15.08.1997

Globalisierung und Islamismus

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Globalisierung und Islamismus

VON Marokko bis zur Türkei befinden sich die Länder heute im Übergang zu offenen, liberalen Wirtschaftssystemen. Auf die staatlichen Modernisierungsprojekte der sechziger und siebziger Jahre folgte eine schrittweise Modernisierung durch den Markt. Die staatlichen Strategien zur Überwindung der Unterentwicklung wurden von Ende der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre durch die Expansion der Weltwirtschaft ermöglicht. Diese fand Anfang der achtziger Jahre ihr Ende. Und viele Ausgegrenzte, arbeitslos Schul- und Hochschulabsolventen und Marginalisierte aus den Städten, wenden sich jetzt den islamistischen Organisationen zu.

 ■ Von SAMI NAÏR *

Die Staaten im östlichen und südlichen Mittelmeerraum bezogen in den sechziger und siebziger Jahren stattliche Darlehen für langfristige Investitionen. Es gab Geld im Überfluß, und der Ost-West-Gegensatz förderte die Bereitschaft zu „Hilfeleistungen“ aus politischem Interesse. Die rasche Monetarisierung der Weltwirtschaft – als Ursache und Folge der verlangsamten Expansion – führte zu einem drastischen Kurswechsel bei der Darlehensvergabe und zu Schwierigkeiten bei der Abwicklung des Schuldendienstes, die sich zu Beginn der achtziger Jahre in Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, der Türkei und so weiter zu einer Rückzahlungskrise zuspitzten.

Seitdem beschränken sich die Finanzierungsangebote gezielt auf rentable Sektoren und werden in den wenig entwickelten Gebieten immer knapper. Und wenn die Staaten zuviel ausgeben, greifen die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) ein. Das erklärt die vielen Strukturanpassungspläne in den achtziger Jahren.

Dieser Liberalisierungsprozeß bringt strukturelle Umwälzungen, die nur schwer zu steuern sind. Es vollzieht sich ein dreifacher Prozeß: eine starke soziale Differenzierung innerhalb der Mittelschichten; eine langsame und tiefgreifende Verschiebung der gesellschaftlichen Basis der derzeitigen Machteliten; eine allgemeine Legitimationskrise des Staates. Von der Kontrolle dieser drei Entwicklungen ist weitgehend die Zukunft dieser Gesellschaften abhängig.

Überall erleben wir eine Krise der gesellschaftlichen Mobilität innerhalb der Mittelschichten. Die Berufsgruppen, die traditionell die Klientel des modernisierenden Staates darstellen – Lehrer, Techniker, Angestellte in der staatlichen Verwaltung und im Dienstleistungsbereich – finden sich zunehmend marginalisiert, im Gegensatz zu den sozial aufsteigenden Schichten der Freiberufler – der Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute und so weiter. Belegt wird dies durch die seit Beginn der achtziger Jahre herrschende Krise im Bereich der Ingenieure und der Wissenschaftler, die sich bis dahin der besonderen Protektion des Staates erfreut hatten. Die Bildungspolitik hatte sich vor allem auf die Förderung wissenschaftlicher und technischer Karrieren konzentriert. Die Studenten dieser Bereiche erhielten Stipendien und Förderung, um ihr Wissen im Ausland zu vervollkommnen. Und die berufliche Eingliederung nach ihrer Rückkehr vollzog sich unter privilegierten Bedingungen.2 So bildeten diese Länder wissenschaftliches Personal in einem Umfang aus, der keinen Bezug zu ihren tatsächlichen Bedürfnissen hatte. In Ägypten stieg die Zahl der Ingenieure von 11000 im Jahr 1969 auf 260000 im Jahr 1993. Davon arbeiteten über 37 Prozent in Ministerien und über 30 Prozent in staatlichen Unternehmen.3

Die Strukturanpassungsprogramme haben zu Beginn der neunziger Jahre den Status und die Lebensbedingungen dieser Berufsgruppen wieder in Frage gestellt: In ihrer Mehrheit erleiden sie starke Einkommensverluste, ihre Kaufkraft sinkt permanent, zugleich steigt der Zwang zur Ausübung mehrerer Tätigkeiten; ihre Karrieren sind blockiert, privilegiert bleibt lediglich eine kleine Minderheit, die hohe Posten in Verwaltung, Politik und Militär bekleidet. Es beginnt eine fluchtartige Abwanderung in die Privatwirtschaft.

