Schäden eines unausgewogenen Tourismus zu vermeiden, ist es dringend erforderlich, die Spielregeln zu ändern, die gegenwärtig der Norden dem Süden aufzwingt. Aber das geht nicht ohne eine vorherige Bewußtseinsänderung seitens der Touristen selbst, denn ihre Forderungen bestimmen das Geschäft. In einigen Gegenden führen die Ansprüche der Urlauber bezüglich Duschen, Toiletten, Schwimmbädern, der Einhaltung westlicher Hygienestandards in den Küchen oder der makellosen Kleidung des Personals dazu, daß die Bewohner der Region, besonders die Bauern, ihre eigenen Bedürfnisse drakonisch einschränken müssen. Daß die einheimische Bevölkerung nur wenige Stunden täglich über Wasser verfügen kann, hat der König Kunde möglicherweise schon irgendwo gelesen, selten aber rechtzeitig genug, um von seinem Reiseziel Abstand zu nehmen. Es gibt keinen Konsumenten, der – willentlich oder nicht – weniger über die Bedingungen Bescheid weiß, unter denen sein Konsumartikel zustande kommt, als der Tourist.
Zuvörderst könnte über die Ausbildung im Tourismusbereich eine veränderte Einstellung bewirkt werden. Würde sie sich nicht auf technische Aspekte beschränken und die Auszubildenden vielmehr dazu anhalten, sich eingehender mit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation des Landes auseinanderzusetzen, das sie einmal „verkaufen“ sollen, könnte sie maßgeblich zu einer Sensibilisierung der Konsumenten beitragen.
Auch ethische Gesichtspunkte könnten als Verkaufsargument dienen. Unterschiedliche Vereinigungen spielen auf diesem Gebiet eine nicht zu vernachlässigende Rolle, wobei die angelsächsischen und nordeuropäischen Länder hier aktiver sind als die südeuropäischen. Es handelt sich dabei oft um kleine, aber sehr aktive Organisationen, die nicht selten bei kommerziellen Anbietern auf ein offenes Ohr stoßen. Einige dieser Organisationen agieren gegenwärtig als treibende Kraft in Hinblick auf eine Ethik des Reisens in Länder der Dritten Welt; entsprechend einer Forderung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi rufen sie beispielsweise dazu auf, nicht zum Urlaub nach Birma zu fahren.
Schließlich gilt es auch, die „Regeln verantwortlichen Handelns“ umzusetzen, die Gegenstand von Verhandlungen auf internationaler Ebene geworden sind. Der interessanteste und zugleich am wenigsten bekannte Vorstoß in dieser Richtung ist die Charta für nachhaltigen Tourismus. Dieses Dokument entstand 1995 auf der Kanarischen Insel Lanzarote zum Abschluß einer Konferenz unter der Schirmherrschaft verschiedener internationaler Organisationen (darunter Unesco und WTO). Die Charta überträgt die auf dem Umweltgipfel in Rio 1992 verkündeten Prinzipien auf den Bereich des Tourismus. Es wird an die Notwendigkeit erinnert, die einheimischen Bevölkerungen als die eigentlichen und vorrangig zu berücksichtigenden Träger von touristischen Projekten anzuerkennen und sie in eine Diskussion einzubeziehen, von der sie zumeist ausgeschlossen sind. Insgesamt gesehen vertritt die Charta eine Art „Entglobalisierung“ des Tourismus ...
dt. Christian Hansen
* Präsidentin der „Association Transverses“, die sich mit Grundsatzfragen, Informationen und Aktionen im Tourismusbereich beschäftigt.