Diese Veränderungen vollziehen sich, während die staatlichen Unternehmen in Privatunternehmen zurückverwandelt oder dichtgemacht werden, was die soziale Ungewißheit verstärkt und die Jüngeren mit Ausgrenzung bedroht. Seit 1992 verzeichnet Algerien eine permanent steigende Arbeitslosigkeit. 1995 lag sie bei über 28 Prozent der aktiven Bevölkerung. 80 Prozent der Arbeitslosen sind unter dreißig Jahre alt.4

Die einsetzende Liberalisierungspolitik hat diese soziale Zweiteilung noch zugespitzt. Je größer die Nachfrage nach Arbeitsplätzen, desto umfassender auch die gesellschaftliche Marginalisierung. Das durchschnittliche Bevölkerungswachstum in den Ländern des mittleren Maghreb, in Ägypten und in der Türkei ist zwar von 1990 bis 1995 unter die 3-Prozent-Marke gesunken5 , doch der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung wird für die Wirtschaft dennoch zu einer dramatischen Belastung. 1994 waren in Algerien 39 Prozent, in Ägypten 38 Prozent, in Marokko 37 Prozent und in Syrien 48 Prozent der Bevölkerung unter fünfzehn Jahre alt.6

Der überraschendste Befund der Soziologen ist dabei die Ausdifferenzierung der Interessen innerhalb der Mittelschichten und vor allem die Tatsache, daß sich die sozialen Forderungen von Wissenschaftlern und Technikern immer mehr mit den Ansprüchen der Schichten verbinden, die aus dem Wirtschaftssystem ausgeschlossen sind. Sowohl die „Kader der Nation“ als auch die Masse der Absolventen, die das Bildungssystem nach wie vor hervorbringt, wenden sich – vom Staat im Stich gelassen – gegen die Regierung und erfahren dabei materielle, politische und ideologische Unterstützung durch die Islamisten.

Von den Veränderungen profitiert nur eine Minderheit

IN Ägypten erlangten die Islamisten nach 1986 in mehreren Ingenieursgewerkschaften die Mehrheit. 1996 waren von 61 Mitgliedern des Gewerkschaftsrats 45 Islamisten. Die Erklärung dafür ist die Krise der sozialen Mobilität, die mit dem Wandel vom Ernährer-Staat zum Staat als „Nachtwächter“ des Privatkapitalismus zusammenhängt, und nicht, wie uns einige selbsternannte Spezialisten für religiösen Fundamentalismus belehren wollen, eine irgendwie „antiwestliche“ Einstellung.

Mit der Liberalisierung der Wirtschaft wurde die Integrationsfähigkeit der Systeme geschwächt, während die soziale Differenzierung zugenommen hat. Eine Politik der Sozialfürsorge, die oft dazu herhalten mußte, die strukturelle Arbeitslosigkeit zu kaschieren, kann nicht mehr praktiziert werden. Der Staatsapparat kann sich einen schlecht bezahlten Dienstleistungssektor nicht mehr leisten; die Emigration, die all diesen Staaten als Ventil gedient hatte, ist nicht mehr so leicht möglich wie noch vor fünfzehn Jahren.7

Diese Erosion der Mittelschichten bewirkt auch eine Veränderung an der sozialen Machtbasis. Die Ära des Modernisierungsstaates zeichnete sich vor allem dadurch aus, daß die an den Staatsapparat gebundenen Schichten, die größer und wichtiger waren als das private „Kleinbürgertum“, zur staatlichen Klientel wurden. Heute aber werden auch die Mittelschichten von dem allgemeinen Privatisierungsprozeß ergriffen. Der Staat kann keine Ressourcen mehr für sie erübrigen. Es bilden sich neue sozioökonomische Interessen heraus. Die bisherigen politischen Machteliten formieren sich tendenziell neu als private gesellschaftliche Gruppen und verwandeln sich damit in eine bürgerliche Schicht. So sind in Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten und Syrien bedeutende Teile der technischen und administrativen Eliten zu einer kommerziellen Bourgeoisie geworden. Sie finden sich im privatkapitalistischen wie im informellen Sektor – wo Pfründe und Handel untrennbar verbunden sind.8

Die Arbeiten des Soziologen Imco Brouwer9 und die Studie von Brahimi El Mili10 über die Transformation der politisch-administrativen Elite Ägyptens zur Elite des privatwirtschaftlichen Sektors zeigen die Bedeutung dieser Veränderung. Das ägyptische Wirtschaftssystem fördert gewiß die enge Verknüpfung zwischen privatisierten oder zur Privatisierung ausersehenen Unternehmen und dem Staat. Im Zuge der ökonomischen Öffnung (infitah) und der Strukturanpassungsprogramme wurde eine Vielzahl von Handelsverbänden gegründet, die als Schaltstellen zwischen Privatwirtschaft und Staatsmacht dienen. Sie sind die neuen Instrumente des Dialogs zwischen der Macht und der neuen, sich rapide ausdehnenden Geschäftsbourgeoisie, die als Partner des Staates bei der Umgestaltung der Wirtschaft fungiert. Sie rekrutiert sich aus Nachkommen der alten Bourgeoisie aus der Zeit vor dem Nasserismus, einem Teil der alten Bürokratie des Nasser-Staates, der neuen Generation von Geschäftsleuten, die mit der Öffnung entstanden ist, und insbesondere den zurückgekehrten Migranten aus den Golfstaaten.11

Die Rolle des Verbands der ägyptischen Geschäftsleute (EBA) macht die Beziehung zwischen dem Staat und diesen neuen Schichten deutlich. Der 1979 gegründete EBA verlangt von seinen Mitgliedern eine mindestens zehnjährige Bewährung in verantwortlicher Stellung – was die massive Präsenz von politischen Funktionären oder Leitern staatlicher Betriebe erklärt. Heute findet man, Brahimi El Mili zufolge, an der Spitze der Privatunternehmen dieselben Personen, die früher die entsprechenden Staatsbetriebe geleitet haben.

1992 wurden im Rahmen der Privatisierung von über 300 staatlichen Unternehmen 32 Mitglieder der EBA für die Verwaltungsräte und die Hauptversammlungen der Holding-Gesellschaften nominiert, die man im Zuge dieser Umstrukturierung geschaffen hatte. Dieser Verband und sein Pendant für Alexandria (ABA) stehen außerdem mit ausländischen, und hier vor allem mit US-amerikanischen Unternehmen in Verbindung, denen sie zugleich als Kontaktstelle zur Politik dienen: Die EBA und die ABA haben den Auftrag, amerikanische Hilfsprogramme zu koordinieren, die für die nächsten sieben Jahren mit einem Budget von 10 Millionen Dollar ausgestattet sind.12

Hier liegt also die wichtigste Veränderung: Die staatlichen Führungseliten tendieren immer mehr dazu, sich auf diese bourgeoise Geschäftswelt zu stützen, auch wenn sie aus Gründen des politischen Gleichgewichts noch auf die traditionellen Mittelschichten Rücksicht nehmen müssen. Die allgemeine Privatisierung stützt sich also auf die Kleinhändler und Freiberufler, wie auch auf die zur unternehmerischen Bourgeoisie gewandelte alte Technobürokratie. Investitionen werden vorwiegend in den kleinen und mittleren Unternehmen und in der Touristikindustrie vorgenommen. Das alte Projekt zur Entwicklung der Schwerindustrie wird aufgegeben.

Dieser Übergang löst in den einzelnen Staaten eine tiefgreifende Legitimationskrise aus. Die Regierungen schaffen es nicht mehr, die politische Zustimmung der wichtigsten Gesellschaftsschichten zu ihren Projekten zu gewinnen. Denn die Schichten, die von der Liberalisierung profitieren können, sind weitaus in der Minderheit. Der Staat versucht daher nach klassischem Vorbild, durch eine Änderung der politischen Spielregeln Kapital aus der Krise zu schlagen. Früher konnte er auf die Notwendigkeit eines autoritären Einparteiensystems oder (wie in Marokko oder Ägypten) eines nur vordergründigen „Pluralismus“ verweisen, um die „Entwicklung“ abzusichern, denn er mußte den Schichten, die seine gesellschaftliche Basis bildeten, als Gegenleistung unter die Arme greifen. Aber angesichts knapper gewordener Ressourcen sah er sich mit weitreichenden Forderungen konfrontiert, die häufig – vor allem seit Beginn der achtziger Jahre – auf politische Errungenschaften wie Pluralismus und Demokratie zielten.

Die herrschenden Eliten standen vor einem schwer zu lösenden Problem: Der wirtschaftliche Wandel erzeugt eine starke Nachfrage nach politischer Demokratisierung, aber dieselbe Entwicklung verstärkt zugleich den sozialen Druck der armen und ausgeschlossenen Schichten bis zu dem Punkt, wo das ganze System gefährdet ist. Es entsteht also eine Situation, in der die Eliten versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen, indem sie den repressiven Charakter der Macht verstärken. Dieses Muster ist in Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten zu beobachten. Die neuen Bourgeoisien setzen lieber auf eine stabile, autoritäre Situation als auf einen echten Pluralismus, der den nicht institutionalisierten politischen Kräften (verkörpert durch den islamischen Fundamentalismus) die Chance geben würde, auf demokratischem Wege an die Macht zu kommen.

Dieser derzeit unlösbare Widerspruch ist das Kernproblem der gegenwärtigen Übergangssituation. Soziologisch gesehen zeigt sich darin die Unfähigkeit dieser Systeme, die vertikale Mobilisierung der integrierten Schichten – das heißt ihren Willen zur Verbesserung ihrer sozialen Lage wie zur Modernisierung des Systems – mit der horizontalen Mobilisierung der zu kurz gekommenen Schichten in Einklang zu bringen. Das erfordert die Etablierung einer elitären Demokratie, an der faktisch nur die ins System integrierten Schichten teilhaben.

Darüber hinaus müssen die Anrainerstaaten der südlichen Mittelmeerküste die freie Marktwirtschaft einführen und sie gleichzeitig in den regionalen Kontext integrieren. Doch jedes auf sich selbst verengte, nationale oder auch – wie die Union des arabischen Maghreb – überregionale Entwicklungsprojekt muß relativiert werden. Die Eingliederung in den euro-mediterranen Kontext vollzieht sich unter den Bedingungen, die von der Europäischen Union vorgegeben werden. Hat diese ein Konzept für den südlichen Mittelmeerraum? Von der Antwort hängt die innere Entwicklung dieser Gesellschaften ab. Denn die Dynamik des Übergangs hängt ebensosehr von den internen Zwängen ab wie von der Unterstützung, die diese Staaten von außen erhalten – vor allem durch eine Öffnung des europäischen Marktes und die Bereitstellung von Finanzierungsmitteln.

Drei Szenarien und kein Königsweg

HINSICHTLICH ihrer inneren Entwicklung lassen sich drei Zukunftsszenarien voraussehen, die auf drei Modelle hinauslaufen: elitäre Demokratie (Marokko, Tunesien, Ägypten); religiös konservativer Populismus; Militärdiktatur (Algerien, Syrien).

Das Szenario der elitären Demokratie impliziert, daß der Übergang trotz allem in ein relatives soziales Gleichgewicht mündet. Dazu sind mehrere Voraussetzungen erforderlich: Die Differenzierung innerhalb der Eliten darf keinen heftigen Bruch hervorrufen (wie er in Algerien zwischen der militärischen und der technisch-bürokratischen Elite eingetreten ist); der Übergang muß sehr schnell vonstatten gehen; der Staat muß, auch wenn er ein Regime partieller Demokratie etabliert, die darin artikulierbaren Ansprüche umgehend brutal unterdrücken.

Als Träger einer raschen Liberalisierung muß der Staat auch seine Apparate „abspecken“ und die staatlichen Tätigkeiten einschränken. Die Machthaber besitzen in diesem Modell sehr reale Trümpfe: es gibt keine organisierten gesellschaftlichen Kräfte (mit Ausnahme der islamischen Bewegung), mit dem informellen Wirtschaftssystem steht ein gewisses Sicherheitsventil zur Verfügung, die Korruption, ein Strukturelement dieses politischen Systems, läßt sich weiter ausbauen. Dieses Szenario könnte sich – unter Umständen sogar unter Beteiligung „linker“ Kräfte – in Marokko, Ägypten und Tunesien durchsetzen. Aber es könnte auch durch eine Welle sozialer Proteste verhindert werden.

Das religiös populistische Szenario vollzieht den Übergang zur Marktwirtschaft im Zusammenhang mit einer Umwälzung der Machtstrukturen. Einen möglichen Weg hat das iranische Beispiel vorgezeichnet. Hier hat der Zerfall des gesamten Machtsystems, bedingt durch die schwindende Kohäsion der Eliten, den Sieg Chomeinis möglich gemacht. Im Mittelmeerraum kann eine solche Situation nur in zwei oder drei Ländern eintreten: in Algerien, in Ägypten, vielleicht auch in Marokko. Wir würden dann – nach dem Beispiel des algerischen Islamismus – ein Bündnis zwischen den deklassierten Eliten entstehen sehen, die aus den mittleren und marginalisierten Schichten hervorgegangen sind. Das bedeutet allerdings nicht, daß damit der Übergang zur Marktwirtschaft blockiert würde. Der religiös konservative Populismus muß sich dem keineswegs entgegenstellen, er kann sogar eine radikale Variante dieses Übergangs und das sicherste Mittel zu dessen Verwirklichung darstellen (siehe das Beispiel Iran). Doch der Preis, der dafür zu zahlen wäre – das Auswechseln eines großen Teils der Führungseliten –, läge für die einzelnen Staaten äußerst hoch.

Das Szenario der nackten Diktatur folgt dem Modell Algerien und besteht in der äußerst brutalen Reaktion der Armee auf die Schwächung der Führungseliten. Das System orientiert sich an jenem Modell der „liberalen Diktatur“, wie es der amerikanische Essayist Samuel Huntington in den sechziger Jahren gegen die kommunistische Bedrohung in der Dritten Welt beschworen hat: Die Armee institutionalisiert eine Bürgerkriegssituation, die nur mit der völligen Vernichtung eines der Gegner beendet werden kann. Dieses Szenario enthält noch eine Variante: die Synthese – nach dem Beispiel des Sudan – von religiös konservativem Populismus und Militärdiktatur – die für Länder wie Ägypten und Algerien als Möglichkeit nicht auszuschließen sind.

Für Algerien läge danach ein möglicher Ausweg aus der Krise im Scheitern der gegenwärtigen Strategie der Militärs (die den Zustand der nackten Diktatur durch eine partielle Demokratie zu legitimieren versuchen, die nur für die institutionalisierten und von ihnen instrumentalisierten politischen Kräften gilt). Unter der Voraussetzung einer „Öffnung“ des Machtblocks (Militär und Geschäftsbourgeoisie) könnten Militärs und Islamisten über die wesentlichen Fragen (Staatsreligion und Wirtschaftsliberalismus) durchaus Einigung erzielen, wie man aus der vorzeitigen Freilassung des FIS-Gründers Abassi Madani ersehen kann. Das erfordert allerdings Veränderungen in der Armee (die gegenwärtige Führung muß abtreten, um jungen religiösen Offizieren Platz zu machen) und eine sehr harte Eliminierung der brutalsten – häufig von den staatlichen Geheimdiensten instrumentalisierten – Elemente des islamistischen Populismus vom Typ der GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen).

Welches Szenario sich auch immer durchsetzen mag, die meisten Länder im südlichen Mittelmeerraum werden vermutlich eine extrem autoritäre Phase durchlaufen.

Würden in der muslimisch-arabischen Welt freie, demokratische Wahlen stattfinden, könnte man jede Wette eingehen, daß sich fast überall der Islamismus problemlos durchsetzen und sein despotisches Regime begründen könnte. Wo dies nicht eintreten würde, müßten auch die momentan Regierenden, und wenn sie noch so „demokratisch“ sein mögen, den Übergang zu einer „liberalen Modernisierung“ auf autoritärem Wege sicherstellen.

dt. Sigrid Vagt

* Professor an der Universität Paris-VIII, Forscher am Institut d‘Études et de recherches Europe-Méditerrannée, Paris; gemeinsam mit Edgar Morin Verfasser von „Une politique de civilisation“, Paris (Arléa) 1997.

Fußnoten: 1 Elisabeth Longuenesse, „Professions scientifiques en crise: ingénieurs et médecins en Syrie, Egypte, Algérie“, Revue Tiers-Monde, Nr. 143, 1995. 2 Ali El Kenz, „Les ingénieurs et le pouvoir“, Revue Tiers-Monde, Nr. 143, 1995. 3 Said Hanafi, „Ingénieurs et ouverture économique en Syrie et en Egypte“, Revue Tiers-Monde, Nr. 143, 1995. 4 Le Monde, 5. September 1996. 5 Marokko: 2,1 Prozent; Algerien: 2,3 Prozent; Tunesien: 1,9 Prozent; Ägypten: 2,2 Prozent; Türkei: 2 Prozent. „L'Etat du monde“, Paris (La Découverte) 1996. 6 „L'Etat du monde“, a. a. O. 7 Von der Krise betroffen sind vor allem Marokko, Ägypten und die Türkei. 1994 waren die Einkünfte aus der marokkanischen Emigration größer als diejenigen aus der Phosphatgewinnung und dem Tourismus. Sie waren die Hauptdevisenquelle für den Staat. 8 Das Phänomen ist mehr oder weniger mit dem der „kommunistischen“ Bourgeoisien in Rußland oder Polen vergleichbar, wo die alten kommunistischen Kader zu den dynamischsten Kräften des (wilden) Privatkapitalismus wurden. 9 „Les Élites économiques et les groupes de pression égyptiens“, Egypte-Monde arabe, Nr. 21, 1995. 10 Imco Brouwer, „Les hommes d'affaires égyptiens entre l'entreprise et la participation politique“, Paris (Institut d'études politiques) 1992. 11 Imco Brouwer, a. a. O. 12 Imco Brouwer, a. a. O.

Le Monde diplomatique vom 15.08.1997, von SAMI NAÏR